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Alles, was du über Werwölfe wissen musst

Alles, was du über Werwölfe wissen musst
© navarre/pixabay

BUCH

 

Alessandra Reß, 12.11.2020

Sind Werwölfe wirklich nur die uncoolen kleinen Brüder der Vampire? Schauen wir mal näher auf dieses Wesen, das seit Jahrhunderten fester Bestandteil des europäischen Monsterkompendiums ist …

Im 21. Jahrhundert könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass Werwölfe eher zur zweiten Monsterliga gehören. In der Twilight-Saga von Stephenie Meyer spielte Werwolf Jacob Black jedenfalls nur die zweite Geige hinter Vampir Edward. Und auch in dem nachfolgenden Boom, den die Saga mit sich brachte und der vielen Monstern einen zweiten Frühling bescherte, mussten die Werwölfe zumindest auf den ersten Blick hinter ihren Cousins mit den spitzen Eckzähnen zurückstehen.

Mit Gürtel und Salbe zur Verwandlung

Im Spätmittelalter sah das noch anders aus. Schon zuvor waren Wolfswandler*innen nichts Unbekanntes: Sie tauchen im Gilgamesch-Epos ebenso auf wie in der Völsungsaga, und von Nordamerika über das antike Griechenland bis nach Japan sind entsprechende Vorstellungen überall dort zu finden, wo Wölfe vorkamen. Aber auch wenn beispielsweise im 11. Jahrhundert Lykanthropie in Worms bereits mit einem „Bußgeld“ von zehn Tagen bei Wasser und Brot bedacht worden sein soll, waren die Gestaltwandelnden nicht zwangsläufig negativ konnotiert.

Das änderte sich mit den mitteleuropäischen Hexenprozessen an der Schwelle zwischen Spätmittelalter und Neuzeit. 1450 wurde beispielsweise in Luzern Else von Miersburg als Hexe verbrannt; u. a. wurde ihr vorgeworfen, auf Werwölfen und Werfüchsen geritten zu sein. Während manche zeitgenössische Gelehrte davon ausgingen, die Lykanthropie sei Ausdruck eines Wahns, vermuteten andere, dass verzauberte Gürtel oder Salben die Verwandlung auslösten.

Historische Werwölfe von Kattryna Simon von Steinberg bis zur Familie Gandillon

Für einiges Aufsehen sorgte 1459 der Prozess gegen Kattryna Simon von Steinberg, die als Anführerin eines fünfköpfigen Zirkels männlicher und weiblicher Hexen galt. Von Steinberg und ihren Leuten wurde u. a. vorgeworfen, sich in Werwölfe verwandelt und in dieser Gestalt Lawinen ausgelöst zu haben.

Weit über die damaligen Landesgrenzen hinaus bekannt wurde auch der Fall des Werwolfs Peter Stubbe aus Bedburg bei Köln, der am 31. Oktober 1589 für seine Verbrechen (u. a. Kannibalismus und Inzest) hingerichtet wurde.

Rund zehn Jahre später wurden vier Mitglieder der Familie Gandillon als Werwölfe in St. Claude, Frankreich verbrannt. Anfang des 17. Jahrhunderts wiederum gestand der damals 14-jährige Schafhirte Jean Grenier, in Werwolfgestalt fünfzig Kinder ermordet zu haben. Er entkam dem Scheiterhaufen, wurde aber in ein Kloster verbannt.

Die Bestie von Gévaudan: Vorbild vieler Fantasy-Romane

1764 schließlich tauchten erstmals Berichte über die „Bestie von Gévaudan“ auf, den wohl bekanntesten vermeintlich realen Werwolf bzw. loup-garou. Bis zu 99 Menschen sollen dem Ungeheuer in drei Jahren zum Opfer gefallen sein, zahlreiche weitere wurden von ihm verletzt. Als es 1967 erlegt und präsentiert wurde, zerstreute das anfangs die Werwolf-Gerüchte. Allerdings gehen bis heute die Vermutungen auseinander, um was für ein Tier es sich genau handelte – neben einem ungewöhnlich großen und menschenhungrigen Wolf wurde beispielsweise auch eine Hyäne als Übeltäter in Betracht gezogen. Die Unklarheiten haben nicht nur zu Verschwörungstheorien, sondern auch zu verschiedenen popkulturellen Werken inspiriert. Zu den bekanntesten gehören der französische Film Der Pakt der Wölfe, aber auch Romane wie Ritus und Sanctum von Markus Heitz, Nina Blazons Wolfszeit oder Lynn Ravens Werwolf.

