BUCH
Lena Richter und Judith Vogt, 13.12.2020
Wäre es nicht eine schöne, neue Welt, in der Behinderungen, Neurodivergenzen und chronische Krankheiten durch Cybertechnik, Magie oder Gentherapie einfach so „geheilt werden“? Not really. Denn so attraktiv diese Vorstellung auf den ersten Blick erscheinen mag, so problematisch ist sie auch – schließlich werden Betroffene in den Geschichten so auch unsichtbar gemacht.
Getrennte Welten
In unserer Gesellschaft leben Menschen mit Behinderung und ohne Behinderung oft in vollkommen getrennten Alltagswelten. Die Perspektive von Menschen mit Behinderung ist vielen unvertraut – und auch in Erzählungen wird sie meist nicht eingenommen. Wird Behinderung, Neurodivergenz oder chronische Krankheit doch einmal thematisiert, zum Beispiel als dramatisches Element in Liebesgeschichten, geht es häufig um Heilung oder Besserung, die die nicht-behinderte Person auf wundersame Weise in die Geschichte bringt. Die bipolare Störung wird überwunden, die Suizidgedanken der chronisch kranken Person verschwinden und in der guten Alpenluft lernt das rollifahrende Stadtmädchen wieder laufen.
Das Wichtigste an diesen Geschichten: Sie sind meist die Geschichten der Figur ohne Behinderung, die als Retter*in auftritt und der Figur mit Behinderung Verständnis, Empathie, Liebe entgegenbringt. Was das anrichten kann, wäre an sich natürlich schon einen Essay wert, doch unser Blick gilt heute insbesondere der Science-Fiction und Fantasy.
Vorangestellt sei dabei, dass wir, die beiden Autorinnen dieses Textes, selbst keine Behinderung haben. Lena ist chronisch schmerzkrank, Judith ist mit ihrem schwer geistig und körperlich behinderten Bruder aufgewachsen. Uns beiden ist der Gedanke natürlich vertraut, dass man sich grundsätzlich wünscht, dass Behinderungen und chronische Krankheiten besser oder überhaupt therapierbar wären. Zukunftsvisionen oder phantastische Settings, in denen das durch Magie, Medizin oder Technik möglich ist, sind daher reizvoll – und natürlich wird auch in genau diese Richtung geforscht.
Doch Science-Fiction ist nicht nur dazu da, technische Entwicklungen in die Zukunft zu denken. Science-Fiction ist vor allen Dingen eins: Fiktion, und als solche erzählt sie eine Geschichte über Menschen. In diese Geschichten können wir uns hineindenken, weil wir uns in Geschichten über Menschen selbst wiederfinden, so wie wir jetzt sind, in unserer Gegenwart. Wenn Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, chronischen Krankheiten oder Neurodivergenzen in diesen Geschichten Relikte der Vergangenheit sind, bedeutet das, dass diese Menschen schlichtweg nicht repräsentiert sind.
Das Beispiel Cyberpunk
Cyberpunk ist oft untrennbar mit der Idee von technisch veränderten Körpern verbunden, ob es nun künstliche Augen, implantierte Kommunikationsgeräte, mechanisch verstärkte Gliedmaßen oder sogar künstliche Flügel, Extra-Arme oder dergleichen sind. In manchen Geschichten und Erzählwelten geht damit allerdings die Idee einher, dass die Augmentierung des Körpers diesen weniger menschlich macht. Oft drehen sich Erzählungen um die Gefahr, die Cyberware mit sich bringt – sie kann kaputt gehen, gehackt werden, den Körper der Person vergiften oder Schmerzen verursachen, kurzum, sie hat oft ihre Schattenseiten, die „normalen“ Körpern erspart bleiben. Was heißt dies im Umkehrschluss für Personen, die man heute schon als Cyborgs bezeichnen könnte – Menschen mit implantierten Hörgeräten, mit Prothesen, Herzschrittmachern, künstlichen Hüftgelenken?
Außerdem finden sich in Cyberpunk-Geschichten selten Personen mit Behinderungen und Einschränkungen, wie wir sie aus unserer heutigen Welt kenne. Es mag im Weltenbau auf den ersten Blick logisch oder sogar menschenfreundlich erscheinen, dass beispielsweise Cybertechnik und genetische Selektion dafür sorgen, dass Menschen „able-bodied“ sind. Auf den zweiten Blick jedoch sind wir direkt beim Thema Eugenik und Euthanasie, selbst, wenn das nicht in der Absicht der Weltenschaffenden lag. Hinter einer utopischen Zukunft voller gesunder Menschen steht ein Blickwinkel, der Menschen mit Behinderungen im Hier und Jetzt ausschließt, um von einer Zukunft ohne sie zu erzählen.
Marieke Nijkamp sagt in ihrem Essay „The Future Is (Not) Disabled“: „Das ist die Zukunft, sagten meine Bücher mir. Auch hier gehörst du nicht hin.“
Und auch die schwer mehrfach behinderte Autorin und Game-Designerin Elsa Sjunneson Henry stimmt zu: „Cyberpunk-Zukunft löscht unsere Körper aus. […] Behinderungen aus unserer Zukunft zu löschen legt nicht nur nahe, dass wir in der Zukunft keine Rolle spielen werden, es legt nahe, dass wir nicht mehr existieren. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der ich nicht über meinen Körper bestimmen kann oder über die Identitäten, die mich geformt haben.“
Sjunneson Henry ist Herausgeberin der Disabled People Destroy Science-Fiction-Ausgabe des Uncanny Magazines und engagiert sich als Autorin, Bloggerin und Vortragende für mehr Sichtbarkeit von Behinderung in der SFF. Viel zu selten werde die Gelegenheit genutzt, durch Zukunftstechnologien die Behinderung nicht einfach und bequem auszumerzen, sondern die Vielfältigkeit menschlicher Körper handlungsrelevant in die Erzählung bringen. „Ich denke außerdem, dass wir als Autor*innen mit Behinderungen uns nach Geschichten sehnen, von denen viele Menschen sich nicht vorstellen können, dass wir sie wollen.“