BUCH
Judith und Christian Vogt, 02.05.2021
Geschichte mit phantastischen und mythologischen Elementen anzureichern hat Tradition. So läutet in der „Ilias“ ein göttlicher Konflikt den trojanischen Krieg ein, und für Shakespeare boten Prophezeiungen die Möglichkeiten, mit der Geschichtswahrnehmung zu spielen. Doch was genau passiert dabei, und welches Potenzial verbirgt sich hinter Historischer Urban Fantasy? Ein Essay von Judith und Christian Vogt.
Die Definition von Urban Fantasy lautet, dass sie in unserer Welt und meist in urbaner Umgebung spielt – selbst wenn eine Gruppe Landeier auf Vampire, Göttinnen oder den großen bösen Wolf stoßen, kategorisieren wir diese Erzählungen als „Urban Fantasy“, solange das Setting unserer Realität zumindest ähnelt.
Wenn Urban Fantasy in der Vergangenheit spielt
Urban Fantasy ist als Subgenre natürlich recht jung, und Homer wäre mit diesem Etikett sicher nicht glücklich, aber wenn wir heute einen Roman schreiben würden, der in einem griechischen Stadtstaat spielt und in dem Gottheiten ihre Champions wählen – dann wäre historische Urban Fantasy nicht der schlechteste Begriff. Die Grenzen zum historischen Roman sind dabei ebenso fließend wie zur Horrorliteratur: Auch in der Gothic Novel zum Beispiel bricht das Phantastische in die Lebensrealität vor allem des vorletzten Jahrhunderts ein. Auch die Entstehung der Vampirmythen ist so ein Grenzfall: Vampire waren immer Gegenstand der Horrorliteratur, aber auch die Paranormal Romance, die Romantasy und die Urban Fantasy sind undenkbar ohne diesen Mythos, der oft mit dem Umdeuten und Dämonisieren realer historischer Persönlichkeiten wie Vlad III. Drăculea und Lady Báthory einhergeht.
Wahres und Phantastisches durchmischen sich auch in historischer Überlieferung. Lange Zeit gab es nicht einmal fest definierte Grenze zwischen „Das ist historisch“ und „Das sind Mythen, Legenden, Religion“. Zum Beispiel dienten die isländischen Sagas der Geschichtsschreibung: Übertreibungen war den Skald*innen dieser Zeit sogar gesetzlich verboten, da sie für das verantwortlich waren, was die Isländer*innen ums Jahr 1000 herum als historische Akkuratesse verstanden – und dennoch ist der Übergang zum Sagenhaften fließend: Untote suchen Höfe heim, Organe aus Holz bewahren ihre Träger vor dem Tod, Träume und Runen bescheren ein unheilvolles Schicksal. Das ist sicher zum Teil damit zu erklären, dass Menschen anderer Zeiten ein anderes Wirklichkeitsverständnis hatten, aber auch damit, dass wir zu allen Zeiten das Phantastische mochten.
Je weiter etwas zurückliegt, desto mehr Magie liegt in der Luft
Den Hang dazu, Geschichte mit phantastischen Geschichten zu unterfüttern, liegt also in der Natur der Sache. Und je länger die Erzählzeit zurückliegt, desto mehr Fantasyelemente reichern die Erzählung an. Wenige Romane über die Zeit der Hexenverbrennung kommen ohne die Andeutung von Naturmagie aus, im Mittelalter grassierte geradezu das Zweite Gesicht, die keltische und römische Antike strotzt nur so von Orakeln, Prophezeiungen, Druidenmacht und göttlicher Gunst, und Steinzeitromane sind oft eine geradezu märchenhafte Kindheit der Menschheit, mit Tiergeistern, großer Muttergöttin und einer noch nicht von der Zivilisation verklebten (oft weiblich codierten) Intuition.
In all dem steckt natürlich auch eine große Portion Sehnsucht nach einer Zeit, in der wir „eins“ mit der Natur. „Vielleicht“, scheinen diese Romane zu fragen, „hätten wir dann ganz andere Kräfte, die wir heute nicht mal ahnen können?“ Dem entspricht letztlich ein häufiges Motiv der High Fantasy: Dass die Magie verloren geht, die gute alte Zeit vergangen ist und die Elben Mittelerde verlassen haben. Früher war mehr Magie, heute sind wir zu technisiert, intellektuell, seelisch verhärtet oder von christlichen Ideen verdorben.
