Altehrwürdige Bibliotheken, düstere Geheimnisse und die Freude am Lernen: Das ist die Welt der Dark Academia. Wenngleich vor allem als Ästhetik über Pinterest, TikTok und Co. etabliert, liegen ihre Wurzeln in der Literatur – und auch hier lebt Dark Academia weiter fort. Alessandra Reß stellt uns dieses Genre vor.
Obwohl sich die Geschichten der phantastischen Literatur in erster Linie in unserem Kopf abbilden, ist die Phantastik seit jeher ein Genre, das stark von visuellen Bildmedien geprägt ist. Bis heute beeinflusst die Ästhetik von Frank Frazetta unsere Wahrnehmung der Sword & Sorcery, und es gibt wohl kaum jemanden, der mit Cyberpunk nicht die Straßenschluchten von Ridley Scotts „Blade Runner“ assoziiert! Ob Buchcover, Filme oder auch die Gemälde beispielsweise der Schwarzen Romantik – visuelle Medien geben den Bildern aus unseren Köpfen Gestalt, vermögen sie manchmal sogar anzuleiten.
Insofern ist es nur eine logische Folge, wenn heute soziale Medien wie Instagram, TikTok oder Pinterest, die von unserer Neigung zum Visuellen profitieren, in der Lage sind, Ästhetiken zu entwickeln, die weit über Social Media hinaus wirken. Beispiele dafür gibt es vor allem aus den letzten beiden Jahrzehnten Dutzende: Rainbowcore, Cottagecore, Coffinwood – oder Dark Academia.
Bücher, Briefe und Barock
Wie so viele ihrer Verwandten hat auch die Dark Academia in ihrem jetzigen Verständnis ihren Ursprung auf Tumblr genommen. 2015 gründete sich hier eine Community zu Donna Tartts „Die geheime Geschichte“ von 1992 (dt. 1993). Der Roman erzählt von einer Gruppe College-Studierender, deren Freundschaft durch einen gemeinschaftlich begangenen Mord nach und nach auf tragische Weise auseinanderbricht. Die vor dem College-Hintergrund spielende Handlung ist düster, melancholisch und voller inhaltlicher wie struktureller Anspielungen auf klassische Werke. Womit sich der Begriff „Dark Academia“ erklärt.
Von Tumblr ausgehend, hat er sich über weitere soziale Medien hinweg verbreitet und dabei jene eigene Ästhetik kreiert, die auch Leute außerhalb der Literaturszenen erreicht. Gibt man den Begriff bei Pinterest ein, erscheinen mit der Feder geschriebene Briefe und Manuskripte, Museen mit klassischen Gemälden im Goldrahmen, Bibliotheken mit ledergebundenen Büchern und Globen, Architektur der europäischen Renaissance oder des Barock, verfallene Gebäude, Klaviere und Atlanten, dazu Menschen in einem Preppy Look mit erdigen, gedeckten Farben. Überhaupt ist alles sehr gedeckt, über allen Bildern scheint eine dunkle Patina zu liegen.
Kleine Geheimnisse und viele Zitate
Viele der Bilder scheinen kleine Geheimnisse zu bergen. Sind das Tränen, die die Schrift verwischen? Ist da ein halb verwaschener Blutfleck auf der Tastatur? Welche Geschichten bergen die Bücher, welche Gegenstände sind im Regal verborgen?
Geheimnisse sind die Essenz der Dark Academia. Ihre Handlungen spielen normalerweise in Lernkontexten – an Schulen, (Elite-)Universitäten, dem College. Und häufig gibt es eine Außenseiter-Figur, die von außen in das Geschehen eindringt, und zunächst fasziniert ist von der Welt des hingebungsvollen Lernens in Gemeinschaft. Bis ihr die Ungereimtheiten auffallen, die ungelösten Rätsel, die dunklen Schatten, welche Cliquen und Geheimbünde umgeben. Dabei ist Dark Academia normalerweise keine Kriminalliteratur, auch wenn Mord und andere Todesfälle keine Seltenheit darstellen. Grundsätzlich können die Geheimnisse, die es im Verlaufe der Handlung aufzudecken gilt, ganz unterschiedlicher Natur sein.
Darüber hinaus haben Werke, die der Dark Academia zugerechnet werden, oft einen Fokus auf geisteswissenschaftliche oder künstlerische Inhalte. Gerne wird hier mal mehr, mal weniger auffällig aus Werken der Weltliteratur zitiert, oder eine Handlung orientiert sich vage an einer klassischen Sage, greift Motive aus einem Gemälde auf usw. Sowohl als Ästhetik als auch als Subgenre richtet sich Dark Academia an ein Publikum, das solche Anspielungen möglichst ohne viele Erklärungen versteht.