BUCH
Markus Mäurer, 11.06.2020
Bereits seit über 100 Jahren schreiben Frauen deutschsprachige Science Fiction. Wenn auch oft (von den Männern) übersehen, sind sie schon immer im Genre präsent. Wir stellen die wichtigsten und einflussreichsten deutschsprachigen SF-Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts vor.
Dieser Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der Fokus legt auf jenen Autorinnen, die hauptsächlich in diesem Genre tätig waren, erwähnt werden aber auch jene, die mit einzelnen Werken besonders großen Einfluss ausübten.
Im letzten Jahr kam auf Twitter die Frage nach deutschsprachigen Science-Fiction-Autorinnen auf, woraufhin SF-Autorin Theresa Hannig damit begann, eine entsprechende Liste auf Wikipedia zu erstellen. Der erste Löschantrag lies nicht lange auf sich warten. Daraus entwickelte sich eine Affäre, die viel Aufmerksamkeit in den Medien erhielt. Nun bin ich kein Freund der deutschen Wikipedia und deren Moderatoren, zeitlich fiel es aber mit meiner statistischen Auswertung der 100 besten SF-Romane auf Tor Online zusammen.
20 Prozent der dort vertretenen Titel stammen von Frauen, was wohl in etwa das Verhältnis der SF-Veröffentlichungen von Männern und Frauen auf dem englischsprachigen Markt widerspiegelt. Als einzige deutschsprachige SF-Autorin ist Angela Steinmüller auf der Liste vertreten, und das auch nur im Gespann mit ihrem Mann Karlheinz. Schaut man sich die wichtigsten deutschsprachigen Science-Fiction-Preise an, wird man feststellen, dass von 33 Preisträgern in der Romankategorie des Deutschen Science Fiction Preises (DSFP) nur drei Frauen sind. Beim Kurd Laßwitz Preis (KLP) ist unter den 37 Gewinnern nur eine Frau. Bei den Kurzgeschichten sieht es nicht besser aus, auch wenn erfreulicherweise Jacqueline Montemurri gerade dieses Jahr für "Koloss aus dem Orbit" ausgezeichnet wurde. Frauen/AutorInnen sind in der deutschsprachigen Science Fiction massiv unterrepräsentiert und leider auch kaum sichtbar. Das hat sich in den letzten Jahren ein wenig geändert, aber dem englischsprachigen Buchmarkt hinkt man hier immer noch um Jahrzehnte hinterher.
Woran das liegen könnte, wird sicher verschiedene Ursachen haben. Darauf möchte ich hier jetzt nicht näher eingehen, sondern vielmehr aufzeigen, dass Frauen schon seit über 100 Jahren deutschsprachige Science Fiction schreiben und im Genre, wenn auch von uns Männern oft übersehen, stets präsent waren.
Die Anfänge der weiblichen Science Fiction
Das "weiblich" in der Überschrift bezieht sich rein auf das Geschlecht der AutorInnen, nicht auf deren Werke. Nicht, dass hier noch jemand auf die Idee kommt, da "weibische Science-Fiction" hineinzulesen, wie man es über Jahrzehnte gemacht hat und leider auch teilweise immer noch tut. Dabei stammt der Urknall der Science Fiction aus der Feder einer jungen Frau. 1818 veröffentlichte sie ihren Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus noch anonym. Auf der ersten deutschsprachigen Ausgabe von 1912 steht nur der Name Shelley. Mit diesem Werk nahm Mary Shelley den klassischen Schauerroman und entwickelte ihn mit der Wissenschaft des aufkommenden Industriezeitalters zu einem fortschrittskritischen Science-Fiction-Roman über die ethischen Grenzen der Wissenschaft. Also nichts mit Romantik und Herz-Schmerz. Frankenstein ist ein hochpolitischer und gesellschaftskritischer Roman.
