Judith Vogt, 18.10.2019
Jüngst erschien mit "Wasteland" der erste in gendergerechter Sprache verfasste SF-Roman aus Deutschland. Co-Autorin Judith C. Vogt erzählt hier über die Hintergründe und Herausforderungen, Gender Binary im Schreiben von Romanen zu überwinden.
Als mein Gatte und Co-Autor Christian und ich im vergangenen Jahr mit der Arbeit an unserem postapokalyptischen Near-Future-Roman „Wasteland“ begannen, schälten sich, wie immer beim Schreiben, Themen heraus, die so nicht geplant waren. Protagonist Zeeto lebt zum Beispiel in einer kleinen, nicht den marodierenden Banden unterworfenen Gemeinschaft, die Heteronormatitivät, also die Vorstellung, dass nur Heterosexualität „normal“ ist, und das „Gender Binary“, also die Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gibt, mitsamt dem Rest unserer Zeit hinter sich gelassen haben. In „Wasteland“, etwa 50 Jahre in der Zukunft, wurde die Welt, wie wir sie kennen, gewaltsam abgeschafft, Klimakatastrophen, Insektensterben und andere menschengemachte Apokalypsen haben Europa heimgesucht, und Menschen leben nun auf andere Weise miteinander, in herumziehenden Großfamilien, als hierarchische Gangs oder eben in kleinen Anarcho-Kommunen.
Irgendwie kam uns dabei der Gedanke, dass es nur passend wäre, wenn sich dieses „Gender Binary“ auch nicht mehr im Text spiegeln würde. Wenn wir es schaffen würden, nicht nur Männer und generisch mitgemeinte Frauen in der Sprache abzubilden, sondern auch weitere geschlechtliche Vielfalt. Warum ich das besonders hervorhebe?
Es gibt mehr als zwei Geschlechter
Wenn wir in Sachtexten mit dem Unterstrich oder dem Gendersternchen geschlechtergerecht formulieren, meinen wir damit nicht nur Männer und Frauen, sondern auch alle anderen geschlechtlichen Identitäten. Leute, die sich auf einem Spektrum zwischen männlich und weiblich identifizieren oder gleich ganz außerhalb davon. Oder heute so und nächste Woche anders. Hätten wir im Roman Formulierungen wie „alle Marktbewohnerinnen und Marktbewohner“ gewählt, wäre nicht nur den Text ganz schön aufgebläht, es wäre auch nach wie vor nicht sonderlich inklusiv gewesen.
Ich schreibe an sich ganz gerne mit Gendersternchen, wie Leser*innen meiner Texte hier auf TOR Online wohl schon mitbekommen haben, aber in einem Roman würde mir das, glaube ich, 2019 kein*e Lektor*in durchgehen lassen. (Auch, wenn ich es nicht für ausgeschlossen halte, dass wir irgendwann auch in Prosa und wörtlicher Rede einfach mit Sternchen bzw. glottalem Verschlusslaut schreiben und sprechen oder etwas anderes finden, das mehr tut, als nur mitzumeinen.)
Ob uns gelingen würde, einen Roman in geschlechtergerechter Sprache zu schreiben, wussten wir nicht, als wir damit angefangen haben. Doch es war ganz bewusst ein Experiment.
Keine Garantie
Und ein Experiment ist es auch nach wie vor. Obwohl unsere Lektorin Hanka Leo ganz besonders aufmerksam war, und auch der Verlag die Korrektor*innen entsprechend briefte, kann es natürlich sein, dass ihr im Roman noch versehentlich durchgerutschte generische Maskulina findet. Das ist einfach sehr tief in unserer Sprache verhaftet, aber ich weiß, dass auch andere Kolleginnen an diesem Thema arbeiten und versuchen, an der Art und Weise, wie wir Sprache denken und wen wir bei Sprache mitdenken, zu rütteln. Es ist nicht nur Arbeit, es macht auch Spaß, und ich denke, es bringt uns voran. Und es hilft definitiv dabei, beim Schreiben nicht mehr als erstes an männliche Figuren zu denken, wenn wieder ein neuer Nebencharakter auftaucht, und das wiederum bringt vor allen Dingen Vielfalt in Geschichten.
Ein kleiner Werkstattbericht
Aber jetzt mal Butter bei die Fische: Wie soll das gehen, dieses gendergerechte Schreiben? Nun, es gibt auch im Deutschen eine Menge Wörter, die geschlechtsneutral sind, zum Beispiel Leute, Personen, Menschen, Mitglieder, Kinder, Erwachsene und Vieles, was Personen schon mit Attributen beschreibt, wie Herumziehende, Bewaffnete usw. (Das berühmteste Beispiel sind wohl die Studierenden, ein Wort, das ins Jahr 1811 zurückreicht. Leider gibt’s bei „Wasteland“ keine Universitäten mehr!)
