Alessandra Reß, 07.02.2019
Der Einzelne gegen das System: Aus dieser Grundzutat hat sich ein Science-Fiction-Genre herausgebildet, das so aktuell scheint wie nie zuvor. Wir wagen einen Überblick über das Subgenre der dystopischen Science-Fiction-Literatur.
Menschenmengen, die Autokraten zujubeln? Medien, die Falschmeldungen zu Propagandazwecken streuen? Strenge Abschottung nach außen? Zunehmende räumliche Trennung zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen? Einzelne, die zu Rettern hochstilisiert werden?
So ganz weit weg scheinen sie vom Hier und Jetzt nicht mehr, die typischen Zutaten der Dystopie. Gerade in den letzten zehn Jahren kehrte diese Literaturgattung an die Oberfläche zurück, führte dabei vor allem auch Jugendliche an Themen wie Massenkulte, Medienvereinnahmung oder systematische Unterdrückung heran. Viele dieser jüngeren Dystopien – von Tribute von Panem über Divergent bis hin zu Die Auserwählten / Maze Runner – waren ironischerweise selbst mediale Massenereignisse, haben Franchises gebildet und dabei sicher nicht in erster Linie erzieherische Aspekte im Blick gehabt. Dennoch verfolgt die Dystopie schon seit ihren Ursprüngen nicht nur den Zweck zu unterhalten, sondern auch zu mahnen, zu beobachten oder sogar – je nach Werk – Missstände anzuprangern.
Aber fangen wir von vorne an.
Von "Wir" bis "Fahrenheit 451": Herausbildung der Genremerkmale
Bekanntlich stellt der Begriff der Dystopie eine Antithese zur Utopie, dem Nicht-Ort, bzw. mehr noch zur Eutopie, dem »guten« Ort dar. Die Dystopie ist der Ort, der vielleicht ist oder sein kann, den wir aber nicht wollen.
Als erster Roman dieser Literaturgattung kann Jewgeni Iwanowitsch Samjatins Wir von 1920 gesehen werden, in dem eine Gesellschaft beschrieben wird, die jegliche Individualität unterdrückt. Samjatin selbst war ein Revolutionär der Bolschewiki und beispielsweise an der Oktoberrevolution beteiligt. Mit seinem Roman führte er Genremerkmale ein, die bis heute gelten. Zu nennen sind hier insbesondere der Kampf der konformen Gesellschaft bzw. der Staatsmacht gegen das Individuum, die Unterdrückung des freien Willens sowie das relativ offene Ende.
Sowohl Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932) als auch George Orwells 1984 (1949), die beiden wohl größten Klassiker der Dystopie, weisen deutliche Parallelen zu Wir auf, wenngleich sie unterschiedliche Richtungen eingeschlagen haben. Zudem sind beide unter dem Eindruck der Weltkriege entstanden, und auch Fahrenheit 451 (1953), dem dritten großen internationalen Dystopie-Klassiker, merkt man die zeitliche wie inhaltliche Nähe zu den Ereignissen noch an.
Die Postapokalypse als Nährboden für dystopische Gesellschaften
Damit zeigt sich eine deutliche Parallele zur postapokalyptischen Literatur, einer engen Verwandten der Dystopie. Beide entwickeln pessimistische Zukunftsvisionen und hinterfragen den Technikoptimismus der frühen Science Fiction. Schließlich galten Technik und (Natur-)Wissenschaft nach den beiden Weltkriegen plötzlich nicht mehr nur als Mittel, um zu Mond und Mars zu reisen oder Krankheiten zu heilen, sondern auch für Massenvernichtung und eine neue Art der Kriegsführung.
Während die Postapokalypse-Literatur sich jedoch den Schicksalen Einzelner angesichts weltumspannender Ereignisse widmet, stehen in der Dystopie die Machtverhältnisse innerhalb eines begrenzten, sogar abgeschotteten territorialen Bereichs im Vordergrund. In vielen Werken bilden ein postapokalyptisches Moment und die damit verbundene Umwälzung der Weltordnung aber die Voraussetzung für die Herausbildung der dystopischen Gesellschaften.