Nora Bendzko 18.05.2021
Die Fantasy mit ihren verschiedenen Völkern ist per se ein Genre voller kultureller Diversität – so das Verständnis vieler Fans. Gleichzeitig versagt sie oft an diesem Anspruch, wenn es um die Einbindung von People of Color und nichteuropäischen Kulturen geht. Wie lässt sich zeitgemäße Vielfalt in der Fantasy schaffen? Eine Möglichkeit sind bewusst gesetzte kulturelle Marker. Nora Bendzko stellt das Konzept vor.
„Darf ich Hautfarbe beschreiben?“ Diese Frage wird mir oft gestellt, wenn es darum geht, nicht-Weiße Figuren in Texten einzubeziehen.
Ich kann diese Unsicherheit zu einem gewissen Grad verstehen. Obwohl meine Mutter und meine halbe Familie marokkanisch sind, gab es während meiner Kindheit und Jugendzeit in Bayern kaum Aufklärung in dem Bereich. Wegen weltweiter Bemühungen durch nicht-Weiße Communities, vor allem der Black Lives Matter-Bewegung, ändert sich das. Vermehrt reden wir über die Sichtbarmachung von Strukturproblemen wie Polizeigewalt gegen Schwarze Menschen, aber auch Alltäglichkeiten wie menschenunwürdige Darstellungen in den Medien. Davon bleibt die Buchwelt nicht unberührt. Nicht nur die afrofuturistische Welle aus den USA führt uns vor Augen: Fantasy kann mehr sein, als ausschließlich europäische Perspektiven abzubilden.
Ein literarischer Wandel
Diskussionen um Diversität und dass Marginalisierte ein Recht auf Teilhabe haben, führen dazu, dass einige sich nun das Ziel setzen, mehr kulturelle Vielfalt zu schreiben. Eine schöne, nötige Entwicklung. Dass viele dies im ersten Moment auf die Frage beschränken, wie man „korrekt Hautfarbe beschreibt“, frustriert mich allerdings auch. Zwar mag die Fantasy in dem Bereich auf jeden Fall mehr Varianz vertragen. Aber diese nur mit körperlichen Merkmalen wie Haut einzubringen, ist eine sehr oberflächliche Änderung. Nicht-Weißsein ist mehr – es kann auch mit Identität verknüpft sein. Diese kann textlich sichtbar gemacht werden, mit Referenzen, die ich als „kulturelle Marker“ bezeichne.
Um diese soll es in meinem Artikel gehen. Außerdem gebe ich weitere Anregungen für jene, die eine moderne multikulturelle Fantasy schreiben möchten.
Ich werde also nicht über Hautfarben sprechen. Wer dazu Fragen hat, findet bei dem Guide meiner Kollegin Victoria Linnea die beste Anlaufstelle. Weiterer Disclaimer: Mit dem Begriff „Weiß“ beschreibe ich nicht Hautfarbe, sondern eine soziale Kategorie. Um deren Konstruiertheit klarzumachen, wähle ich die Großschreibung. Es gibt keine wissenschaftliche Basis für die Rassifizierung von Menschen, sie in Gruppen einzuteilen und zu hierarchisieren. Aber Rassismus hat bis heute Auswirkungen. Um dies zu besprechen, braucht es Begriffe. Mit „People of Color“ meine ich Menschen, die ganz oder teils nichtwestlicher Herkunft sind, nicht als Weiß gelesen und von Rassismus getroffen werden. Eine Übersicht mit Erklärungen findet sich auf einschlägigen Info-Seiten.
Wer von der sog. westlichen Gesellschaft als Weiß angesehen wird, ist Teil einer sozial konstruierten Norm. In der Fantasy-Literatur äußert sich das etwa darin, dass der Standard-Held (absichtlich generisches Maskulinum) und die Welt, in der er sich bewegt, in der Regel Weiß sind. Also helle Haut, west- und mitteleuropäische Einflüsse, christliche Ideen und Ahnliches. Das ist an sich auch in Ordnung. Schwierig wird es, wenn dies zum vermeintlichen Normalzustand deklariert wird. So kam es schon vor, dass mir (sinngemäß) gesagt wurde: „Fantasy heißt Europa mit historischem Setting. Da gab es noch keine People of Color, die können gar nicht vorkommen.“
Hier sehe ich mehrere Probleme
1. Die Idee, dass Völker immer unter sich geblieben wären und Migration nur ein Ding der Moderne wäre, entbehrt jeder geschichtlichen Grundlage. People of Color haben immer in Europa gelebt. Ja, selbst Schwarze Menschen, und ja, selbst im Mittelalter – und angeblich „historische Korrektheit“ ist so oder so kein Totschlagargument.
