An einem anderen Ort und außerhalb der Zeit: Phantastische Literatur und Worldbuilding
Neben der Handlung, den Figuren und der Sprache entscheidet das Worldbuilding darüber, ob wir einen Fantasy- und SF-Roman als lesenswert betrachten oder nicht. Andy Hahnemann, Lektor bei FISCHER Tor, blickt hinter die Kulissen des Weltenerschaffens.
(Dieser Text erschien zuerst in der "Neuen Rundschau 1/2019: Jenseits von Raum und Zeit", erhältlich beim Fischer Verlag.)
I. Realisten einer größeren Realität
Wenn heutzutage von phantastischer Literatur die Rede ist und man sich zufälligerweise nicht gerade in einem germanistischen Proseminar oder einem Qualitätsfeuilleton befindet, sind in der Regel zwei Genres gemeint: die Fantasy- und Science-Fiction-Literatur mitsamt ihren zahlreichen Untergattungen.1
Beides sind im Großen und Ganzen verhältnismäßig junge Genres, die auf dem Buchmarkt erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine nennenswerte Rolle spielen und lange Zeit als eine Art Nicht-Literatur galten. Während die Science Fiction in der ersten Jahrhunderthälfte feste Genrekonventionen ausbildete, ist die Fantasy noch jüngeren Datums: Hier lässt sich vor den 60er und 70er Jahren, mit dem Auftreten von AutorInnen, die explizit angetreten sind, um High Fantasy à la Tolkien oder Heroic Fantasy à la Robert Howard zu schreiben, gar nicht von einem eigenen Genre sprechen.2 Sich schamlos Geschichten auszudenken, die in einer Anderswelt spielen, ohne auf das Feigenblatt von umschließenden Traum-, Mythen- oder Märchenkonstruktionen zurückzugreifen, ist etwas, das erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts en vogue wurde.
Sieht man sich heute Listen mit den bedeutendsten oder besten Fantasyromanen an, begegnet man kaum einem Buch, das älter als dreißig oder vierzig Jahre ist.3 Es gibt im Genre zwar ein Geschichtsbewusstsein – was sich daran zeigt, dass die Klassiker immer neu aufgelegt, neu übersetzt, gelesen und verfilmt werden –, nur reicht es eben nicht besonders weit zurück.
Sucht man nach einem Kriterium, anhand dessen man die sogenannte mimetische oder realistische Literatur von der phantastischen Literatur unterscheiden kann, tut man zunächst gut daran, nicht das Narrativ ins Zentrum zu stellen, sondern die Welt, in der es sich ereignet: Der realistische Erzähler präsentiert dem Leser in seiner Geschichte meist eine Art selbst modellierten Wirklichkeitsausschnitt, der phantastische Erzähler schafft eine »andere« Wirklichkeit. Er ist nicht nur Geschichtenerzähler, sondern hat die Lizenz und den Auftrag, Orte, Wesen und Ereignisse zu erfinden und detailliert auszugestalten, die nicht umstandslos auf unser übliches Weltwissen rekurrieren, sondern vor allem in der Selbstbezüglichkeit Sinn ergeben. Wo liegt Minas Tirith? Natürlich westlich von Mordor, das weiß jedes Kind. Wo Minas Tirith im Verhältnis zu, sagen wir einmal, Duisburg liegt, ist nicht so leicht zu beantworten.
Das Worldbuilding mag ausgeprägt sein oder nicht, es mag auf eine Erweiterung unserer Realität abzielen, eine komplexe Anderswelt konstituieren oder eine weit entfernte Zukunft erschaffen, die mit unserer Welt zusammenhängt. Gleich bleibt stets, dass sich phantastische Literatur von unserer primären Realität – ihren Regeln und Gesetze, ihrer räumlichen oder zeitlichen Limitiertheit – abgrenzt. Phantasten beginnen ihre Imaginationsarbeit, zumindest im Prinzip, auf einer leeren Leinwand. Sie dürfen vernachlässigen, worauf sie keine Lust haben, und die einzigen Beschränkungen, denen sie nicht entkommen können, liegen in ihrem eigenen Denken.
Man mag darin primär einen gut gelaunten und verantwortungsfreien Eskapismus und die Flucht vor einer komplizierten Wirklichkeit erkennen,4 aber dass in dieser Fluchtbewegung eine ganz eigene Freiheit und Würde liegt, hat niemand besser als die kürzlich verstorbene Ursula K. Le Guin deutlich gemacht, als sie für ihr Lebenswerk den National Book Award erhalten hat.
And I rejoice in accepting it for, and sharing it with, all the writers who’ve been excluded from literature for so long – my fellow authors of fantasy and science fiction, writers of the imagination, who for fifty years have watched the beautiful rewards go to the so-called realists. Hard times are coming, when we’ll be wanting the voices of writers who can see alternatives to how we live now, can see through our fear-stricken society and its obsessive technologies to other ways of being, and even imagine real grounds for hope. We’ll need writers who can remember freedom – poets, visionaries – realists of a larger reality.