Dann bringt man am besten ein bisschen Lust am Experimentieren und ein paar kleine Kniffe mit, die sich immer wieder anwenden lassen, und mit denen man die häufigsten Klippen umschiffen kann. „Wächter“ werden zu „Wachhabenden“, „Motorradfahrer“ zu „Gangmitgliedern“, „Soldaten“ zu „Trupps“. Werden Leute in diesem Trupp eingehender beschrieben, wird eine Frau natürlich zur Soldatin und ein Mann zum Soldaten. Was wird ein nichtbinärer Mensch? Dafür fehlt uns leider im Deutschen bislang ein Wort oder eine Endung. Wir haben keinen Artikel für nichtbinäre Menschen, denn auf den sächlichen Artikel „das“ lassen wir uns besser in diesem Kontext gar nicht erst ein.
Dann kann man den Charakter natürlich als „Mensch im Soldatenoutfit“ beschreiben. Was die Pronomen angeht, habe ich mich bei der Übersetzung von Becky Chambers „Wayfarer“-Reihe bedient, die bei Fischer TOR erschienen ist. Dort gibt es das zusammengesetzte Pronomen „ser“ für nonbinäre Charaktere. Ein weiteres Neo-Pronomen wäre „xier“, das sich beispielsweise in der nonbinär-wiki befindet (siehe https://nibi.space/pronomen). Kleine Anekdote: Bei „Wasteland“ sind nonbinäre Menschen nicht nur in der Anarcho-Kommune anerkannt, auch die hierarchische Gang der Brokes findet es ganz selbstverständlich, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt.
Aber auch abseits von der Beschreibung von Personen gibt es im Deutschen eine ganze Reihe von Formulierungen, die generisch männlich sind – was natürlich erst einmal nicht schlimm ist, es ist letztlich nur ein grammatisches Geschlecht. Dazu hab ich mir aber dennoch ein gewisses Repertoire an „Workarounds“ zusammengestellt.
Zum Beispiel lässt sich „Jeder, der“ durch „Alle, die“ ersetzen. „Keiner, der“ ist etwas komplizierter, denn auch auf das Wort „Niemand“ würde man ein „der“ oder zumindest „die“ folgen lassen. Da kann man ein bisschen umformulieren, zum Beispiel: „Niemand, der das je erlebt hatte, würde so etwas tun“ könnte zu „Niemand würde nach so einem Erlebnis so etwas tun“ werden. Klingt umständlich und überkompliziert? Wenn einmal dieses gewisse Repertoire an Umformulierungen vorhanden ist, geht es eigentlich ganz schnell.
Kein Dogma
Und bevor jetzt der Kommentar kommt, dass ich nun alle zu gendergerechtem Schreiben zwingen will: Das will ich natürlich nicht. Ich war neugierig, ob es in Prosa gelingen kann, habe jetzt meine Antwort und habe eine für mich bereichernde Erfahrung gemacht. Wenn sich mehr Schreibende davon inspirieren lassen, würde ich mich total über Austausch und andere Erfahrungsberichte freuen. Ich hab selbst noch einige Dinge gefunden, an denen ich gern arbeiten würde – man kann das alles sicher noch optimieren! Zum Beispiel kategorisieren auch die beiden Ich-Erzählenden des Romans Menschen oft noch in Geschlechter, weil sie vom Äußeren darauf schließen. Das macht zum Beispiel Ann Leckie in ihrer „Maschinen“-Trilogie anders und beschreibt das Geschlecht von Personen einfach gar nicht mehr. Aber deshalb hat Frau Leckie auch einen Hugo und wir nicht.
Sprachwandel
So oder so gibt’s mittlerweile einige Studien (www.tagesspiegel.de) dazu, dass es sich positiv auswirkt, wenn Menschen sich durch Sprache angesprochen fühlen. Was wir schriftlich und mündlich dafür tun können, ist alles andere als Hexenwerk. Letztlich wird sich Sprache immer verändern, und es ist für alle, die mit Sprache arbeiten und Freude an Sprache haben, doch abenteuerlich, es mitzuerleben.
Im Englischen beispielsweise wird mittlerweile oft das schon bei Shakespeare zu findende Singular-„they“ verwendet, wenn man über eine Person spricht, die nonbinär ist, deren Geschlecht man nicht kennt oder nicht benennen möchte – auch in Romanen, aber auch bereits in der Alltagssprache. Und natürlich kommen auch englische Substantive aus dem generischen Maskulinum – ich habe zum Beispiel in der Schule noch gelernt, dass die weibliche Form von „teacher“ „lady-teacher“ sei (das Männliche also, wie im Deutschen, als Norm; das Weibliche als Abweichung, auch wenn „lady-teacher“ wohl nicht wirklich je ein gebräuchliches Wort im englischsprachigen Raum war. Hoffe ich.). Doch im englischsprachigen Raum reclaimen sich Menschen aller Geschlechter diese Form und fordern damit das Neutrale ein – „actress“ wird immer häufiger zu „actor“, und durch den Artikel „the“ ist es wesentlich einfacher, einen Begriff einfach neutral zu verstehen, wenn ein entsprechender Wandel im Denken einsetzt. Wir haben es im Deutschen etwas schwerer – und die romanischen Sprachen stehen noch vor ganz anderen Herausforderungen. Aber wir sind kreativ, und wir werden auch und gerade in unserer Sprache kreativ bleiben.
Ich bin zuversichtlich, dass wir Phantast*innen ganz vorn mit dabei sein werden!