Fantasy

"Sandman" von Neil Gaiman auf Netflix: Die Ewigen um Dream zum Lesen, Streamen und Träumen

"Sandman" von Neil Gaiman auf Netflix:
© Netflix
Christian Endres, 05.08.2022
 

Nach langem Warten hat es Neil Gaimans Kult-Comicreihe "Sandman" jetzt auf den Bildschirm geschafft. Seit heute ist die 1. Staffel der Serie bei Netflix verfügbar. Christian Endres hat sie sich bereits angesehen und stellt uns Vorlage wie Adaption genauer vor.

Neil Gaiman ist ein Rockstar der modernen Fantastik. Wer seine Bücher nicht kennt, hat vermutlich zumindest schon mal etwas von ihren Multimedia-Adaptionen mitbekommen, allen voran „Der Sternwanderer“, „American Gods“ und „Good Omens“. Jetzt trendet Netflix’ neue Streaming-Serie „Sandman“, und die basiert auf Comics, die Mr. Gaiman vor beinahe 40 Jahren zum Superstar machten – und mit denen er die gesamte Fantastik revolutionierte.

„Sandman“ dreht sich in all seinen Inkarnationen zwischen DC Comics, Audible-Hörspiel und Netflix-Serie um das Pantheon der göttlich-anthropomorphen Ewigen: um Traumkönig Dream und seine Geschwister Death, Destiny, Despair, Delirium, Destruction und Desire. Zwischen 1989 und 1996 inszenierte der englische Autor Neil Gaiman seine mehrere tausend Seiten umfassende, mit Preisen überschüttete Comic-Saga „Sandman“ – einen wahren Meilenstein des grafischen und des fantastischen Erzählens - mit Zeichnern wie Sam Kieth, Mike Dringenberg, Charles Vess, Colleen Doran, P. Craig Russell und Cover-Künstler Dave McKean.

„Sandman“ half zu Hochzeiten der „britischen Invasion“ des US-Comic-Marktes durch Kreative wie Alan Moore („Watchmen“, „Swamp Thing“), Grant Morrison („Doom Patrol“) und eben Gaiman dabei, die amerikanischen Bildergeschichten in Heftform erwachsen werden zu lassen, und erschloss ihnen ein neues Publikum abseits der Superhero-Enthusiasten. Die „Sandman“-Comics veränderten also Anspruch und Wahrnehmung von Comics im Besonderen und von Fantasy-Stoffen im Allgemeinen. Durch sein metaphorisches, referenzreiches Fantasy-Epos verschob der 1960 geborene Gaiman, der damals erst ein paar Comics geschrieben hatte („Black Orchid“, „Miracleman“), die Möglichkeiten von Medium und Genre.


Im Reich der Träume

Die Geschichte beginnt stets mit Dream alias Lord Morpheus, dem düsteren, bleichen König des Traumlands und des Träumens, der in seinem Reich u. a. von seinem vorlauten Raben Matthew, seiner rechten Hand Lucien, Hausmeister Merv Kürbiskopf und den mörderischen Brüdern Kain und Abel unterstützt wird. Eines Tages jedoch beschwört der menschliche Magus Roderick Burgess, der eigentlich Death fangen will, Dream und hält ihn in seinem Keller gefangen. Millionen Menschen können nicht mehr schlafen, oder wachen nicht mehr auf.

Nach einhundert Jahren Gefangenschaft muss Dream das verwahrloste, zerfallene Reich der Träume in Ordnung bringen, seine Macht wiedererlangen und dazu als Erstes seinen Gasmasken artigen Helm, seinen Rubin und seinen Sandbeutel wiederfinden. Zudem jagt Morpheus abtrünnige Träume und mehr noch Albträume wie den mörderischen Korinther, der Zähne statt Augäpfeln hat und in der Welt der Menschen zum Serienkiller geworden ist ...

Innerhalb der Comic-Szene wurde „Sandman“ trotz seines Starts mitten in den finstersten Ecken des DC-Superhelden-Kosmos (in den ersten Heften waren sogar Batman-Schurke Scarecrow und Justice League-Gegner Dr. Destiny zu sehen) schnell eine eigenständige Mythologie: Eine einzigartige Geschichte über Träume; über die Macht von Geschichten und des Erzählens selbst; und über Märchen, Historisches und alles, was uns Menschen antreibt, ausmacht und auszeichnet. Mit Anleihen bei den antiken Sagen, Milton, Shakespeare, Dickens, Lord Dunsany, Poe, Winsor McCay, Jack Kirby, David Bowie, Lou Reed, Alan Moore und anderen. Gaiman präsentierte vielseitige, durch alle Zeiten und Welten springende Storys über Dream, seine entzückende Schwester Death und den Rest der intriganten Ewigen – und natürlich die Menschen, die in allen möglichen Epochen und Situationen mit ihnen interagieren.