Von den »Realisten einer größeren Realität« darf erwartet werden, dass sie eine Wirklichkeit gestalten, die sich von der unseren radikal unterscheidet oder sie doch zumindest für andere Ästhetiken, Existenz- oder Gesellschaftsentwürfe öffnet. Für Le Guin und zahlreiche andere Phantasten meinte und meint das vor allem ein Hinausdenken über die kapitalistische und konsumistische Maschinerie, die unser Leben bestimmt, sowie über die festgefahrenen Gender- und Sozialstrukturen. Aber man muss das Politische und Moralische hier gar nicht überbetonen: Fantasy und Science Fiction haben immer auch antimodernen, ultramännlichen und bellizistischen Projektionen Raum geboten, und eine der am emotionalsten geführten literaturpolitischen Debatten der letzten Jahre drehte sich im Wesentlichen um den Vorwurf, dass die aktuelle SF-Literatur sich dem grünversifften Mainstream andient und dabei die guten alten (männlichen) Tugenden der Abenteuerliteratur vernachlässige.5
Die politische Ebene ist aus dem Gespräch über phantastische Stoffe schon lange nicht mehr wegzudenken: Dass Superheldenfilme wie Black Panther oder Wonder Woman und SF-Filme wie Star Wars die Frage nach der Repräsentation aufwerfen, ist beinahe zur Selbstverständlichkeit geworden. Es mag zwar ein wenig befremdlich wirken, wenn – wie auf dem Netzwerktreffen der phantastischen Autoren 2018 – fünfzig Menschen leidenschaftlich darüber diskutieren, warum Dumbledores Homosexualität in den Harry-Potter-Filmen nicht explizit thematisiert wird, liegt aber in der Natur der Sache: In der Phantastik steht es den KünstlerInnen nämlich frei, in welche Welt sie ihre Tür öffnen, welche Hautfarbe oder Sexualität ihre Protagonisten haben oder ob es in ihrer Welt überhaupt so etwas wie Geschlechter gibt. Das von konservativeren Geistern oft bemühte Argument der Abbildlichkeit – im mittelalterlichen Europa gab es angeblich keine Schwarzen, im Zweiten Weltkrieg keine kämpfenden Frauen usw., deshalb darf es sie auch nicht in den popkulturellen Darstellungen dieser Epochen geben – verliert an Gewicht, wenn wir uns im Bereich der Phantastik bewegen.6 Und in der Tat hat sich die internationale literarische Phantastik in den letzten Jahren mit Autorinnen wie Ann Leckie, Charlie Jane Anders, Nnedi Okorafor, Becky Chambers, Tomi Adeyemi, Annalee Newitz, Naomi Alderman, V.E. Schwab, N.K. Jemisin, Seanan McGuire und anderen in Sachen Minderheitenrepräsentation und politischer Selbstreflexion auf ein Level katapultiert, das von anderen Gattungen der Unterhaltungsliteratur nur selten erreicht wird. Es ist ein auffälliger Trend, dass sich immer mehr ehemals Marginalisierte an prominenter Stelle in die Geschichte des Genres einschreiben.7
Das dürfte zumindest jene überraschen, die die Fantasy- und Science-Fiction-Literatur als reine Unterhaltungs-, Trivial- oder Schemaliteratur begreifen, die im Kulturbetrieb zu Recht marginalisiert wird. Dabei zieht die Frage nach der literarischen Relevanz – warum sollten phantastische Bücher im Feuilleton besprochen werden? – natürlich die Frage nach den angelegten Maßstäben nach sich. Was die Literaturkritik beispielsweise immer noch nicht so recht verstanden hat, ist die Tatsache, dass in der Phantastik neben der Handlung und der Sprache das Worldbuilding ein entscheidender – vielleicht der entscheidende – Faktor ist, nach dem die Qualität eines Werkes zu beurteilen ist. In der traditionellen Literaturkritik greift beinahe reflexartig die Unterteilung in Bücher, die stilistisch interessant sind (also potenzielle E-Literatur), oder Bücher, die über den Inhalt kommen (eher U-Literatur).8 Was hier fehlt, ist nicht nur eine Ahnung von der Bedeutung des Worldbuilding, sondern auch die Lektüreerfahrung und das Wissen, um einen gelungenen Weltenbau von einem weniger gelungenen zu unterscheiden, mithin also: die Kompetenz.
Ähnliches gilt für den akademischen Betrieb: Die ältere Generation von Literatur- und Kulturwissenschaftler hat die Theorie und den Begriff der Phantastik an einem Kanon literarischer Werke entwickelt, der zu einer Zeit entstanden ist, in der die beiden Hauptströmungen der heutigen Phantastik historisch noch nicht besonders weit ausgebildet waren – und damit unter Ausklammerung fast aller Werke, die den Phantastikmarkt heute ausmachen. Oder anders: Die Germanistik hat sich eher an E.T.A. Hoffmann orientiert als an Bernhard Hennen oder Markus Heitz. Die Folge ist eine beeindruckende Gegenwartsfremdheit: Die meisten Theorien der Phantastik sind, vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnis des Wortes, nicht sonderlich erkenntnisfördernd. Ihr Fokus liegt in der allgemeinen Wahrnehmung viel zu deutlich auf dem sogenannten »übernatürlichen Ereignis« oder der »Verletzung der Naturgesetze«9 als bestimmendes Element des Phantastischen. Das aber schließt nicht nur einen großen Teil der Science Fiction aus, sondern auch einen Teil der Fantasyliteratur, die sich zwar im Wesentlichen an die uns bekannten Naturgesetze hält, die aber nicht in der uns bekannten Welt spielt.10 Aber was nützt ein Begriff der Phantastik, der kilometerweit vom aktuellen Sprachgebrauch entfernt liegt? Wenn Leser, Literaturwissenschaftler und Lektoren nicht mehr miteinander reden können, weil ihr Vokabular ein jeweils anderes ist, läuft etwas schief.
Viele Praktiker im Genre haben dagegen zwei Dinge intuitiv begriffen, nämlich erstens, dass Fantasy und Science Fiction zwei Seiten derselben Medaille sind, und zweitens, dass uns das Worldbuilding wenn schon nicht das einzige, so doch das bedeutendste Kriterium an die Hand gibt, um phantastische von mimetischer Literatur zu unterscheiden.11 Die Autorin Jo Walton hat das einmal schön in dem Zweizeiler auf den Punkt gebracht: »In einem Science-Fiction-Roman ist die Welt selbst eine Figur – oft sogar überhaupt die wichtigste. In einem Mainstream-Roman ist die Welt implizit unsere eigene und die Figuren sind die Welt.«12 Ein zeitgenössischer Begriff des Phantastischen wird an der Behauptung festhalten, dass sich realistische Literatur von phantastischer dadurch unterscheidet, dass Letztere von einer Welt erzählt, die es so (noch) nicht gibt. Ich gehe davon aus, dass diese Minimaldefinition vielen Teilnehmern am Gespräch über die Phantastik intuitiv einleuchtet, gerade weil sie von einem Grad an begrifflicher Unschärfe gekennzeichnet ist, der den systematischeren Geistern Zahnschmerzen bereiten dürfte. Dass sich formalistische Literaturwissenschaftler, die die Forderung nach begrifflicher Klarheit schwingen wie ein Balrog seine Peitsche und die Perle wissenschaftlicher Wahrheit hüten wie Smaug den Arkenstein, hier vermutlich von einem vorwissenschaftlichen Verständnis sprechen würde, sollte uns nicht abschrecken.13 Halten wir es vorerst wie die Hobbits und mogeln uns durch.
Ganz in diesem Sinne möchte ich mich im Folgenden an den Praktikern orientieren, um mir einige Gedanken über die Rolle des Worldbuilding in der phantastischen Literatur zu machen. Was heißt es eigentlich, im Medium der Literatur eine Welt zu erschaffen? Inwiefern handelt es sich bei phantastischer Literatur um Eskapismus, und was genau ist damit gemeint? Wie ist es um die Ästhetik des Worldbuilding bestellt? Und was genau gibt uns das Lesen phantastische Literatur? Einer der frühesten und interessantesten Beiträge stammt dabei von J.R.R. Tolkien.
