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Alles, was man über Animes wissen muss (2/3): Eine kurze Genreübersicht

Alles, was man über Animes wissen muss (2/3)
© Sunrise / Peppermint Anime

Markus Mäurer, 22.06.2019

In dieser dreiteiligen Artikelreihe präsentiert euch unser Redakteur Markus Mäurer umfassend den Anime mit seiner Geschichte, den wichtigsten Genres und den kontroversesten Themen. Nach dem historischen Überblick (Teil 1) geht es nun mit der Genreübersicht weiter.

Der Anime und seine Genres

Das Film- und Serienmedium des Animes enthält unzählige Genres, die kaum alle zu erfassen sind, weshalb ich mich hier auf die phantastischen nach westlicher Lesart beschränken werde. Ein Unterfangen, das ebenfalls nicht ganz einfach ist, scheut sich doch der Anime von jeher nicht, verschiedene Genres wild und kreativ durcheinanderzuwirbeln. Herausragende Studios wie Ghibli und Filmmacher wie Mamoru Hosoda werde ich in Teil 3 der Artikelreihe gesondert behandeln. Aufgrund der Fülle an Filmen und Serien beschränkt sich der Artikel auf besonders herausragende Klassiker und erwähnenswerte aktuelle Beispiele. Für die japanische Genreklassifizierungen verweise ich auf den Wikipediaartikel zu Stile und Genres, die sich oft auch an der Zielgruppe orientieren.

Science Fiction

Von Anfang an war die Science Fiction ein prägendes Genre innerhalb des Animes. Ein erster großer Anime-Boom wurde durch die Serie Astro Boy in den 1950ern ausgelöst, ein zweiter durch Space Battle Ship Yamato in den 70ern und ein dritter in den 90ern durch Neo Genesis Evangelion. Gerade die letzten beiden Serien fallen in den Bereich Military SF und das Mecha-Genre, in Japan selbst wurden sie vor allem als shonen-Serien für Jungs produziert. Dazu gehört auch das enorm erfolgreiche Gundam-Franchise.

Science Fiction dürfte meiner Einschätzung nach den Löwenanteil an Anime-Serien und Filmen ausmachen. Trotz der Masse kommen dabei aber immer wieder echte Perlen heraus. Auf die Untergenres Cyberpunk, Mecha und weitere gehe ich weiter unten detaillierter ein. Der Meilenstein des Genres ist natürlich Akira, der zwar in einer cyberpunkmäßigen Zukunft spielt, auf Computer als Hauptmotiv aber weitestgehend verzichtet; hier nimmt die Ästhetik eine wichtige Rolle ein. Hinzu kommen Endzeitmotive, spielt die Handlung doch in einem Neo-Tokio nach einer Atomkatastrophe und dem 3. Weltkrieg (seit Hiroshima und Nagasaki bildet die nukleare Bedrohung eines der zentralen Leitmotiv des japanischen Kinos, siehe Godzilla).

Eine Möglichkeit, den 3. Weltkrieg zu verhindern, bieten Zeitreisen. In der Serie Steins;Gate, die auf dem gleichnamigen Computerspiel basiert, geht es genau darum. Neurowissenschaften, Teilchenbeschleuniger und verschiedene Zeitreisen spielen in dieser komplexen und meisterhaft erzählten Serie eine große Rolle.

Space Opera

Das Medium des Animes bietet den Vorteil, dass man phantastische Welten kostengünstig produzieren kann. Verschlingt eine Raumschiffserie wie Firefly oder Star Trek viel Geld wegen der aufwendigen Computeranimationen, in die reale Menschen passend integriert werden müssen, entfällt diese Hürde beim Anime, und furiosen Weltraumschlachten steht nichts im Wege. Die herausragende Perle der Space Opera ist Cowboy Bebop, eine arschcoole Serie über eine Gruppe von Kopfgeldjägern, die zu hervorragender Musik in einem Film-Noir-Setting zwielichtige Personen jagt und mit viel Humor kuriose Abenteuer erlebt. Stilistisch kommt die Serie passend zum Jazz-Soundtrack leichthändig inszeniert daher, schafft es aber trotzdem, komplex ausgearbeitet Figuren mit tiefergehenden Hintergrundgeschichten zu etablieren.

