BUCH
Alessandra Reß, 22.11.2020
Smaug und Mushu, Fuchur und Tabaluga, Saphira und Drogon: Die Anzahl prominenter Fantasy-Drachen ist riesig und reicht vom arroganten Schatzhüter über die treue Gefährtin bis zum gefürchteten Zerstörer. Bei dieser großen Varianz kann man sich schon mal fragen – was macht ihn denn nun eigentlich aus, den Standard-Drachen?
Hic sunt dracones – hier sind Drachen!
Dieser Hinweis findet sich vielfach auf alten Karten, oft verbunden mit Illustrationen von Seeschlangen und anderen Ungeheuern, um unerforschtes (See-)Terrain zu markieren. Gemessen an der großen Anzahl solcher Karten, müsste man an ziemlich vielen Orten auf Drachen treffen können. Und tatsächlich haben sich die geflügelten Riesenechsen im Laufe der Geschichte als sehr kosmopolitisch erwiesen. Von Australien über China, von Ecuador bis Ägypten, von Albanien bis zu den britischen Inseln lassen sich auf allen bewohnten Kontinenten Mythen, Sagen und Märchen von ihnen finden.
Mal die Sonne, mal das Chaos: Dracheninterpretationen
In Schöpfungsmythen repräsentieren sie dabei oft das Urchaos, das vom Helden gebändigt werden muss. Auch in der christlichen Deutung kommen die Drachen nicht allzu gut weg, hier stehen sie für die Personifikation des Bösen und als Verbündete Luzifers. Positivere Interpretationen gehen dagegen von Drachen als Sinnbild wahlweise für Sonne oder Mond, Natur oder Erleuchtung, Wissen oder Fruchtbarkeit aus. Während sich viele andere Wesen leicht in den Gut-/Böse-Dualismus einordnen lassen, ist das hier also gar nicht so einfach.
Und auch in der oben gewählten Bezeichnung von Drachen als „geflügelte Riesenechsen“ muss man vorsichtig sein. Denn während der typische Fantasydrache von heute als eben solche durchgeht, ist das historisch nicht unbedingt gegeben. Neben geflügelten Krokodilen schafften es nämlich auch allerhand Riesenwürmer und Seeschlangen, in die Drachenklassifikation aufzusteigen – nicht umsonst stammt der Begriff „Drache“ vom altgriechischen drakōn ab, was sich sowohl mit „Schlange“ als auch mit „scharf sehend“ übersetzen lässt.
Drachen als Urenkel der Dinosaurier?
Ist also jede mythische Schlange als Drache definierbar? Ganz so einfach ist es wiederum auch nicht, aber dazu später. Erst einmal können wir festhalten, dass Drachenartige auf jeden Fall ziemlich munter über den Erdball verstreut sind. Und bei allen Unterschieden bestehen doch zumindest in Europa, Asien und Afrika zugleich bemerkenswerte optische Gemeinsamkeiten. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass es sich beim Drachen um eine Importware handelt, die lokale Varianten wie z. B. den Lindwurm ersetzt hat; die Meinungen gehen allerdings auseinander, ob der Urdrache aus Mesopotamien, dem südlichen Afrika oder China stammt.
Es könnte aber auch noch einen anderen Grund für die optischen Gemeinsamkeiten geben: Zur Schau gestellte Drachenskelette erwiesen sich vielfach als Mammut- oder Dinosaurierfossilien und könnten entsprechend eine starke Inspiration für Drachenerzählungen gewesen sein.
Hauptsache kein Löwenhaupt
Okay, aber wenn wir die Theorie mit den Dinosaurierurenkeln mal außer Acht lassen – was ist ein Drache denn nun genau?
Im Laufe der Zeit gab es immer mal wieder Versuche, diese Wesen zu definieren oder wenigstens zu klassifizieren. Auf allzu viel Gegenliebe ist das allerdings nicht gestoßen, denn obwohl jeder beim Wort „Drache“ unmittelbar ein Bild im Kopf hat, können die Details sehr variieren – und wer will da schon entscheiden, was ein richtiger und was ein falscher Drache ist?
Ditte und Giovanni Bandini haben sich für „Das Drachenbuch“, einem umfassenden Blick auf Geschichte und Wesen der Drachen, mit vielen der Definitionen auseinandergesetzt und sie letztlich auf den folgenden, vorsichtigen gemeinsamen Nenner gebracht:
„Drachen [sind] solche Wesen, die einen mehr oder weniger schlangen- oder reptilienartigen Körper besitzen, sich aber von dem entsprechenden „normalen“ Tier durch ungewöhnliche Größe und/oder artfremde Zutaten wie Beine, Flügel, Hörner, Ohren und dergleichen mehr unterscheiden“ (siehe Bandini, Ditte und Giovanni: Das Drachenbuch [München: dtv, 2002], S. 37).