Bei der Recherche musste ich zu meinem eigenen Erstaunen feststellen, dass es schon lange vor Thea von Harbous Metropolis von 1926 (dazu später mehr) Science Fiction bzw. Zukunftsgeschichten von Frauen aus dem deutschsprachigen Raum gab. Das Älteste, was mir von der Schwarmintelligenz des Internets zugetragen wurde, ist Reisen in den Mond, in mehrere Sterne und die Sonne aus dem Jahr 1834. Angeblich wird der Text einer Philippine D. Bäuerle zugeschrieben. Ob es diese Somnambulistin aber wirklich gegeben hat, ist allerdings fraglich. Zunächst hatte ich den Text dem Untergenre der Mondreise zugeordnet, doch es handelt sich eher um eine esoterische Traumreise.
Mit der Zukunft beschäftigte sich Bertha von Suttner in Das Maschinenalter; Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit von 1891, die damals ebenfalls anonym auftrat. Solche Gedanken und Werke ziemten sich wohl nicht für Frauen. Bei dem Buch handelt es sich allerdings nicht um einen fiktionalen Text, sondern eine Sammlung von Vorträgen über die damalige Gesellschaft und wie sie sich weiterentwickeln könnte. Von Suttner war eine österreichische Pazifistin (Die Waffen nieder, 1889) und Friedensforscherin, die 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt. 1911 erschien Der Menschheit Hochgedanken, ein Roman aus nächster Zukunft, in dem erstmals von der Schreckensvision einer atomaren Waffe erzählt wird. (Zur Erinnerung, die erste Atombombe wurde 1945 getestet.)
Konkrete Utopien in Form von Kurzgeschichten aus Frauenhand aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg sind fast völlig in Vergessenheit geraten. Da ist es eigentlich löblich, wenn engagierte Verleger dafür sorgen, dass dies doch nicht so ganz der Fall bleiben wird. In seinem Band Die Frau der Zukunft vor 100 Jahren. Fünf vergessene feministische Utopien aus den Jahren 1899-1910 zur Emanzipation und Frauenwelt der Zukunft hat Detlev Münch fünf solcher Kurztexte in einem Band versammelt, die allerdings nicht alle von deutschsprachigen Autorinnen stammen. Auch ist wohl nicht bei allen in diesem Band enthaltenen Texten klar, ob sie wirklich von Frauen stammen.
Wobei zu bezweifeln ist, ob diese Texte wirklich feministisch ausfallen, oder doch nicht eher antifeministisch, wie Rolf Löchel in seiner Kritik aufzeigt und auch dem Herausgeber, in dessen Nachwort eine fragwürdige Motivation und Haltung zum Thema Gleichberechtigung nachweist. Bei Therese Haupts Kurzgeschichte soll es sich um eine antifeministische Dystopie handeln, deren Protagonistin - eine Feministin - durch Hypnose im Jahr 2499 und in einer Gesellschaft mit vertauschten Geschlechterrollen landet, was sie nach ihrer Rückkehr vom Feminismus heilt.
Ebenso kritisch betrachtet Löchel Hans Esselborns Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch-utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction. Und listet dankenswerterweise jene Bücher auf, die im Werk fehlen: Bereits 1905 erschien Helene Judeichs feministisches Zukunftsbuch Neugermanien: Zukunftsschwank in 2 Akten, aus d. Jahre 2075. 1919 Helene Burmaz’ Erzählung Die Marsbewohner, die "Geschlecht und Fortpflanzung von Aliens" thematisiert. Und 1921 Marga Passons (Blaubart) "fundamentalreligiösem Endzeitroman" Der rote Stern: Ein Weltuntergangsroman.
Ebenfalls erwähnenswert wären da noch Marie Vaertinos (Vaerting?) Die zukünftige Welt: Traum eines Physikers von 1908, die Hans Frey in seinem Buch Fortschritt und Fiasko: Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction. Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810-1918 als "vollends groteske Geschichte" bezeichnet. Und Helene Voigts Anno Domini 2000 von 1909.