II. Auf der Suche nach Türen – der sogenannte Eskapismus
Als Tolkien am 8. März 1939 an der University of St. Andrews zu Ehren des Schriftstellers und Anthropologen Andrew Lang den Vortrag »On Fairy-Stories« hielt, befand er sich an einem kritischen Punkt seines eigenen literarischen Schaffens. Vor knapp einem Jahr hatte er den Hobbit veröffentlicht, der sehr wohlwollend aufgenommen worden war, und es zeichneten sich bereits die ersten Umrisse dessen ab, was einmal als Lord of the Rings in die Literaturgeschichte eingehen sollte. Der Vortrag diente vor allem der Selbstvergewisserung und kann als Manifest gelesen werden, in dem er das Konzept der noch nicht existierenden Gattung »Fantasy« erläuterte.
Dabei ist bereits die Gegenstandsbestimmung interessant, weil Tolkien hier eine wichtige Unterscheidung vornimmt: Fairy-stories sind in seinen Augen nicht »stories about fairies or elves, but stories about Fairy, that is Faërie, the realm or state in which faeries have their being«.14 Es sind Geschichten über eine Welt, in der neben Elfen, Feen, Drachen oder Trollen natürlich noch zahlreiche andere Dinge existieren wie «the sun, the moon, the sky; and the earth, and all the things that are in it: tree and bird, water and stone, wine and bread […]«.15
Der Anklang an die biblische Schöpfung ist hier kaum zufällig: Der Schöpfungsakt des Fantasyautors trägt zwar nicht unbedingt Züge einer Creatio ex nihilo, ist aber auch nicht näher bestimmbar: »I will not attempt to define that, nor to describe it directly. It cannot be done. […] It has many ingredients, but analysis will not necessarily discover the secret of the whole.«16
Tolkien wusste natürlich sehr gut, dass seine Fantasy kein völlig freies und voraussetzungsloses Spiel der Phantasie ist, sondern in weiten Teilen eine kreative Aneignung der folkloristischen Traditionsbestände und anderer Überlieferungen, also eine Rekombination von kulturellem Material, das der Mythen- und Sagenwelt entstammt. Tolkien gibt uns deshalb eine Art von Genussanweisung mit auf den Weg: »We must be satisfied with the soup that is set before us, and not desire to see the bones of the ox out of which it has been boiled.«17
Der Vertrauensvorschuss des Lesers, der besser nicht fragt, aus welchen Zutaten die Suppe gekocht ist, hat auf Seiten des Autors eine notwendige Entsprechung: »There are many things in the cauldron, but the cooks do not dip in the ladle quite blindly. Their selection is important.«18 In Tolkiens Literaturkulinarik gilt also die Abmachung, dass die Köche versprechen, nur die allerbesten Zutaten zu verwenden, solange die Leser dafür die Bereitschaft mitbringen, sich lecker verköstigen zu lassen, und darauf verzichten, einen Blick in die Küche werfen. Fantasy à la Tolkien ist ein Spiel, bei dem es darum geht, zu verzaubern und sich verzaubern zu lassen. Und solange dieser Gründungsvertrag von beiden Seiten eingehalten wird, findet eine gelingende literarische Kommunikation statt, die jedes lebendige Genre auszeichnet.
Bemerkenswert dabei ist, dass sich Tolkien gegen die bekannte Floskel von der »suspension of disbelief« wendet und ein alternatives, viel radikaleres Modell vorschlägt: Verfügt der Autor über das notwendige Können, verlässt der Leser für eine Zeitlang die ihn umgebende Realität und betritt eine künstlich geschaffene Sekundärwelt. »What really happens is that the story-maker proves a successful ‚sub-creator‘. He makes a Secondary World which your mind can enter. Inside it, what he relates is ‚true‘: it accords with the laws of that world.«19
Wünschenswert sind eine möglichst hohe Kohärenz und Glaubwürdigkeit der erzählten Welt, mithin ein sich selbst treu bleibender Realismus der Darstellung. Die Kosten dafür sind jedoch nicht zu unterschätzen. Weil wir nämlich nicht an zwei Orten zugleich sein können, gewinnen wir zwar eine Welt, verlieren aber eine andere: Fantasystories »open a door on Other Time, and if we pass through, though only for a moment, we stand outside our own time, outside Time itself, maybe«.20
Das ist freilich keine Kleinigkeit, und es wundert nicht, dass Tolkien in der Fantasy eine hochpotente Form des Geschichtenerzählens sieht, die der realistischen Erzählung in mancher Hinsicht überlegen ist. Es benötigt eine besondere Fähigkeit, eine Welt zu erfinden, in der die Sonne nicht wie unsere aussieht, sondern beispielsweise grün ist, einen »special skill« oder sogar »a kind of elvish craft«.21
Geschichtenerzählen ist für Tolkien fast ein Akt der Zauberei. Wenn der Autor seine Sekundärwelt nur hinreichend gut ausarbeitet, öffnet sich ein Portal, durch das der Leser zumindest kurzzeitig unsere Welt verlassen kann. Die Spannung zwischen den beiden Welten bleibt jedoch bestehen: Zum einen ist die Anderswelt im Wesentlichen aus dem Material gefertigt, das dem Autor in unserer Welt zur Verfügung steht, zum anderen ist diese Art des Eskapismus auf den Geist beschränkt. Eine körperliche Entführung des Rezipienten durch eine Art superimmersives Cosplay à la Ready Player One, inklusive Oculus-Rift-Brille und Laufband, wäre kaum nach Tolkiens Geschmack gewesen: »To experience directly a Secondary World: The potion is too strong, and you would give to it primary belief, however marvellous the events. You are deluded.«22
Tolkien stand hier, gemessen an den Möglichkeiten der heutigen Unterhaltungsindustrie, eine eher gediegen vergeistigte und dezidiert unpolitische Variante des Eskapismus vor Augen. Und etwas anderes würden wir von einem Pfeife rauchenden Professor, der zwischen Katheder, Waldspaziergang und Lesesessel pendelt, auch nicht erwarten. Dass jede Form des Eskapismus allerdings immer auch eine soziale und sogar vage geographische Dimension hat, zeigt sich, wenn man sich die Erfahrungen der LeserInnen ansieht.
