Die Geschichte der Fantasyliteratur in Amerika, England oder Deutschland ist soweit bekannt, aber wie sieht es eigentlich in der Türkei aus? Seit wann hat sich dort Fantasyliteratur als eigenes Genre herausgebildet? Wer sind die bedeutenden Autor*innen? Ein Essay über türkische Fantasy von Asena Meric.
Fantasyelemente gab es in der türkischen Literatur schon immer. Nur waren diese Elemente in der Regel in surrealistische Motive verwoben, die von Epen, Legenden, Märchen, Mythen und Folklore beeinflusst sind. Eine eigene Romangattung hat sich erst viel später herausgebildet. Während Romane mit informativen, lehrreichen und erzieherischen Merkmalen von der Gesellschaft akzeptiert wurden, hat es viele Jahre gedauert, bis die phantastische Literatur in der türkischen Literatur Fuß gefasst hat. Die Hauptgründe dafür sind das traditionelle Literaturverständnis und die späte Modernisierung. In der Türkei neigten die Menschen relativ lange dazu, Antworten auf ihre Fragen nach dem Unbekannten eher in der kollektiv praktizierten Religion oder im traditionellen Glauben zu suchen. Die individuelle Neugierde hielt sich in Grenzen.
"Muhayyelat" von Aziz Efendi
Das Buch mit dem Titel Muhayyelat, das Aziz Efendi 1797 unter dem Einfluss von Tausendundeiner Nacht schrieb, vermochte jedoch diese Grenzen zu sprengen und gilt als das erste phantastische Genrebuch der türkischen Literatur. Das Werk verband Fantasyelemente mit mystischen Lehren und nahm die Leser mit auf eine metaphysische Reise. Auch griechische Werke inspirierten Aziz Efendi. Gelesen wurde Muhayyelat zumeist als ein einfaches Märchenbuch, das gelegentlich auch für seine übernatürlichen Ereignisse und Charaktere wie Dschinns, Feen kritisiert wurde. Dem Autor wurde vorgeworfen, mit dem Kopf in den Wolken zu leben.
Auch in der Zeit nach dem Tanzimat (1839-1876) wurden literarische Werke, die moralische und soziale Werte vermittelten, mehr geschätzt. Von rein unterhaltenden Büchern hielt man dagegen wenig. Obwohl Fantasymotive in verschiedenen Buchgattungen verwendet wurden, galten sie lange Zeit als Merkmal der "Populärkultur" und erhielten nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient gehabt hätten.
Die Wissenschaftlerin und Autorin Ingeborg Böer hat jedoch behauptet, Aziz Efendis Muhayyelat sei der "Vater des modernen türkischen Romans". Jedenfalls hat nach Aziz Efendi die Zahl der Schriftsteller, die phantastische Elemente in ihre Werke aufgenommen haben, wenn auch langsam, zugenommen. Ein Hauptgrund dafür waren die Auswirkungen der Modernisierung und die aus dem Westen übersetzten Bücher. Zu den wichtigsten jetzt entstandenen Werken gehören Çengi von Ahmet Mithat Efendi, Amak-ı Hayal von Filibeli Ahmet Hilmi und Gulyabani von Hüseyin Rahmi Gürpınar. Obwohl diese Bücher Fantasyelemente enthielten, würde man sie immer noch nicht als „Fantasyliteratur“ im engeren Sinn betrachten.
“Ein Verrückter auf freiem Fuß”: die Macht der Phantasie
Der Beginn des 20. Jahrhunderts war ein Wendepunkt in der osmanischen Modernisierung, und dieser bedeutende Wandel schlug sich auch in der Literatur nieder. Im Jahr 1910 wurde ein Roman mit dem Titel A'mak-ı Hayal von Shehbenderzade Filibeli Ahmet Hilmi veröffentlicht, der übernatürliche Ereignisse enthielt. Die Leser, die das Buch aufschlugen, begaben sich auf eine Reise in die Tiefen ihrer Phantasie. Darüber hinaus haben die Leser auch die Tür zu etwas geöffnet, das sie vorher nicht bemerkt hatten: zu ihrer "Vorstellungskraft". Die Schriftsteller und Dichter der damaligen Zeit waren davon so beeindruckt, dass sie die Fantasie mit einem "Wahnsinnigen, der sich im Irrenhaus frei bewegen kann" verglichen.
Fantasyelemente galten als Mittel, um den Leser auf eine Reise in seine innere Welt mitzunehmen und seine Identität zu entdecken. Gleichzeitig zielten sie darauf ab, zu unterhalten und psychologische, soziale und moralische Werte zu vermitteln. So hat auch Peyami Safa phantastische Elemente in sein 1949 veröffentlichtes Werk Der Stuhl von Mademoiselle Noraliya aufgenommen. In diesem Buch herrscht Ungewissheit darüber, ob es sich bei den beschriebenen Ereignissen um Realität oder Illusion handelt, da der Leser im Laufe des Romans erfährt, dass die Erlebnisse der Figuren Halluzinationen sind.
Weitere wichtige Werke der literarischen Phantastik waren Nazlı Erays 1980 veröffentlichtes Buch Arzu Sapağında İnecek Var, Orphee, Yıldızlar Mektup Yazar, Ay Falcisi und Uyku İstasyonu. Außerdem war İhsan Oktay Anars 1995 veröffentlichter Atlas der unsichtbaren Kontinente ein großer Bestseller in der Türkei. Das Buch wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Aber auch Sadık Yemnis Muska (1996), Öte Yer (1997) und Alev Alatlis Schrödingers Katze: Albtraum (1999) enthielten phantastische Elemente, die einen Schleier über die Wirklichkeit zogen.
Modernismus und Postmodernismus haben die türkische Fantasy-Literatur vor allem zu Beginn der 2000er Jahre beeinflusst. Die Fantasymotive in den Romanen beschränkten sich in der Folge nicht mehr nur auf kleine magische Elemente, sondern zielten auch darauf ab, dem Leser unwirkliche Gegenden, Menschen und Leben vor Augen zu führen. Erst seit den 2000er Jahren, vor allem nachdem J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe und J. K. Rowlings Harry Potter auf die große Leinwand kamen, haben sich türkische Schriftsteller getraut, waschechte Fantasyromane zu schreiben. Und das mit großer Leidenschaft und aus der Erkenntnis heraus, dass Menschen gute Fantasyromane brauchen, um die Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu ertragen.