Der Klassiker des Genres dürfte Space Battle Ship Yamato sein, eine Serie, die von 1974–1981 in 77 Folgen lief und mehrere Filme erhielt. Fällt auch unter Military SF und basiert auf dem gleichnamigen Schlachtschiff aus dem 2. Weltkrieg. Weitere Klassiker sind das schon in Teil 1 erwähnte Captain Future und Captain Harlock, zwei der ersten Anime-Serien, die auch bei uns größere Bekanntheit erlangten. 1984 erschien mit Lensman ein Film, der auf dem gleichnamigen Klassiker der literarischen Space Opera von E. E. Doc Smith basiert.

Cyberpunk

Dank des Erfolgs von Ghost in the Shell Mitte der 90er Jahre ist der Cyberpunk eines der Hauptgenres, mit dem Anime identifiziert wird. Die Wurzeln liegen bei William Gibson und seinem wegweisenden Roman Neuromancer (1984), der sich wiederum am technologischen Aufstieg Japans in den 80ern orientiert und eine Zukunft präsentiert, die Stark von Nippon geprägt wird. Ästhetisch ist man vor allem von Ridley Scotts Bladerunner (1982) beeinflusst: die von Neonlicht und Werbetafeln beleuchteten Hochhausschluchten, in denen es ewig regnet.

Der Cyberpunk ist ästhetisch ein Kind der 80er Jahre, hat sich inzwischen aber weiterentwickelt und wurde von den technischen Entwicklungen der Realität überholt. Eine der erfolgreichsten Serien, die weiterdenkt, wie Virtuelle Realität in naher Zukunft aussehen könnte, ist Sword Art Online. Hier wird der aktuelle Trend zu Rollenspielen, Cosplay und Fantasy mit moderner Technologie kombiniert.

Eine interessante Variation des Themas bietet der Film Paprika von 2006, in dem es um die technologische Aufzeichnung und Manipulation von Träumen geht – und um das Missbrauchspotential, das dies bietet, was den Film zu einem surrealen Psychothriller und ästhetischen Meisterwerk macht.

Eine Serie, die der Cyberpunk-Ästhetik treu bleibt, ist Psycho-Pass, in der Polizisten mit ähnlichen Befugnissen ausgestattet sind wie Judge Dredd, ein Computeralgorithmus darüber entscheidet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Person ein Verbrechen begeht, und selbige dann gleich exekutiert werden darf. Eine düstere Serie in ernstem Ton, die ethische und moralische Fragen auf unterhaltsame Weise behandelt.

Mecha

Das Mecha-Genre gehört zu den beliebtesten aller Subgenres im Anime. Gemeint sind damit mechanische Anzüge, die von normaler Körpergröße bis zu Godzilla-Ausmaßen variieren können. Dort hinein steigen (meist junge, schlanke, attraktive) Menschen und steuern diese Kampfmechs. Zu den bekanntesten Vertretern gehören Mobile Suit GundamMobile Police Patlabor und Bubblegum Crisis. Eine kleine Neuerfindung erfuhr das Genre in den 1990er Jahren durch Neon Genesis Evangelion, einer Serie, die klassische Mech-Motive übernahm, sie narrativ dekonstruierte und zu etwas Neuem entwickelte. Traditionell handelt es sich hierbei um ein Untergenre der Science Fiction, doch mit Visions of Escaflown gibt es auch einen Vertreter im Bereich der Fantasy, wo die mechanischen Kampfmaschinen (Guymelefs) aus einfachen Materialien gebaut und mittels Magie betrieben werden (wenn ich das richtig in Erinnerung habe), alles erzählt aus Perspektive einer japanischen Schülerin, die in eine Parallelwelt gelangt ist.

Endzeit

Die Welt nach der Apokalypse und dem Zusammenbruch der Zivilisation ist ein beliebtes Thema im Anime. Einer der berüchtigten Klassiker dieses Untergenres ist der ultrabrutale Fist of the North Star aus dem Jahr 1986, der vom gleichen Team produziert wurde wie die TV-Serie (1984–1986), beides basierend auf dem Manga von Tetsuo Haar und Buronson. Im Prinzip geht es um verfeindete Gangs, die sich heftigst bis tödlich verkloppen. Tony Randels Realverfilmung kann man als weniger gelungen bezeichnen.