George R. R. Martin berichtet etwa: »I grew up in the projects of Bayonne, New Jersey, and we were poor. The Kids would go down to the shore for the summer and go to the beach or go to the mountains with their families. We never went anywhere, we just stayed in the same old place. But books … took me everywhere. I read Lord of the Rings probably in Junior High School … you know it opens, like, with a dissertation of pipe weed … and then there is a birthday party. I’m saying, ‘Where are the giant snakes? Where are the scantily clad women? There’s no sword fights here, what’s going on?’ But then it started picking up steam. Rivendale and the Black Riders. By the time I got to the Mines of Moria I had decided that this was the greatest book I’d ever read. … It was so totally immersive.«23
Wer Tolkien kennt, weiß, dass die Pfeifenkraut-Dissertation noch um eine umfangreiche Genealogie, ein linguistisches System, ein paar tausend Jahre Geschichtsschreibung und einen halben, geographisch ausdefinierten Kontinent ergänzt wird. Tolkien hat die vielleicht größte und komplexeste Sekundärwelt des 20. Jahrhunderts geschaffen, die in ihrer selbstgenügsamen Autonomie Generationen von Lesern eine hochimmersive Leseerfahrung ermöglicht hat. Der Herr der Ringe nimmt damit ganz zu Recht einen zentralen Platz im Kanon der phantastischen Literatur ein. Detaillierter und stringenter wurden imaginäre Welten selten zu Papier gebracht.
Tolkiens Tür nach Faërie, in die Anderswelt, ist aber natürlich nicht die einzige. Es gibt bekanntlich zahllose andere Zugänge, weil phantastische Literatur eben genau das tut: Zugänge zu legen in eine Welt, die es nicht gibt. V.E. Schwab, die Autorin der sehr erfolgreichen Shades of Magic-Serie, hat ihren Vortrag anlässlich der sechsten J.R.R. Tolkien Lecture on Fantasy Literature am Pembroke College in Oxford 2018 mit einem geradezu schockierenden Geständnis eröffnet: »I have a confession to make: I haven’t read The Lord of the Rings, or The Hobbit. I do not consider myself a well-versed fan of Tolkien, let alone an expert. … I found another door.”24
Schwabs Gateway-Buch – das Buch, das sie zur Leserin machte, weil es ihr einen vollkommen neuen Erfahrungsbereich erschloss – war Harry Potter und der Stein der Weisen. »Harry Potter was the first time when I fell in love. The first time I forgot I was reading words, because I felt like I was watching a film inside my head. The first time I forgot where I was.«25
Wie Martin beschreibt Schwab hier eine gelungene Realitätsflucht oder besser: die erfolgreiche Suche nach einer anderen, zweiten Realität jenseits der unseren: »I searched for ways out not because I was miserable, or lost, but because I couldn’t shake the feeling that there was more. That the world was bigger and stranger and more magical than the one I could see.«26
Diese Suche nach der anderen Welt – größer und seltsamer und magischer als unsere eigene – ist der Kern des phantastischen Unternehmens in fast all seinen Spielarten, sie kann allerdings mit unterschiedlichen Zielen und in jeweils anderem Geist betrieben werden. Schwab wendet sich in ihrem Vortrag beispielsweise deutlich gegen den Traditionalismus, der von Tolkien und anderen grauen Eminenzen des Genres repräsentiert wird. Für sie ist Fantasy vielfältiger, als den meisten bewusst ist, und der Rückbezug auf etablierte Muster und Tropen (übrigens der Vorwurf, der der Fantasy – nicht ganz zu unrecht – seit Ewigkeiten nachhängt) stellt einen Verrat an der ureigenen Mission der phantastischen Literatur dar, nämlich unsere notwendig begrenzten Alltagserfahrung um all jene Wunderbar- oder Seltsamkeiten zu bereichern, die sich nicht umstandslos realisieren lassen. Für Schwab ist die Phantastik eine Beschäftigung mit der Welt, in der wir leben, allerdings eher ex negativo:
The most beautiful part of writing fantasy is the freedom, not from rules […], but from the exact details of the present we inhabit. We have the opportunity to subvert the established tropes, to redefine power, to conceive of social landscapes and climates perpendicular to the ones in which we live. Fantasy allows us to explore the strengths and weaknesses of our own world through the lens of another. […] Fantasy affords the luxury of close examination – of the self, and of society—laid within a framework of escapism.27
Man spürt hier deutlich das Echo von Le Guins Wertschätzung für die »Realisten einer größeren Realität«. Eskapismus ist in dieser Perspektive eher eine strategische Dislozierung, die es uns erlaubt, die Grundlagen unserer Kultur zu reflektieren und imaginär zu korrigieren oder Unbekanntes zu erforschen, ohne sich allzu früh irgendwelchen Denkzwängen hinzugeben. Schwab legt Wert auf den dialogischen Charakter des Unternehmens: Wenn man über fremde Welten spricht, spricht man auch über die nicht realisierten Möglichkeiten der eigenen. Über das Randständige, Unterdrückte, das versteckte utopische Potenzial im Alltag, den man fluchtartig verlassen hat.
Es ist kein Zufall, dass V.E. Schwab Werke bevorzugt, in denen das reziproke Verhältnis zwischen den zwei Welten auch in der Struktur des Worldbuilding Eingang gefunden hat: C.S. Lewis‘ Narnia ist durch einen Kleiderschrank zu erreichen, Harry Potter steigt am Ende der Sommerferien in einen magischen Zug, um von London nach Hogwarts zu gelangen, und in Schwabs eigenen Büchern springen die Protagonisten fröhlich zwischen verschiedenen Welten (nur eine davon ist unsere) hin und her. Die Prämisse dieser Portal-Fantasy ist einfach: Solange die Tür zwischen unserer und der imaginären Realität geöffnet ist, kann es zu einer wechselseitigen Beeinflussung kommen. In der Fiktion ist es meist ein Held aus unserer Welt, der in eine Phantasiewelt überwechselt, um sie zu retten – man denke etwa an Bastian Balthasar Bux aus der Unendlichen Geschichte –, in Wirklichkeit ist es allerdings die Fremdheit und die Andersheit der fiktiven Welt, die Zweifel am Bestehenden säen und Veränderungsprozesse in Gang setzen.