2. Wir reden von Fantasy. In diesem Genre werden Elfen und Zwerge, Drachen und Magie verbaut. Aber nicht-Weiße Menschen sind ein Problem?
3. Viele in der Szene lieben es, sich in für sie unbekannte Sphären entführen zu lassen. Wir wenden so viel Mühe auf, wenn wir phantastische Welten schaffen. Umso absurder erscheint es mir, dass wir uns selbst einschränken, sobald es um menschliche Vielfalt geht.
Indem wir das eurozentrische Default der Fantasy aufbrechen, wird ein Raum für Welten und Ideen geöffnet, die frischen Wind in das Genre bringen und näher am Puls der Zeit sind. Auf diese Weise wird nicht mehr ausschließlich für ein Weißes Publikum geschrieben, sondern eine zunehmend multikulturelle Gesellschaft mitgedacht.
Was sind kulturelle Marker?
Ein kultureller Marker kann viele Formen annehmen, ganz gleich, ob es Charakteristika bei Figuren oder Elemente des Weltenbaus betrifft. Der einzelne Marker führt auch noch nicht dazu, dass eine bestimmte Kultur assoziiert wird – meist geschieht das erst, wenn ein Geflecht aus vielen Markern vorliegt.
Ein Beispiel: Die Bezeichnung „König“ funktioniert grundsätzlich kulturübergreifend, denn nicht nur in westlichen Gesellschaften gab und gibt es Könige. In vielen Fantasy-Welten steht das Wort „König“ aber in west- und mitteleuropäischer Tradition, indem man Vorstellungen des Mittelalters oder Märchen wie die der Brüder Grimm reproduziert. Der König kann dann verknüpft werden mit der christlichen Idee des „gotterwählten Herrschers“, und er steht meist an der Spitze eines Klassensystems, das an reale westliche Strukturen angelehnt ist. Fantasy, die solche Assoziationen bedient, wird als „europäisch“ gelesen, selbst wenn sie in einer fiktiven Welt spielt, die sich nicht in Europa verortet. Sofern nicht anders spezifiziert, etwa, indem man den König explizit in seiner Beschreibung als nicht-Weiß herausstellt, wird er als Weiß interpretiert.
Im Gegensatz dazu stehen Begriffe und Assoziationen, die als nichteuropäisch empfunden werden. Die Worte „Sultan“ oder „Kalif“ bezeichnen auch Herrscher, stehen aber in einer muslimisch-arabischen Tradition. Betten wir sie in ein Fantasy-Buch mit weiteren Markern aus arabischen Kulturen ein, so werden die Herrscher nicht als Weiß gelesen, selbst wenn Äußerlichkeiten wie Hautfarbe gar nicht konkretisiert werden.
Dies zeigt: Nicht-Weiße Menschen sind mehr als ihre Hautfarbe. Vielfalt endet nicht bei der Beschreibung von Figuren, sondern kann sich auch im Weltenbau widerspiegeln.
Nicht-Weißsein in traditioneller Fantasy
Wie viele Fantasy-Klassiker fallen ein, wo nicht-Weiße Figuren eine Rolle spielen? Einer der berühmtesten ist wohl „Erdsee“ von Ursula K. LeGuin. Doch ihr Werk hat auch eine lange Geschichte von Whitewashing. Das Nicht-Weißsein ihrer Figuren wurde sowohl auf Covern als auch bei Filmadaptionen ausgelöscht, obwohl sie sich vehement dagegen aussprach. Im breiten Bewusstsein werden die nicht-Weißen Aspekte nicht wahrgenommen bzw. sie sind ein Grund für Kontroverse. Wie „Erdsee“ behandelt wird, steht symptomatisch für eine Fantasy, die Weißsein zur Norm erhebt.
Ich bin mit der Völkerfantasy aufgewachsen, die in der Tradition von Tolkien steht, und liebe wie viele die „Herr der Ringe“-Trilogie und „Der kleine Hobbit“. Nun, da ich älter bin, sehe ich aber einiges kritisch. Heute geschriebene Fantasy-Titel reproduzieren manchmal veraltete Ideen, die nicht sein müssen.