Je näher der historische Roman am Heute angesiedelt ist, desto seltener finden wir diese naturmagischen oder mythologischen Elemente – als Leser*innen scheinen wir Aylas Wahrträume von der großen Muttergöttin plausibel zu finden. Aber Gereon Raths Drogenrausch in „Babylon Berlin“ sollte besser kein übernatürliches Element innewohnen, oder?
Ein wilder Mix
Historische Romane sind also von dem, was wir in diesem Artikel „Historische Urban Fantasy“ nennen, schwer zu trennen. Manche Historienschmöker haben Fantasyelemente und stehen trotzdem selbstbewusst im Regal der historischen Romane. Belletristische Romane ganz allgemein – beispielsweise das frisch erschienene “Adas Raum” oder die Romane des mittel- und südamerikanischen Magischen Realismus – enthalten oft Fantasyelemente, ohne dass sie zur Fantasy gerechnet werden. Man könnte sogar weiter gehen: Die Geschichte selbst, egal, wie sie erzählt wird, ist immer ein Stück weit Fiktion, und es ist alles andere als einfach, das Historische von der Erfindung zu unterscheiden.
Fantasyelemente können sogar dabei helfen, uns bewusst zu machen, dass auch der Teil, den wir als „historisch korrekt“ oder „historisch akkurat“ empfinden, Fiktion ist – ein Blick aus dem Heute ins Gestern, gefiltert durch die bunte Glasscheibe unserer eigenen Phantasie. Warum sollte dann der Druide nicht tatsächlich mit Toten sprechen und die Augurin die Zukunft im Vogelflug lesen können?
Die alternative Zeitlinie
Die Faustregel „Je vergangener, desto phantastischer“ gilt für den historischen Roman, aber nicht unbedingt für die Historische Urban Fantasy. Denn hier beeinflusst die Magie direkt das Weltgeschehen. Aber wenn Magie auf beste Urban-Fantasy-Manier in der Zeitlinie unserer Geschichte auftaucht, verabschieden wir uns nicht in eine Welt, die eben nicht die unsere ist? Oder anders gefragt: Wie kann unsere Historie dann überhaupt noch Bestand haben?
Dafür gibt es zwei Ansätze:
- Magie ist unauffällig. Es gibt das Übernatürliche, aber es versteckt sich. Monster leben unter uns, jagen uns, aber halten sich versteckt, um nicht selbst zu den Gejagten zu werden; Zauberei ist eine Geheimwissenschaft, deren Existenz nur erlesenen Logenmitgliedern bekannt ist – oder jemand legt aktiv einen Schleier über das Übernatürliche und lässt rationale Erklärungen finden, bindet uns einen Bären statt eines Werwolfs auf: Men in Black, Große Alte oder das Gefüge der Realität selbst
- Magie biegt den Geschichtsverlauf ab. In alternativen Zeitlinien ist das Übernatürliche den Menschen offenbar – und damit nicht mehr übernatürlich. Die Zeitlinie verläuft meist ähnlich (für den Wiedererkennungswert), nur dass Napoleon nun Drachen in die Schlacht schickt wie in „Die Feuerreiter Seiner Majestät“ von Naomi Novik. Gern verlaufen reale und alternative Zeitlinie auch parallel bis zu dem Punkt, in dem das Wundersame in die Welt tritt oder die Marsianer den Krieg der Welten beginnen.
Während die erste Variante eine schön-schaurige Komponente mitbringt, die ihren besonderen Reiz gerade dadurch ausübt, dass sie mit unseren eigenen Lebenswirklichkeit im Einklang steht, bietet die zweite Variante Raum für die größeren Fragen. Wie hätte sich der Verlauf der Geschichte geändert, wenn bedeutende Ereignisse durch den Einfluss von Magie anders abgelaufen wären? Wie ändert sich das Leben jedes einzelnen, wenn magische Mittel in Fabriken, Küchen, Haushalten und im Krieg zur Verfügung stehen? Wir stoßen hier auf “Was-wäre-wenn-Überlegungen”, die sonst eher in der Science Fiction stattfinden.