It is the difference between Tolkien and C.S. Lewis. Middle-earth is accessible only on the page. But Narnia had a door in the back of a wardrobe. That wardrobe is not simply a piece of furniture, it is an object that instills doubt – doubt that the world is as simple or mundane as it seems – the kind of doubt that makes a child climb into every cupboard and armoire they can find, looking for doors. When we make readers doubt their own reality, even a little, we grant them hope for a different one.28
Und genau darin liegt die besondere Macht des Autors literarischer Phantastik:
Writers of fantasy possess a special kind of magic. We have the ability to change the world. Writers of the speculative have the incredible opportunity to speculate. To reinvent and reimagine. We have the power to create spaces where diverse readers can see themselves, not only as tangential, but as essential. Fantasy authors have the opportunity to tell stories about characters whose real-life analogs are so often cast to the outside edges of the narrative, and to center those too often relegated to its fringes.29
Das Besondere daran ist, dass der jeweiligen Autorin oder dem jeweiligen Autor nicht wirklich Grenzen gesetzt sind. Da die Veränderungen vorerst nur in den Klammern der Fiktion, die Selbstermächtigung im geschützten und imaginären Raum der Anderswelt stattfindet, sind die Hürden geringer als in der Realität. Aber es ist ein Anfang: »I wish I could write a reality that was kinder to so many of those reading my work. Wish that, like in A Darker Shade of Magic, the strength of one’s power was more important than who they loved. I wish that I could center women and LGBTQ and people of color in the real world as easily as in my books. But until that day, I am committed to doing it in fiction.«30
Gelungenes Worldbuilding ist für Schwab nicht nur eine Frage der Komplexität, Kohärenz und letztlich Immersion, auf die Tolkien so viel Wert legt, sondern auch der Vielfalt und des Zusammenspiels von Sekundär- und Primärwelt. Ob wir es wollen oder nicht: Populäre Literatur steht nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Wechselverhältnis zu unserem ganz realen gesellschaftlichen Dasein. Anders als Tolkien sich das vorstellt, wirft Schwab nicht nur einen Blick in die Küche, sondern besteht sogar auf eine genaue Auflistung der Zutaten. Und sie ist gelangweilt von den alten Rezepten, die patriarchale, eurozentrische Züge aufweisen.
Schwab entwirft das Bild einer Fantasyliteratur, die sich von der Science Fiction nicht mehr wesentlich unterscheidet. Anders als bei der Fantasy, die immer ein wenig für die leicht debile Schwester der SF gehalten wird, würde niemand bestreiten, dass sich Science Fiction in einer Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart befindet: Man denke nur an die Next-War-Novels des beginnenden 20. Jahrhunderts, die klassischen Utopien wie 1984 oder Brave New World, die marxistischen und sozialistischen Strömungen der New-Wave-Literatur, den Cyberpunk mit seiner Parteinahme für gesellschaftliche Außenseiter oder die Rebellenromantik zeitgenössischer dystopischer Young-Adult-Literatur.
In der Science Fiction ist die Zukunft jene Sekundärwelt, die es uns erlaubt, unsere Gegenwart neu und kritisch zu betrachten. Anders als Tolkiens Mittelerde hängt das ferne Land der Zukunft mit unserer Welt zusammen. Und wenn wir in der Regel auch nicht hin- und herwechseln können, dann liegt das daran, dass wir gerade keine Zeitmaschine zur Hand haben. (Manchmal haben wir aber eben doch eine, und dann springen wir von Welt zu Welt in bester Portal-Fantasy-Tradition, was zu … Komplikationen führen kann.) In der SF haben wir es mit einer Art Faërie zu tun, die sich nicht aus mythologischen Quellen, Magie und literarischen Manierismen speist wie bei Tolkien, sondern aus Extrapolationen gesellschaftlicher oder technischer Trends oder der imaginären Eroberung des Weltraums. Das ändert jedoch nichts an ihrem prinzipiellen Sekundärweltcharakter und an der Notwendigkeit, ein Worldbuilding zu betreiben, in dem die erzählte Welt als plausibler, interessanter und vor allem: einladender Ort für den Leser in Stellung gebracht wird.
III. »I find your Lack of Faith disturbing« – Über Ästhetik und Worldbuilding
Für das, was wir phantastische Literatur nennen, gibt es im englischsprachigen Raum einen anderen Begriff, nämlich »speculative fiction«. In seinem Schreibratgeber How to write Science Fiction & Fantasy definiert der US-amerikanische Autor Orson Scott Card sie wie folgt: »Speculative fiction includes all stories that take place in a setting contrary to known reality […]. Speculative fiction is defined by its milieu. The world in which the story takes place is the genre boundary line. If a story doesn’t take the reader into an otherwise unknowable place, it isn’t speculative fiction.«31
Prinzipiell unbekanntes Terrain wären für ihn etwa die Zukunft, alle Geschichten, die in einer alternativen Version der Vergangenheit angesiedelt sind, auf anderen Planeten oder in einer Vorzeit, die von unserer archäologischen Forschung nicht gestützt wird, sowie Geschichten, deren Ereignisse den uns bekannten Naturgesetzen widersprechen. Oder kurz: in Welten, die nie existiert haben oder von denen wir bislang nichts wussten.
AutorInnen, die es sich zur Aufgabe machen, für den Leser eine Tür in eine solche Welt zu öffnen, stehen vor einer nicht geringen Herausforderung. Da die beschriebene Welt nicht die unsere ist, setzt das Worldbuilding schon in den fundamentalen Wirklichkeitsbereichen ein. Orson Scott Card hebt vier Achsen hervor, auf denen die Mimesis der Erfindung Platz macht.32
Erstens sollten sich Nachwuchsautorinnen Gedanken über die Naturgesetze machen, die in seiner Welt herrschen: In Science-Fiction-Romanen steht und fällt die Geschichte nicht selten mit dem Konzept der Weltraumreisen. Wie werden große Distanzen überbrückt? Können wir etwa schneller als das Licht reisen wie in Star Trek oder Wurmlöcher nutzbar machen, oder sind wir auf Generationenschiffe zurückgeworfen, um weite Entfernungen zu überbrücken? In der Fantasy stellt sich unter anderem die Frage nach dem Magiesystem: Natürlich soll hier Platz für das Wunderbare sein, aber niemand würde sich in einer Welt wohlfühlen, in der schlicht alles möglich ist und die erzählende Instanz völlige Willkür walten lässt. Selbst das hochgradig anarchische Wunderland, in das es Alice verschlägt, kommt nicht ohne ein paar Regeln aus, auch wenn sie auf den ersten Blick absurd erscheinen.
Zweitens braucht jede interessante Welt eine Geschichte – ob es sich um eine Big History von kosmischen Großereignissen handelt oder eine intrikate Abfolge von Zeitaltern und Herrschergeschlechtern. Um ein Gefühl für historische Tiefe zu erzeugen, kommt kein Autor daran vorbei, die Vergangenheit zu beschwören. Dass es sich nicht immer um eine menschliche Geschichte handelt, macht einen Teil des Spaßes aus: In dem wunderbaren Science-Fiction-Roman Kinder der Zeit von Adrian Tchaikovsky wird in mehreren Kapiteln die biologische und kulturelle Entwicklung einer Spinnengesellschaft beschrieben, die sich in mancherlei Hinsicht von der menschlichen Evolution unterscheidet, was eine interessante Perspektive ermöglicht. Besonders faszinierend gestaltet sich hier etwa der sich über mehrere Jahrhunderte hinziehende Emanzipationskampf der Männchen – ein phantastisches Lehrstück in Sachen Genderpolitik.