Wir wissen zwar durch Tolkiens Briefe, dass er sich gegen Nationalsozialisten und allgemein gegen Rassismus ausgesprochen hat. Gleichzeitig schrieb er seine Bücher in einer Gesellschaft, die noch fälschlicherweise davon ausging, dass es etwas wie „Menschenrassen“ gäbe. Dies findet sich in seinem Werk wieder, wenn Völker als Monolithe erscheinen, die nicht nur ihre Biologie klar trennt. Auch ethisch und in ihrer Kapazität, Gutes oder Böses zu tun, gibt es Unterschiede. Die als „Kriegerrasse“ imaginierten Orks haben nicht die Möglichkeit, sich ihrem Schicksal zu widersetzen, sie sind so angelegt, dass Krieg ihnen „im Blut liegt“. Von ihm in seinen Briefen als „Mongol-types“ beschrieben, lädt er sie mit kulturellen Markern auf, die mit antiasiatischen Feindbildern seiner Zeit zu tun haben. Spätere Fantasy-Franchises wie „Dungeons & Dragons“ arbeiten mit Attributen, wie man sie von Stereotypen Schwarzer und anderer nicht-Weißer Menschen kennt. Aber auch Völker wie die Haradrim mit ihren Olifanten, die als im Süden lebende Dunkelhäutige beschrieben und in der Verfilmung als arabisch kodiertes Volk umgesetzt werden, haben eindeutige Einflüsse.
Wie wir sehen, kommt hier, verglichen mit „Erdsee“, ein weiterer Aspekt hinzu. Weißsein als Norm existiert zwar zweifellos in der Völkerfantasy, Werke in Tolkiens Tradition sind oft eurozentrisch. Aber anders als in anderen Büchern ist Nicht-Weißsein mit seinen kulturellen Markern nicht absent. Es existiert als Kodierung bei „bösen“ Völkern.
Das wirft so einige Fragen auf. Wenn böse Völker mit kulturellen Markern besetzt werden, die mit People of Color in Verbindung stehen, und Nicht-Weißsein ansonsten kaum bis gar nicht in der Fantasy existieren darf wie bei „Erdsee“ … Was sagt uns das? Was sagt das vor allem Schreibenden und Lesenden, die nicht-Weiß sind?
Wie können wir von hier aus weiterschreiben?
Ich habe das nicht aufgedröselt, um jemandem die Völkerfantasy als Ganzes madig zu machen. Wie schon erwähnt, bin ich selbst geprägt durch Tolkiens Werk, und meine Liebe dafür wird auch nicht verschwinden. Mit der Freundschaft zwischen Legolas und Gimli, die ungleicher nicht sein könnten und trotz aller Vorurteile zueinanderfinden, hat Tolkien auch hoffnungsvolle Botschaften geschrieben, was Multikulturalität betrifft. Man kann aber etwas lieben und dennoch sehen, dass es nicht unkritisch ist. Mich beschäftigt die Frage, wie eine moderne Fantasy aussehen kann, die mitnimmt, was wir an Tolkien gernhaben, und die gleichzeitig Veraltetes weiterdenkt.
Ein paar Erkenntnisse sind wohl offensichtlich: Fantasy muss nicht eurozentrisch Weiß sein. People of Color können genauso als menschliche Held*innen existieren. Franchises wie Dungeons & Dragons machen bereits vor, wie es anders gehen kann. Letztes Jahr räumten sie in einem offiziellen Statement ein, dass bei ihnen zwar immer alle hätten willkommen sein sollen, die Spiele das jedoch nicht wiedergegeben haben. Freie Übersetzung: „‚Mensch‘ in D&D heißt alle, nicht nur Fantasy-Versionen von Nordeuropäern. Durch 50 Jahre Geschichte von D&D wurden gewisse Völker im Spiel – Orks und Drow dürften am bekanntesten sein – als monströs und boshaft charakterisiert, durch Beschreibungen, die auf schmerzhafte Weise an jene erinnern, mit denen echte Ethnien herabgewürdigt wurden und immer noch werden.“
D&D nimmt sich vor, nicht nur das Konzept böser Völker hinter sich zu lassen, und bemüht sich allgemein um Figurenvielfalt, nicht nur bei Menschen. Als Schreibende können wir hier einige Inspiration mitnehmen, wie bei den Werken nicht-Weißer Kolleg*innen, die eigene Erfahrungen in ihrer Fantasy zentrieren. Vielleicht können wir generell einen stärkeren kulturellen Blick entwickeln, und wenn wir feststellen, dass wir Marker uns persönlich „fremder“ Kulturen nur bei Bösewichten benutzt haben, uns hinterfragen. Denn sind nicht Figuren, die über ein „Ich wurde böse geboren“ hinausgehen, nicht automatisch interessanter? Werden Fantasy-Welten nicht viel spannender und reichhaltiger, wenn wir kulturelle Vielfalt abbilden?
Eventuell braucht es etwas Zeit und Arbeit, um jenen Blick zu entwickeln. Selbst eine noch so klischeebehaftete Fantasy-Story ist mit kulturellen Markern aufgeladen, von denen wir es nur nicht gewohnt sind, sie als solche wahrzunehmen. Die Abenteuergruppe, die eine Taverne besucht, betritt eine ganz bestimmte Form von Gasthaus, das in italienischer und allgemein westlicher Tradition steht. Die Mitglieder jener Gruppe nehmen dort Entsprechendes an Nahrung und Alkohol zu sich. Vielleicht tragen sie Ausrüstung, die von historischen Waffen in mitteleuropäischen Ländern inspiriert ist, und so weiter.