Dass es noch brutaler geht, zeigen die Filme um Violence Jack, die selbst die Hartgesottensten auf eine harte Probe stellen dürften und ausloten, was gewaltmäßig alles im Anime möglich ist (inklusive zahlreicher Vergewaltigungsphantasien und expliziter tödlicher Gewalt gegen Kinder). Etwas ruhiger und anspruchsvoller geht es in A Wind called Amnesia von 1990 zu, wo es um einen postapokalyptischen Wind geht, der praktisch alle Erinnerungen ausgelöscht hat.

Hentai

Der Begriff Hentai als Synonym für erotische bis pornographische Animes ist im englischen Sprachraum entstanden. Im Japanischen steht er für perverse, extreme Werke, nicht aber als Genreüberbegriff. Auch hier verlaufen die Genregrenzen oft fließend, und Filme aus anderen Genres bedienen sich an Hentai-Elementen. Der berühmteste und berüchtigste dürfte die Urotsuki Dōji-Trilogie (Legend of the Overfiend, 1986–1989) sein. Endzeithorrorfantasy über riesige Tentakeldämonen, die das Ende der Welt anstreben. Die Mutter aller Tentakelsexfilme. Aber um das klarzustellen: In dieser Filmreihe geht es nicht um die Darstellung von Sexualität, sondern um sexuelle Gewalt und Vergewaltigung. Die Filmreihe dürfte maßgeblich für den schlechten Ruf von Hentai-Filmen gesorgt haben, in denen es einfach nur um Sex und Erotik geht: also hauptsächlich Pornografie.

Fantasy

Das Zeichentrickformat eignet sich hervorragend für die Umsetzung von Fantasystoffen, da hier, anders als beim Realfilm, keine Mehrkosten für aufwendige Spezialeffekte entstehen und die Technik keine Grenzen setzt. Drachen, Magie, Dämonen, phantastische Welten, riesige Heere, all dies lässt sich ohne Schwierigkeiten umsetzen. Und so gab es schon in den 1990ern, deutlich vor Peter Jacksons Herr der Ringe-Verfilmungen, einige eindrucksvolle Fantasyserien und Filme.

Am klassischsten – in bester Rollenspieltradition à la Dungeons and Dragons – ging es die Serie Record of Lodoss War an, in der eine aus Zwergen, Elfen, Kriegern und Zauberern bestehende Heldengruppe eine Quest nach der anderen im Kampf gegen das Böse lösen musste. Im Gewand einer historischen Serie, mit nur dezent eingesetzter Magie und ohne übernatürliche Wesen kommt The Heroic Legend of Arslan daher, sowohl in der Version von 1991 als auch in der aktuellen von 2015. Hier geht es um große Schlachten zwischen verfeindeten Königreichen, in einer Welt, die größtenteils an den Nahen und Mittleren Osten erinnert. Eine Mischung aus Fantasy und Steampunk bieten die Serien und Filme um Full Metal Alchimist.

Historische Animes

Die japanische Geschichte mit ihren Samurais und Ninjas bietet hervorragenden Stoff für Animes, und häufig mischt sich dieses Genre mit der Fantasy, gehört der Glaube an das Übernatürliche, an Geister und Dämonen doch fest zur japanischen Kultur. Einer der bekanntesten Vertreter dürfte der Film Ninja Scroll von 1993 sein, über den Schwertmeister Jūbei Yagyu, der in der Edo-Periode mit Intrigen und Verschwörungen unter den Clans zu tun bekommt. 2003 gab es noch eine 13-teilige Serie dazu.

Horror

Subtilen Grusel wie in bekannten J-Horrorfilme àla Ring findet man im Anime eher selten (z. B. in der Serie Another). Hier wird der Horror viel offensiver und oft auf popkulturell extrovertierte Weise evoziert, wie zum Beispiel in der Serie Hellsing, in der ein gewisser Vampir namens Alucard für eine Regierungsbehörde in schickem Anzug und zu hipper Musik gegen Monster in den Kampf zieht. Vampire und Dracula sind sowieso ein geliebtes Thema; zu den bekanntesten Vertretern dürfte der Film Vampire Hunter D aus dem Jahr 1985 zählen, der mit Bloodlust im Jahr 2000 eine Neuauflage erhielt.