Drittens spielen die meisten Science-Fiction- oder Fantasy-Romane mit Elementen neuer Sprachen: Was der Linguist Tolkien hier zustandegebracht hat, lässt sich beispielsweise in diversen Elbisch-Wörterbüchern nachlesen, auch Dothraki-Sprachkurse erfreuen sich derzeit großer Beliebtheit, und jüngst ist die erste Übersetzung des Kleinen Prinzen ins Klingonische veröffentlicht worden. So umfangreich ausgearbeitete Sprachen sind freilich selten, und in der Regel begnügen sich die AutorInnen von phantastischer Literatur mit einigen Wörtern oder Bedeutungsverschiebungen, um ihrer Welt einen eigenständigen und authentischen Touch zu verleihen – man denke etwa an das beiläufig gesprochene Chinesisch im Firefly-Universum oder den Gebrauch des Wortes »Shiny!« darin.
Und viertens spielt sich das Leben in einer anderen Welt auch in anderen Landschaften ab: Bekanntlich kommt kaum ein Fantasyroman ohne Karte aus, auf der naturgetreu Gebirgsketten, Wälder, Städte und Flüsse abgebildet sind. Auch hier hat Tolkien Maßstäbe gesetzt, und es dürfte so manchen 12-Jährigen geben, der eher Mordor in Mittelerde finden würde als Dänemark in Europa. Und überhaupt: Jedem, der ein zweites oder drittes Mal Tolkiens Herr der Ringe liest, wird auffallen, dass ein guter Teil des Textes aus Landschaftsbeschreibungen besteht. Aber auch in der Science Fiction ist die Beschreibung der »Scenery« essentieller Bestandteil der literarischen Strategie: Das Gefühl des in der Science Fiction so beliebten Sense of Wonder geht nicht selten auf fremdartige und erhabene Landschaften zurück; man denke etwa an die wundervoll-bedrohlichen Welten, die in Christopher Nolans Film Interstellar beschworen werden.
Der Weltenbau kann sich natürlich noch auf ganz andere Bereiche erstrecken: Familienstrukturen, Technologien, Schul- und Ausbildungssysteme, Kleidungsstile, Infrastrukturen aller Art, Krankheiten, Kunstwerke, kurz: alles, was im weitesten Sinn als Natur oder Kultur in der zu erzählenden Geschichte eine Rolle spielt. Und am stets intrikaten Wechselspiel zwischen Narration und Worldbuilding entscheidet sich auch, ob ein Autor sauber arbeitet, seine Geschichte von Genrefans als lesenswert empfunden wird oder nicht – kein Wunder, dass es sich hier um ein äußerst dankbares Gebiet für Schreibratgeber handelt.
In seinem Wonderbook macht der Autor Jeff Vandermeer eine interessante Beobachtung: Während in der sogenannten realistischen Literatur das Worldbuilding bei Weitem nicht so ausgeprägt ist wie in der phantastischen, besteht die Ironie darin, dass sich Fantasyliteratur mit Vorliebe realistischer Darstellungstechniken bedient. »The overall effect is nonrealistic, but the method is a form of intense devotion to realism.«33
In der Welt, die der Autor entwirft – genau genommen ist es natürlich immer nur ein verkleinertes, zeichenhaftes Modell der Welt, das aus Annäherungen, Metonymien und Symbolen besteht –, kommt es dabei unter Umständen auf jede Kleinigkeit an, um einen möglichst überzeugenden Realitätseffekt zu erzielen. Patrick Rothfuss hat das in einer Diskussion mit seinem Schriftstellerkollegen R. A. Salvatore als »granulares Worldbuilding« bezeichnet, das es ihm ermöglicht, eine Spannung in die Erzählung zu bringen, die sich nicht aus einem Figurenkonflikt speist oder einem Ungeheuer geschuldet ist.34 Die Welt bereitet in einem phantastischen Roman nicht nur die Bühne für den Plot, sondern ermöglicht bestimmte Konflikte erst und durchläuft selbst eine Entwicklung, hat eine Geschichte.
Trotzdem führt der Wunsch nach einer möglichst weitgehenden Realismus-Illusion nicht selten zu einem stilistischen Konservatismus – auch wenn der onkelhafte Erzählton von Tolkien, C.S. Lewis oder Isaac Asimov längst nicht mehr State of the Art ist, fällt auf, dass FantasyleserInnen und AutorInnen den ästhetischen Avantgardismus scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Literarizität im Sinne einer Sprache, die auf sich selbst verweist, ist in der Regel unerwünscht, weil es phantastische Literaten ohnehin schon schwer haben, der von ihnen erfunden Welt Leben einzuhauchen. Die stilistischen Sperenzchen, die im System der Hochliteratur so wichtig sind, um Teilhabe und Hingabe zu signalisieren, können ihnen daher gestohlen bleiben.
Die Kehrseite ist: Verglichen mit so manchem Fantasyautor erscheinen selbst konservative Literaten wie stilistische Hochseilartisten. Deswegen jedoch die gesamte Gattung als minderwertig zu betrachten, spricht freilich seinerseits wieder von einem ästhetischen Konservatismus, dessen Wertungskategorien weit ins 20. Jahrhundert zurückreichen. Daniel Kehlmann hat sich ganz zu recht über die etwas alberne deutsche Vorliebe für realistische Literatur lustig gemacht.35 Wir sollten einfach nicht vergessen, dass Marcel Reich-Ranicki ebenso onkelhaft war wie Tolkien und man sich vor den schwülstigen Altmännerphantasien von Martin Walser & Co. genauso gut gruseln kann wie vor schlechten selbstpublizierten Fantasyromanen.
Die zweite Folge des exzessiven Worldbuilding ist, dass Fantasy-und SF-Romane in der Regel dick sind. Aber nicht nur das: Auf dem Feld der phantastischen Literatur sind Serien die Norm und Einzelromane die Ausnahme. Immer häufiger trifft man auch auf das Phänomen der »zweiten Trilogie«. Nachdem der Erzählbogen nach drei Bänden abgeschlossen wurde, schreibt die Autorin/der Autor eine zweite Trilogie in derselben Welt: manchmal als Fortsetzung , manchmal als Prequel, aber immer als Versuch, an die einmal erschaffene Welt anzubauen, um sie zu erweitern oder wenigstens zu recyceln. Die mehrere tausend Seiten langen Serien, wie sie von Terry Brooks, Robert Jordan oder George R. R. Martin geschrieben werden, treiben das auf die Spitze. Douglas Adams hat diesen Mechanismus perfekt parodiert, als er eine fünfteilige Hitchhiker-Trilogie geschrieben hat – zu der sich nach seinem Tod noch ein sechster Teil gesellte, der von einem anderen Autor fabriziert wurde, um die Kasse noch ein letztes Mal klingeln zu lassen. Hier wie so oft gilt: Es gibt keine Ironie.