Entfremdung und liminale Transformation in der Schauerromantik

In der Schauerliteratur des 19. Jahrhunderts und Werken wie Charles Maturins The Albigenses (1824) galt Lykanthropie eher als Produkt psychischer Krankheiten. Oft standen die Werwölfe dabei als Sinnbild für die Entfremdung der Menschheit von der Natur – ein Motiv, das Tanith Lee noch 1984 in ihrem Werwolf-Roman Die Kinder der Wölfe aufgreifen sollte. In Groschenromanen wie George W. M. Reynolds‘ Wagner, the Wehr-Wolf (1846/1847) wurden allegorische Momente allerdings gänzlich ausgeklammert, und die Leserschaft folgte dem deutschen Werwolf Wagner und dessen Gefährtin Nisida bei ihren Horror-Abenteuern.

Sabine Baring-Goulds Sachtext zum Thema (The Book of Werewolves, 1865) diente wiederum später Bram Stoker als Quelle für Dracula (1897) – vermutlich einer der Aspekte, weshalb Werwölfe und Vampire in Folklore und Popkultur oft miteinander verschmelzen.

1890 erschien The Were-Wolf aus der Feder der Frauenrechtlerin Clemence Housman. Das Buch ist u. a. dadurch interessant, dass es eine weibliche Werwölfin einführt. Während Vampire zumeist weiblich gedacht wurden, galt der Werwolf zumindest in der Literatur bis dahin als typisch männliches Monster. Vermehrter Haarwuchs, die Entdeckung neuer Stärke und sexuelle Triebe: der Werwolf lässt sich leicht als Versinnbildlichung der männlichen Transformation während der Pubertät lesen. Andererseits können die Mondphasen und die damit einhergehende Verwandlung auch als Allegorie auf den Menstruationszyklus betrachtet werden; diese Interpretation wurde allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts populär.

Der Wolfsmensch als Wegbereiter eines neuen Werwolfbildes

Zu größerer (pop-)kultureller Bedeutung kamen die Werwölfe Anfang des 20. Jahrhunderts durch das damals neue Medium Film. Schon in Kurzfilmen wie The Werewolf (1913) und The White Wolf (1914) wurden die Werwölfe als Monster auf die Leinwand losgelassen. Der erste längere Werwolf-Film war 1935 The Werewolf of London – der, auch wenn der Name es vermuten lässt, nicht in unmittelbarem Zusammenhang zu Guy Endorses Roman The Werewolf of Paris (1933) steht, obwohl er von dessen Popularität profitiert haben dürfte.

1941 erschien schließlich The Wolf Man (dt. auch Der Wolfsmensch). Der Film etablierte nicht nur endgültig den Werwolf als Kinomonster (das in Fortsetzungen übrigens auch auf Dracula und Frankenstein treffen durfte), sondern brachte auch erstmals die bis dahin den Vampiren vorbehaltene Vorstellung ins Spiel, wonach sich von Werwölfen gebissene Menschen wiederum selbst verwandeln.

Der Werwolf als Monster und Sympath

Die nächste Entwicklungsstufe erreichte der Werwolf in den 1980er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt schwamm die Horrorliteratur auf einer Erfolgswelle, die in den 1970er Jahren durch Stephen Kings Carrie und Brennen muss Salem ausgelöst worden war. Folgerichtig gab es natürlich auch einen Werwolf-Roman von Stephen King (Das Jahr des Werwolfs, 1984; 1985 als Der Werwolf von Tarker Mills verfilmt). Andere populäre Werwolf-Horrorstreifen jener Zeit waren Das Tier / The Howling oder American Werewolf (beide 1981).

Allerdings stellten damals Anne Rice und Chelsea Quinn Yarbro gleichzeitig die Weichen für die Dark Fantasy, die bald nicht mehr nur den Vampiren, sondern eben auch Werwölfen Selbstreflexion zugestand. In ihrem Essay „Contemporary Werewolves“ stellen Kaya Franck und Sam George heraus, dass fortan zwei Werwolf-Archetypen die Bildfläche dominierten: das Monster und der Sympath.