Eine ziemlich aktuelle Horrorserie ist Tokyo Ghoul, in der die untoten Leichenfresser Tokio zu einem harten Pflaster machen und sich der Protagonist damit auseinandersetzen muss, statt Mensch nun ein Ghoul zu sein. In puncto Härte und Splatter dürfte die SF-Horrorserie Elfen Lied (die auch im Original so heißt) den Vogel abschießen und zerstückeln. Attack on Titan kann man aufgrund des Härtegrades und der gigantischen Monster durchaus auch dem Horror zuzählen, auch wenn die Serie in einer fantasymäßigen Sekundärwelt spielt.

Die wohl bekannteste und erfolgreichste Horrorserie der letzten Jahre ist Death Note – über den Schüler Light Yagami, der durch ein von ihm gefundenes Notizbuch Menschen töten kann –, die inzwischen zahlreiche Adaptionen in Anime- und Realform erhalten hat.

Durchgeknallter "Scheiß"

Wer sich unter der Kategorie durchgeknallter "Scheiß" nichts vorstellen kann, sollte einfach mal ein paar Minuten in die Serie Kill La Kill reinschauen, aber Vorsicht, sie kann zu epileptischen Anfällen und ADHS führen. Das ist Dragonball Z auf Speed und LSD.

Den Prototypen des verrückten Animes dürfte Dragonball (Z) darstellen. Im Prinzip geht es um den jungen Kämpfer Son Goku, der gegen allerlei Bösewichte und deren Armeen zu Felde ziehen muss, um zu verhindern, dass sie an die titelgebenden Dragonballs kommen. Das Ganze wird in Form eines hyperaktiven Prügelspiels voller durchgeknallter Elemente inszeniert. Durch die Ausstrahlung auf RTL2 ab 1999 erfreut sich die Serie bei uns großer Beliebtheit.

In Assassination Classroom geht es um ein gelbes Tentakelwesen namens Koro-sensei, das wie ein Emoticon aussieht und eigentlich die Erde vernichten möchte, zunächst aber noch die Klasse 3-E als Klassenlehrer ein Jahr lang unterrichtet (warum auch immer). Die Klasse wird darauf trainiert, Koro-sensei zu töten, während der dabei eine Riesenspaß hat und sich als guter Lehrer entpuppt.

Alltagsanime (nichijokei, im Englischen als "Slice of Life"-Anime bekannt)

Hierbei handelt es sich um Geschichten, die im ganz normalen Alltag spielen, ohne übernatürliche Elemente, Verbrechen und Superagenten. Doch auch dort gibt es Filme und Serien, die mit Hilfe von Genreelementen erzählt werden. Wie zum Beispiel in der Serie The Great Passage, in der es darum geht, dass ein junger Verlagsmitarbeiter dabei helfen soll, ein neues Wörterbuch zu erstellen – aber inszeniert, als ginge es darum, die Welt zu retten. Ähnlich dramatisch kommt die Serie Food Wars von 2015 daher, in der Küchenduelle zu epischen Schlachten ausarten und die sogar Tentakelsexszenen enthält, denn Tintenfisch ist ja ein in Japan beliebtes Gericht. Eine Kochshow, die definitiv nichts für Kinder ist.

Ausblick auf Teil 3 der Artikelreihe

In Teil 3 werde ich auf einige herausragende Filmemacher wie Hayo Miyazaki, Mamoru Hosoda oder Makoto Shinkai eingehen, deren Werke ich hier in der Genreübersicht fast völlig ausgeblendet habe, da sie beinahe schon den Status eines eigenen Genres besitzen. Im Weiteren geht es dann noch um einige kontroverse Themen im Anime, wie die Darstellung von Frauen, Gewalt und Sexualität.

Hier geht es zu Teil 1, in dem ich einen kurzen Überblick über die Geschichte des Animes gebe.

Markus Mäurer

Der ehemalige Sozialpädagoge und Absolvent der Nord- und Lateinamerikastudien an der FU Berlin, der seit seiner Kindheit zwischen hohen Bücherstapeln vergraben den Kopf in fremde Welten steckt, verfasst seit über zehn Jahren Rezensionen für Fantasyguide.de, ist ebenso lange im Science-Fiction- und Fantasy-Fandom unterwegs (Nickname: Pogopuschel) und arbeitet seit einigen Jahren als Übersetzer phantastischer Literatur. http://lesenswelt.de/