Phantastisches Erzählen trägt tief in ihrer künstlerischen DNA den Drang zur Fortsetzung in sich. Aus ideologiekritischer Perspektive mag das wie eine weitgehende Konvergenz zur kapitalistischen Verwertungslogik erscheinen. Und wer wollte leugnen, dass das Marvel Cinematic Universe, das inzwischen etwa 20 Filme umfasst und um die 17,5 Milliarden Dollar eingespielt hat, gleichzeitig ein ziemlich komplexes Erzähluniversum und eine gigantische Geldmaschine ist? Gleiches gilt für Star Wars, das »Forever Franchise«.36 Wenn beim neuen Han-Solo-Film eine erboste Rezensentin zu dem Schluss kommt, dass man die Vorgeschichte des Weltraumhelden besser nicht erzählt hätte, weil das »fantasieraubend« und überflüssig sei37, dann zeigt das vor allem, dass ihr der zugrundeliegende kulturelle Imperativ zum vertieften Worldbuilding fremd geblieben ist.
In seinem charmanten Buch I find your Lack of Faith Disturbing schreibt der Kulturjournalist A.D. Jameson über ein Phänomen, das er »The Great Geek Game« nennt und das darin besteht, Logik und Kontinuität auch in Erzählungen finden zu wollen, wo es sie noch nicht gibt. In der Interaktion zwischen Fandom und Kulturschaffenden geht es letztlich darum, die Illusion einer in sich konsistent und historisch akkuraten Welt zu entwickeln.38 Also werden im phantastischen Fortsetzungsfranchise Geschichten zu Geschichte, indem Lücken gefüllt, Widersprüche geglättet und Entwicklungen auserzählt werden. Aus dieser Perspektive sind sich die Geeks einig: Natürlich wollen wir wissen, wie sich Han Solo und Chewbacca kennengelernt haben, kapitalistische Verwertungslogik hin oder her.
Die Künstlichkeit, die einer beliebigen Sekundärwelt zu Beginn anhaften mag – »Wer hat sich so was bloß ausgedacht?« –, wird mit jeder neuen Fortsetzung in etwas Natürlicheres verwandelt, bis sie irgendwann eine beinahe unheimliche Präsenz entwickelt. Oder anders: In der phantastischen Kunst werden künstliche Welten durch einen kollektiven, multimedialen Chorus ins Leben gerufen. Die Vielstimmigkeit ist kein Problem, solange sich keine schiefen Töne einschleichen, die die innere Konsistenz untergraben. Die Fortsetzungsseligkeit – ob als globales Franchise oder semiprivate Fan-Fiction – liegt in der Natur der Sache, und es wundert daher auch nicht, dass Amazon und Netflix, die beiden neuen Weltmächte in Sachen Serialisierung, mittlerweile einen deutlichen Programmschwerpunkt auf phantastische Stoffe legen.39
IV. Happy End
Selbstverständlich kann man hier mit kulturkritischem Impetus die Verdummung der Massen beklagen – kürzlich schrieb eine Guardian-Kolumnistin, Netflix sei das neue »opium of the masses«.40 Dahinter ist unschwer der alte Eskapismusvorwurf erkennen, nach dem Kunst nur dann wertvoll ist, wenn sie sich mit der wirklichen Welt beschäftigt.
Es sollte aber mittlerweile klar geworden sein, dass an diesem Bild etwas Grundsätzliches nicht stimmt: schon weil auch die eskapistischsten Phantasien und Weltentwürfe gar nicht die Auseinandersetzung mit der Realität scheuen. Wenn uns die Debatte über Repräsentation eines gelehrt hat, dann doch, dass sich jeder Autor, der sein Süppchen kocht, die Frage gefallen lassen muss, warum er was genau hineingeschnippelt hat. Es muss darauf nicht immer eine klare Antwort geben, aber den LeserInnen wird auffallen, ob sie sich in einem Weltentwurf zu Hause fühlen, ob sie sich mit den Figuren identifizieren können oder eben nicht. Abgestimmt wird ohnehin immer mit den Füßen bzw. mit den Klicks, Rezensionen und Kinotickets.
Phantastische Literatur ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Möglichen und den Beschränkungen des eigenen Denkens. Der Versuch, an Orte zu gelangen, die einem verborgen bleiben, wenn man sich an die sogenannte reale Welt klammert. Phantastische Literaten sind die Realisten einer größeren Realität – und Wissenschaft, Leser und Kritiker sollten sich aufgerufen fühlen, am Gespräch darüber teilzunehmen, anstatt die eskapistische Literatur links liegen zu lassen.
Am Ende seines Essays über die Fairy-Stories stellt Tolkien die Frage, was der ganze Zauber eigentlich soll. Warum beschäftigen wir uns mit Welten, die es nicht gibt? Die es niemals gab und die es aller Wahrscheinlichkeit nach so niemals geben wird? Der entsprechende Abschnitt ist mit »Recovery, Escape, Consolation« überschrieben, und darin behauptet Tolkien, dass gerade die Flucht aus der Realität und das erholsame Verweilen in der Anderswelt es uns ermöglichen, die Realität mit neuen Augen zu betrachten.41
Für Tolkien selbst lag der Trost darin, die Zumutungen der Moderne – »The rawness and ugliness of the modern world«42 – und die Furcht vor der Endlichkeit unseres Lebens abschütteln zu können. Die glückliche Wendung der Ereignisse, die »Eukatastrophe«, die in einer gelungenen Weltschöpfung möglich ist, war für Tolkien nichts Geringeres als ein Vorschein auf die Wiederkunft Christi in unserer Welt: die Erfüllung des Versprechens, dass die Geschichte – unser aller Geschichte – gut ausgeht.
Ganz so weit muss man freilich nicht gehen. Mir persönlich reicht die Einsicht, dass die phantastische Literatur, indem sie uns den Übertritt in eine andere Welt ermöglicht, die routinierte Abwicklung des Alltags unterbricht. Alternativen sichtbar macht. Handlungsspielräume skizziert. Wünsche artikulierbar macht, die ansonsten verborgen bleiben müssten. Und dazu braucht es nur ein wenig Phantasie und die Lust, auf ein Abenteuer auszuziehen, das uns vielleicht, nach überstandener Reise, mit einem anderen und etwas mutigeren Ich konfrontiert. Wir sind nicht allein. Jemand wacht über uns, an einem anderen Ort. Wir sind es selbst.