Der „sympathische“ Werwolf brachte dabei auch eine feministische Umdeutung mit sich, die in dieser Form bislang nur bei Clemence Housman aufgeblitzt war. Quasi deren Nachfolge trat nun insbesondere Tanith Lee an: In deren  Geschichtensammlung Rot wie Blut (engl. 1983, dt. Veröffentlichung 1985) erschien die Erzählung „Wolfland“, eine Neuinterpretation des Rotkäppchen-Märchens. Nur trifft Protagonistin Lisel hier nicht auf einen bösen Werwolf. Stattdessen entpuppt sich ihre Großmutter selbst als Werwölfin, die ihre Gabe genutzt hat, um sich aus einer missbräuchlichen Beziehung zu retten. Nicht unähnlich ist der Film Die Zeit der Wölfe, in dem die Protagonistin beschließt, selbst zu einer Werwölfin zu werden, um mit ihrem Werwolf-Geliebten zusammen sein zu können, was sich als Akzeptanz der eigenen Sexualität lesen lässt. Das Skript stammte von Angela Carter („Blaubarts Zimmer“), Regisseur war Neil Jordan, der später auch mit Interview mit einem Vampir und Byzantium zwei neue Vampirtypen auf die Leinwand bringen sollte.

Coming-of-Age-Werwölfe

Die Werwölfe wurden also selbstreflexiver, zuweilen romantischer – aber auch jünger: Schon 1985 erschien mit Teen Wolf eine Coming-of-Age-Fantasykomödie mit Werwolf-Protagonisten. 2000 wurde der damals sehr populäre Streifen Ginger Snaps veröffentlicht, der einerseits klassischen Strukturen des Monsterfilms folgt, andererseits aber auch eine Coming-of-Age-Story für die Protagonistin bereithält. Und selbst besagter Jacob Black aus der Twilight-Saga (ab 2005) durchläuft seine Transformation parallel zur liminalen Erfahrung des Erwachsenwerdens.

Mit Twilight brach dann auch der eingangs erwähnte Young-Adult-Monsterboom aus. Populäre Beispiele rund um Werwölfe wurden beispielsweise Maggie Stiefvaters The Wolves of Mercy Falls-Saga (ab 2010), das vage mit Rotkäppchen-Elementen spielende Blutrote Schwestern von Jackson Pearce (2010) oder die Kalix MacRinnalch-Reihe von Martin Millar, die auch Inhalte wie Magersucht, Angststörungen und Drogenprobleme thematisiert. Ein erwachseneres, an Erotik interessiertes Publikum wurde wiederum mit Reihen wie Kelley Armstrongs Bitten / Die Nacht der Wölfin (ab 2002) und Patricia Briggs Mercy Thompson (ab 2006) bedient.

Gestaltwandelnde und Werwesen: Kontrolle und Zwang

Mercy Thompson ist auch deshalb bemerkenswert, weil in der Serie nicht nur Werwölfe, sondern auch andere Skinwalker (Gestaltwandler) auftauchen. Beispielsweise kann sich die Titelheldin in eine Kojotin verwandeln. Die Unterscheidung in Werwesen und Gestaltwandelnde taucht in mehreren Serien auf, wobei die Werwesen – die ihre Kräfte in der Regel nicht kontrollieren können – gegenüber „bewussten“ Gestaltwandler*innen oft sozial unterdrückt werden. Solche Strukturen finden sich in Twilight, in Charlaine Harris‘ Sookie Stackhouse, aber auch in der Harry Potter-Serie mit der Unterscheidung in Werwölfe und Animagi.

Ohnehin wurden im 21. Jahrhundert Werwölfe oft im Kontext klassizistischer Überlegungen genutzt. Das findet sich in der Underworld-Saga (ab 2003), in der sich die Werwölfe von der Herrschaft durch die Vampire emanzipieren müssen, aber auch in Romanen wie Benjamin Percys Red Moon (2013), Toby Marlows Sharp Teeth (2009) oder Glen Duncans verstörendem Der letzte Werwolf (2013). Immer wieder wird das auch mit Fragen des Menschseins und der Fremdheit verbunden – am vielleicht auffälligsten mit der BBC-Serie Being Human (ab 2011), aber auch in Werken wie Dog Soldiers (2002).

Alles über WerwölfeAll das zeigt: Auch wenn Werwölfe vielleicht nicht ganz so populär geworden sind wie Vampire, so stehen sie ihnen doch in ihrer Vielfalt in nichts nach. Und ihre Auftritte in Comics und Games haben wir damit ja noch nicht mal angesprochen …

 

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/