Science Fiction

Cyberpunk: Alles, was du über das Genre wissen musst

Cyberpunk: Alles, was du über das Genre wissen musst
© werner22brigitte - pixabay

Alessandra Reß, 09.07.2018

Ob als Film- oder Buchstoff: Cyberpunk erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Ein Blick auf ein Science-Fiction-Genre, das innerhalb der Phantastik wie kaum ein anderes für Zeitgeist steht und nicht nur andere Genres, sondern selbst Musik und Architektur geprägt hat.

Nicht nur der Fantasy, auch der Science Fiction wird immer wieder vorgeworfen, lediglich dem Eskapismus zu dienen und die reale Gesellschaft dabei aus den Augen zu verlieren. Anfang der 1980er Jahre kommt diese Kritik von einer Gruppe junger Schriftsteller, die unter dem Namen The Movement bekannt wird. Es ist die Geburtsstunde des Cyberpunk.

The Movement als Gegenkultur zur Science Fiction

Fünf Namen werden anfangs unter The Movement gefasst: John Shirley, Bruce Sterling, Lewis Shiner, der Mathematiker Rudy Rucker sowie William Gibson. Später kommen noch Michael Swanwick, Richard Kadrey, Pat Cadigan und Tom Maddox hinzu. Sie alle kritisieren den naiv-utopischen Konservatismus der Science Fiction ihrer Zeit – und den Mangel an Gesellschaftskritik darin. Ihre Vision ist eine Spielart des Genres, in der die Zukunft als Gegenwart erkennbar sein soll. Gleichzeitig verorten sie sich in der Hard Science Fiction, die sich bei aller Phantastik technisch-naturwissenschaftlichem Realismus verpflichtet sieht.

Als die beiden größten Vorbilder des Movement gelten in Stimmung und Stil zum einen die Hardboiled Crime Fiction der 1920er bis 1940er Jahre, zum anderen die New Wave of Science Fiction, die in den 1960er Jahren ebenfalls nach neuen Genrewegen suchte. Nachdem die New Wave mit britischen Autoren wie J. G. Ballard im Magazin „New World“ ihren Anfang nahm, erreichte sie auch die USA – und hier Philip K. Dick. Obwohl er streng genommen also zur Vor-Generation der Cyberpunks gehört, sind seine Werke – insbesondere „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“, verfilmt als „Blade Runner“ – heute Klassiker des Genres. Und tatsächlich weisen viele seiner Werke typische Cyberpunk-Merkmale auf.

Erkennungsmerkmal des damals innovativen Genres ist erstens die Verschmelzung von weiterentwickelter Technologie und Realität, beispielsweise in Form von Cyborgs, künstlichen Intelligenzen und lebensechten Androiden. Zweitens weisen die Werke des Cyberpunk fast immer totalitäre Konzern-Regime und Klassengesellschaften auf. Technik dient in erster Linie sozialer Kontrolle, obwohl die (Anti-)Helden sie sich für ihre Zwecke aneignen. Drittens folgt der Cyberpunk einer dunkelbunten Ästhetik. Grelle Neonwerbung prägt das typischerweise urbane Setting, womit das Genre auch die Urban Fantasy beeinflusst. Die Protagonisten sind meist Underdogs, die wie in der Hardboiled Crime Fiction am Rande der Gesellschaft in einem Suff aus Drogen, Sex und Gewalt agieren. Daher auch das Suffix -punk, das einerseits auf diese Außenseiterrolle verweist, andererseits auch für die Gegenkultur steht, als die sich die Autoren des Movement verstehen. Alle Merkmale sind als Überspitzung bzw. Weiterentwicklung realer Begebenheiten gemeint.

Vom Cyberspace zur Alternate History

Dem Begriff Cyberpunk war der des cyberspace vorangegangen, der erstmals 1982 in „Burning Chrome“ auftauchte, einer Kurzgeschichte von William Gibson. Was er darunter verstand, wurde zwei Jahre später in seinem Roman „Neuromancer“ deutlich: Es ist jene dreidimensionale virtuelle Realität, die uns inzwischen, nach „Matrix“, „Ready Player One“ oder „Deus Ex“, als selbstverständlicher Teil der Popkultur erscheint. Gibson wählte das Wort aus ästhetischen Gründen und setzte damit einen Trend, aus dem auch Begriffe wie cyberculture oder cybersecurity resultierten – oder eben cyberpunk. Die Genrebezeichnung tauchte zunächst als Name einer Kurzgeschichte von Bruce Bethke 1983 auf; der kürzlich verstorbene US-Herausgeber und -Autor Gardner Dozois wählte sie anschließend, um der Literatur des Movement eine Marke zu verpassen. Eine Art Manifest bildete die von Bruce Sterling herausgegebene Anthologie „Mirrorshades“; der Titel diente ebenso als Sammelbegriff der frühen Cyberpunk-Autoren bzw. als Synonym des Movement.