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1) Dies ist ein Begriff der Phantastik, wie er beispielsweise bei der Phantastik-Bestenliste gepflegt wird, die den Anspruch hat, monatlich eine Top Ten aus der gesamten Bandbreite der phantastischen Literatur inklusive aller Sub-Genres zu erstellen. In der Jury sitzen BloggerInnen, JournalistInnen, KritikerInnen und BuchhändlerInnen. phantastik-bestenliste.de/
2) Auch der Begriff der »Fantasy« kam erst spät auf. Er setzte sich maßgeblich dank der von Lin Carter herausgegebenen Reihe »Ballantine Adult Fantasy Series« durch. Vgl. dazu auch: Helmut W. Pesch: Fantasy. Theorie und Geschichte (Norderstedt, 2017 [1982]), S. 28.
3) Vgl. bspw. https://www.unboundworlds.com/2018/05/the-100-best-fantasy-novels-of-all-time/
oder http://www.fantasybookreview.co.uk/top-100-fantasy-books/ – Listen, die auch die SF-Literatur berücksichtigen, reichen öfter auch mal weiter zurück: https://www.npr.org [diese und alle folgenden Internetseiten wurden zuletzt am 23.10.2018 abgerufen].
4) Wie jüngst die Literaturwissenschaftlerin Katrin Schumacher, »Hobbits, Drachen und Vampire: Warum Fantasy so erfolgreich ist« (Mitteldeutscher Rundfunk, https://www.mdr.de )
5) Vgl. Jakob Schmidt: "Zurück zur Vernunft", Tor Online, 28.8.2017 (https://www.tor-online.de )
6) Die Fantasyautorin Jen Williams hat es am 8.9.2018 auf den Punkt getwittert: »o god there is a lot of that ‚fantasy books should be historically accurate‘ […] Fuuuck OFFFFF. FIRSTLY YOU DON’T KNOW HISTORY MATE + say it with me: FANTASY BOOKS DO NOT NEED TO BE HISTORICALLY ACCURATE BECAUSE THEY ARE NOT HISTORY.«
7) In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau wurde die nigerianisch-amerikanische Autorin Nnedi Okorafor gefragt: »Frau Okorafor, alle Ihre Bücher drehen sich um starke, schwarze Mädchen oder Frauen. Sind das Heldinnen, die Ihnen selbst in Ihrer Jugend gefehlt haben?« Antwort: »O ja. Einer der Gründe, warum ich begann, Fantasy- und Science-Fiction-Literatur zu schreiben, war, dass ich keine komplexen schwarzen Frauenfiguren fand. Ich habe alles Mögliche gelesen. Wann immer ich Science Fiction zur Hand nahm, sah ich nicht eine einzige Figur, die mich spiegelte. Diese Lücke wollte ich füllen.« Frankfurter Rundschau vom 14.11.2017 (http://www.fr.de/kultur/literatur/nnedi-okorafor-fantasy-ist-die-andere-seite-der-realitaet-a-1386486,0#)
8) Sehr schön lässt sich dieser Reflex in dem Video-Interview mit Volker Weidermann beobachten, das im Rahmen der Doku »Phantastische Literatur – oder: wo sich die Geister scheiden« stattgefunden hat (https://www.youtube.com/results?search_query=phantastik+feuilleton).
9) Vgl. beispielsweise die kurze Diskussion des Forschungsstandes, wie er sich auf Wikipedia darstellt: https://de.wikipedia.org/wiki/Phantastik
10) Das würde etwa alle Alternativweltromane betreffen, aber auch Fantasyliteratur, die auf magische Elemente verzichtet, bspw. die Romane von Guy Gavriel Kay oder Seth Dickinson.
11) Vgl. auch Helmut W. Pesch: Fantasy. Theorie und Geschichte, Norderstedt 2017 (1982), S. 11.
12) Jo Walton: »Das ist nur Kulisse«, Tor Online, 2.8.2016 (https://www.tor-online.de/feature/buch/2016/08/jo-walton-das-ist-nur-kulisse-was-bedeutet-mainstream/)
13) Für eine formalistische Herleitung und Definition des Phantastikbegriffs vgl. Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur (Münster, 2010).
14) J. R. R. Tolkien: On Fairy-stories. Hrsg. von Verlyn Flieger and Douglas A. Anderson (London, 2014), S. 32.
15) Ebd.
16) Ebd.
17) Ebd., S. 39.
18) Ebd., S. 47.
19) Ebd., S. 52.
20) Ebd., S. 48.
21) Ebd., S. 61.
22) Ebd., S. 63.
23) The Great American Read, PBS, 10.8.2018, https://www.youtube.com
24) V.E. Schwab: "In Search of Doors", Tor.com, 13.8.2018 (https://www.tor.com)
25) Ebd.
26) Ebd.
27) Ebd.
28) Ebd.
29) Ebd.
30) Ebd.
31) Orson Scott Card: How to write Science Fiction & Fantasy (Cincinnati, 1990), S. 17 f.
32) Ebd., S. 36 ff.
33) Jeff Vandermeer: Wonderbook. The Illustrated Guide to Creating Imaginative Fiction (New York, 2013), S. 211.
34) Patrick Rothfuss im Gespräch mit R. A. Salvatore, Tor.com (https://www.tor.com/2018/10/08/r-a-salvatore-patrick-rothfuss-epic-fantasy-panel-nycc-2018/)
Fun Fact: Rothfuss ist sehr engagiert in einer Non-Profit-Organisation namens »Worldbuilders«, die unter dem Slogan »Geeks doing good« versucht, Geld für humanitäre Zwecke zu sammeln (https://worldbuilders.org/).
35) Vgl. Daniel Kehlmann: "Diese sehr ernsten Scherze", in Ders.: Lob – Über Literatur (Reinbek, 2010).
36) Vgl. Adam Rogers: "The Force will be with us. Always", Wired (https://www.wired.com/2015/11/building-the-star-wars-universe/)
37) Hannah Pilarczyk: "Eine richtig schlechte Idee", Spiegel, 16.5.2018 (http://www.spiegel.de/kultur/kino/solo-a-star-wars-story-filmkritik-so-ist-der-neue-star-wars-film-a-1208096.html)
38) A. D. Jameson: I Find Your Lack of Faith Disturbing, New York 2018, S. 133 ff.
39) Vgl. beispielsweise John Lynch: "Sci-Fi and Fantasy are dominating Netflix", Business Insider, 27.4.2018 (https://www.businessinsider.de/netflix-is-focusing-on-sci-fi-to-meet-increasing-demand-data-2018-4?r=US&IR=T)
40) Arwa Mahdawi: "Netflix Addiction is real – We are amusing ourselves to death", Guardian, 20.6.2018 (https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/jun/20/netflix-addiction-is-real-we-are-entertaining-ourselves-to-death)
41) Tolkien, On Fairy-Stories, S. 66 ff.
42) Ebd., S. 72.