Zudem setzen sich beide dafür ein, Drachen nicht als Mischwesen zu begreifen (Ausnahmen bestätigen die Regel!), wodurch alle Schlangenartigen mit Löwenköpfen oder Skorpionschwänzen aus der Definition herausfallen.
Hungrige Drachen
Mit dieser optischen Beschreibung sollten auch die meisten Fantasydrachen gut leben können. Aber ein Drache lebt ja nicht nur von seinen visuellen Komponenten, sondern auch von bestimmten Charakterzügen und magischen Fähigkeiten. Da wäre beispielsweise der gewaltige Appetit, der insbesondere in europäischen Sagen oft den Stein des Anstoßes mit menschlichen Anwohnern bedeutet. Immerhin frisst so ein Drache gerne mal ganze Schafherden weg! In manchen Varianten ist der Drache zwar vegetarischer veranlagt und bevorzugt Milch, aber auch hier verlangt er nach solchen Mengen, dass die in der Nähe lebenden Menschen darben müssen.
Menschliche Drachen
Auf die Dauer ist so ein Appetit natürlich auch für Drachen unpraktisch. Überhaupt ist für ihn seine immense Größe nicht immer nur von Vorteil, weshalb manche Exemplare die nützliche Fähigkeit besitzen, bei Bedarf zusammenzuschrumpfen. Andere wiederum können die Gestalt wechseln und so beispielsweise auch unerkannt zwischen Menschen wandeln. Dieses Motiv hat es oft in die Fantasyliteratur geschafft, etwa in Rachel Hartmanns Serafina-Serie (ab 2012) oder R. A. MacAvoys Stelldichein beim schwarzen Drachen (1983). Genau umgekehrt ist es dagegen in Gordon R. Dicksons Drachenritter-Zyklus (ab 1976), wo sich der Protagonist (allerdings nicht ganz freiwillig) im Körper eines Drachen wiederfindet.
Apropos „nicht ganz freiwillig“: In manchen Sagen handelt es sich beim Drachendasein um einen Fluch, der einen Prinzen oder eine Prinzessin, seltener auch normale Bürger ereilt. Von dieser Problematik können in der Fantasy u. a. der Protagonist aus Geraldine McCaughreans Fires‘ Astonishment (1990) und diverse Figuren aus C. S. Lewis‘ Die Chroniken von Narnia (ab 1939) ein Lied singen.
Reiche Drachen
Aber zurück zu den ausgewachsenen Exemplaren mit dem entsprechend ausgewachsenen Appetit: Wenn diese Drachen nicht gerade am Fressen sind, schlafen sie meistens oder erfreuen sich an ihren Schätzen.
Es ist einigermaßen bemerkenswert, dass von allen sagenhaften Dracheneigenschaften ausgerechnet die des Schatzhüters in der Fantasy noch immer so verbreitet ist. Eine Mitschuld daran könnten – wie könnte es anders sein? – Tolkien und C. S. Lewis haben. Tolkiens wohl prominenteste Drachenschöpfung ist Smaug aus Der kleine Hobbit (1937), der nicht nur dem heutigen feuerspeienden, geflügelten Klischee entspricht, sondern eben auch einen gewaltigen Schatz bewacht hat. Selbiges gilt für die bereits erwähnten Drachen aus Narnia.
Gemeinsam mit anderen Schriftsteller*innen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Tolkien und Lewis die Schätze sozusagen in die DNA der modernen Fantasydrachen geschrieben. Und so vergeht heute kaum ein Rollenspielabend – egal ob analog oder digital –, bei dem nicht irgendein Drachenhort geplündert werden soll. Aber wie gelangen die Drachen überhaupt an diese Schätze? Wer sammelt sie für sie?
In manchen Fällen – hier sind wir wieder bei Smaug – setzt sich der Drache einfach ins gemachte Bett oder eben auf den gemachten Schatzberg und nimmt diesen in Besitz. Obwohl die meisten Drachen aber Einzelgänger*innen sind, kommt es auch vor, dass sie Freunde oder zumindest Diener haben, welche ihnen helfen, die Schätze anzuhäufen. Und gelegentlich bewacht der Drache seine Schätze auch gar nicht für sich, sondern für seine Meister oder Bezwinger. In europäischen Sagen sind das meist Zauberer, Hexen oder Zwerge und Kobolde. Im ostasiatischen Raum – wo den Drachen allgemein deutlich positivere Konnotationen und auch deutlich mehr Intelligenz als in Europa zugestanden wird – befinden sich Drachen auch schon mal in kaiserlichem Dienste.
Das bringt uns zum nächsten Thema: Drachen und Freundschaften.