Heute gilt der Cyberpunk selbst im Feuilleton als ernstzunehmendes Genre, das Bezug auf das Hier und Jetzt nimmt. Zu seiner Geburtsstunde jedoch waren die Schriften des Movement unter Literaturkritikern alles andere als beliebt. Dennoch wurde sie zum Trend, und den Movement-Autoren folgte eine zweite Generation, damals als „Postcyberpunks“ bezeichnet, darunter Neal Stephenson. Doch auch in anderer Hinsicht entwickelte sich das Genre weiter, erhielt beispielsweise ab 1989 mit „Shadowrun“ eine Fantasy-Spielart, die u. a. mit „Die Tochter des Stählernen Drachen“ von Michael Swanwick vertieft wurde. 1991 erschien mit „Die Differenzmaschine“ von William Gibson und Bruce Sterling außerdem ein Roman, der die Prinzipien des Movement ins viktorianische England des 19. Jahrhunderts transportierte und ein Alternate-History-Moment ergänzte, indem Elektronik durch Dampfkraft ersetzt wurde. Mit anderen Worten: Der Steampunk war geboren.

Diesem Konzept des Steampunks – eine alternative Geschichtsschreibung, die ebenso auf alternative Technologien setzt, ohne dabei die Prinzipien des Movement ganz aus den Augen zu verlieren – folgten bis heute weitere „Timepunk“-Genres. Dazu gehören etwa Diesel-, Clock-, Atom- oder Stonepunk, um nur ein paar zu nennen. 

Globalisiertes Genre

Der Cyberpunk ist indes längst zum internationalen Phänomen geworden. Besonderen Einfluss nahm er etwa auf die lateinamerikanische Phantastik, auch im Afrofuturismus finden sich Elemente wieder. International beliebt wurde außerdem die japanische Ausprägung des Cyberpunk, die insbesondere in Manga und Film ihre ganz eigenen Spielarten entwickelt hat. Mit „Akira“ existiert sogar eine postapokalyptische Manga-Reihe, die ähnlich wie „Blade Runner“ oder die Werke des französischen Comicautors Moebius Cyberpunk-Elemente beinhaltete, bevor auch nur der Begriff das erste Mal aufgetaucht war. Auch in der Architektur steht Japan heute wie kein zweiter Ort der Welt mit Vierteln wie Shibuya für den Inbegriff des Stahl gewordenen Cyberpunks. Werke wie „Ghost in the Shell“ haben ihren Einfluss weit über die Grenzen Japans und Asiens hinaus ausgedehnt.

Hierzulande blieb Cyberpunk außerhalb von „Shadowrun“-Romanen dagegen eher Importware. 1990 erschien zwar eine Anthologie unter Herausgeberschaft Michael Nagulas bei Heyne, doch erst 1999 wurde mit Myra Çakans „When the Music’s over“ ein Genre-Roman aus der Hand einer deutschsprachigen Schriftstellerin veröffentlicht. Später folgten beispielsweise Thomas Elbels „Asylon“, Nadine Erdmanns „Cyberworld“, Carmen Capitis „Maschinenwahn“ oder „Drei Monde“ von Lars Hitzing.

Cyberpunk im 21. Jahrhundert

Heute, da die Realität die Visionen des Cyberpunk in mancher Hinsicht bereits eingeholt hat, finden sich selbst außerhalb von Film, Game und Literatur Anleihen ans Genre: In der Musik beispielsweise taucht der Begriff gelegentlich als Genrebezeichnung für eine Form Synthesizer-haltiger, psychedelischer Elektromusik auf, eng verwandt mit „Cyberdelic“. Und in der Architektur gilt – neben dem bereits genannten Shibuya – etwa das Berliner Sony Center als vom Cyberpunk inspiriertes Bauwerk.

Auf der Leinwand bleibt Cyberpunk nicht zuletzt dank seiner visuellen Ästhetik ein präsentes Genre – man denke etwa an „Elysium“, den Beginn von „Avatar“ oder „Blade Runner 2049“. In der Literatur jedoch werden Versatzstücke des Cyberpunk inzwischen eher in andere Subgenres integriert: Themen wie die Zwei-Klassen-Gesellschaft in Verbindung mit Cyberspace finden sich etwa in Tad Williams „Otherland“-Reihe, oder im kürzlich verfilmten „Ready Player One“. Die vernetzte Gesellschaft ist beliebter Bestandteil von SF-Bestsellern wie „Der Circle“ von Dave Eggers, in „Autonom“ von Annalee Newitz finden sich Motive wie das Nebeneinander von Mensch und Androide sowie institutionalisierter Drogenkonsum, und auch Joel Shepherds „Androidin“-Trilogie weist ähnliche Aspekte auf.

Dabei zeigen solche Werke nicht nur, dass die Prinzipien des Movement nachwirken, sondern auch, dass Eskapismus und Gesellschaftskritik einander nicht widersprechen müssen.

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/