Indem man sich dieser kulturellen Marker bewusstwird, kann man sich fragen: Was könnte hier noch stehen? Ähnlich wie Fantasy-Held*innen nicht ausschließlich durch helle Hautfarbe gekennzeichnet sein müssen, lässt sich auch bei nicht-Weißen Figuren viel mehr an Details betreiben, inklusive der Welt, in der sie sich bewegen. Kulturelle Marker müssen sich hierbei nicht einmal 1:1 an realen orientieren – in der Fantasy sind sie Leerstellen, die frei füllbar sind.
Wenn wir inklusivere Welten erschaffen wollen, lohnt es also, sich mehr mit den Kulturen der eigenen Fantasy auseinanderzusetzen. In welch unterschiedlichen Details drücken sie sich aus? Die abschließende Liste führt ein paar Beispiele an, von denen aus sich weiterdenken lässt. Betonung liegt auf: weiterdenken.
Unvollständige Liste möglicher kultureller Marker neben Hautfarbe
- Äußeres: (Afro-)Haar, Kleidung mit eigener kultureller Bedeutung, kulturspezifische Verhaltensweisen …
- Sprachliches: Namen, Formen der Mehrsprachigkeit, Akzente …
- Alltäglichkeiten: Begrüßungsarten, Flüche, Essen inkl. Essräume und -arten, Alkohol und dessen Kultivierung, Tragarten von Schuhen (z. B. nicht im Haus), Traditionen bei Spiel, Tanz und Musik …
- Zusammenlebenssysteme: Ehe- und Familienkonzepte, Regulierung von Partnerschaften, Freundschaftskonzepte …
- Gender-Konzepte: Geschlechterrollen und ihre Auswirkung auf gesellschaftliche Struktur, An- bzw. Abwesenheit von geschlechtlichen Markern in der Sprache, Vererbung von Gütern und Namen (z. B. matrilinear [über die Mutter], patrilinear [über den Vater], überhaupt nicht vorhanden) …
- Religiöses: Gebetsarten, Religionsstätten, Einteilung des Jahres inkl. Feiertage, religiöse Symbole u. a. sichtbar am Körper getragen …
- Erzähltraditionen: mündlich vs. schriftlich, Formen von Lesemedien (Steintafeln? Papyrus? Digitalisierung?), Lesarten, Schriftarten …
- Gesamtgesellschaft: Architektur, Aufbau von Institutionen, Arten der Trennung zwischen privaten und öffentlichen Räumen, Kalendersysteme …
Dieser Artikel soll nur ein Startpunkt sein. Gute Repräsentation und Inklusion sind nichts, das man durch das Abhaken von Punkten auf einer Liste erreicht. Dies verleitet zu Vereinfachungen, einer erneuten Konzentration auf wenige Äußerlichkeiten.
Wer kulturell diverser schreiben will, wird bei der Recherche auf viele Meinungen und Denkansätze stoßen, muss abwiegen, und wenn man an Grenzen stößt, sich vielleicht mehr Zeit nehmen, Sensitivity Reader oder anderen Rat dazuholen. Es ist ein Prozess, wie generell das Lernen von Schreibhandwerk ein Prozess ist. Ich hoffe, dass meine Ausführungen und die Liste euch helfen, den Blick zu öffnen für das, was wir als vermeintlich normal in der Fantasy ansehen. Traut euch, das Kulturelle in euren Texten zu erkennen – und mehr herauszuholen!
Über die Autorin
Die 1994 geborene Münchnerin wuchs in einer teils deutschen, teils marokkanischen Familie auf. Aktuell lebt sie in Wien, wo sie Deutsche Philologie studiert, in der Metal-Band „Nightmarcher“ singt und als Lektorin arbeitet. Als Indie-Autorin hat sie sich einen Namen mit ihren Galgenmärchen gemacht. Im Juni 2021 erscheint ihr Verlagsdebüt, „Die Götter müssen sterben“, bei Droemer Knaur: ein Dark-Fantasy-Roman über die Amazonen, die mit Königin Penthesilea im Trojanischen Krieg gekämpft haben.
Seit einiger beschäftigt sie sich mit Multikulturalität in der Fantasy, wozu sie auch Sensitivity Reading gibt. Gelegentlich schreibt sie auf Twitter [@NoraBendzko] oder auf Instagram [@nora_bendzko] darüber.
Mehr Informationen zu ihrem Schaffen gibt es auf norabendzko.com