Dabei setzte sich die „Sandman“-Comic-Hauptserie, die von Redakteurin Karen Berger gefördert und Anfang der 1990er zu einer tragenden Säule von Bergers wichtigem Vertigo-Label bei DC Comics werden sollte, aus zwei Arten von Erzähleinheiten zusammen: aus in jeder Hinsicht fantastischen und unberechenbaren Einzelstorys mit den Ewigen als Randfiguren, welche die gesamte Klaviatur der Fantastik anstimmen und selbst Shakespare oder Marco Polo als Protagonisten einbeziehen; und aus langen, ambitionierten und fordernden Meta-Storybögen um Dream und jene Menschen, deren Schicksal mit dem seinem verschmilzt.

Der lange Traum einer Adaption

Die gefeierten Comics entwickelten wenig überraschend eine Dynamik wie der klassische Cthulhu-Mythos oder ein typisches Superhelden-Franchise. Es entstanden zahlreiche Comic-Spin-offs, die oft von anderen Kreativen als Gaiman getextet wurden – bis heute, aktuell schreibt James Tynion IV eine neue „Sandman“-Serie für DC, die den Korinther als Antihelden behandelt. Kurz davor, das könnte jetzt für Netflix-Fans besonders interessant sein, kam es sogar zu einem Panel-Crossover zwischen „Sandman“ und den „Locke & Key“-Comics von Stephen-King-Sohn Joe Hill und Zeichner Gabriel Rodriguez.

Neil Gaiman selbst wurde übrigens im Alter von 14 Jahren durch Will Eisners wegweisenden Panel-Helden Spirit dazu inspiriert, selbst einmal Comic-Autor zu werden. Parallel zum Spirit entdeckte Gaiman 1975 den bunten DC-Superhelden Sandman von Joe Simon und Jack Kirby, der im Reich der Träume unterwegs war und von dem aus Gaiman später seinen eigenen Gothic-Sandmann entwickelte, an dessen Erfolg am Anfang niemand glaubte, weshalb Gaiman alle Freiheiten hatte – und nutzte.

Die Legende von Dream und Co. entfaltet sich seit 5. August 2022 in einer ersten Staffel auf Netflix, und somit auf diversen Screens. Eine Adaption der Comics, die in Sammelbandform sozusagen „ewige“ Bestseller sind, war ab den 1990ern regelmäßig im Gespräch, obgleich sich Gaiman selbst zunächst gegen die Idee einer Verfilmung sperrte, da er der Meinung war, keine zweistündige Leinwand-Fassung könnte der Komplexität des vielschichtigen Comic-Zyklus gerecht werden (ein berechtigter Einwand). Doch auch eine TV-Serien-Umsetzung durch Eric Kripke („Supernatural“, „The Boys“) kam vor einigen Jahren nicht zustande, genauso wenig wie die erhoffte Verfilmung mit Joseph Gordon-Levitt als Dream.

Schon damals war Autor und Producer David S. Goyer („Batman Begins“, „Blade“) an der Projektentwicklung beteiligt, da ging es allerdings noch um einen einzelnen Blockbuster. Aufgrund der erfolgreichen Streaming-Serien-Adaptionen von „American Gods“ (nach Gaimans bekanntestem Fantasy-Roman) und „Good Omens (diesen satirischen Roman über die Apokalypse schrieb Gaiman einst zusammen mit Terry Pratchett) wurde „Sandman“ unter Gaiman, Goyer und Allan Heinberg („Sex and the City“, Schöpfer von Hawkeye Kate Bishop und Marvels Young Avengers) jetzt eine Netflix-Serie mit Tom Sturridge („Radio Rock Revolution“) als Traumkönig.

Kurioserweise brachte es Lucifer, den Gaiman im ersten „Sandman“-Comic-Storyarc als Herrn der Hölle installierte und der später eigene Comic-Reihen von Mike Carey, Peter Gross, Holly Black und anderen erhielt, schon 2016 zu einer Fernseh-Interpretation mit Tom Ellis als teuflischem Hauptdarsteller der übernatürlichen Krimiserie (und einer treuen Fangemeinde, die nach Absetzung bei Fox in den USA dafür sorgte, dass Netflix für eine Fortsetzung und einen Abschluss von „Lucifer“ übernahm).

Morpheus auf Netflix

Nicht nur deshalb verkörpert in Netflix’ ersten zehn „Sandman“-Episoden Gwendoline Christie („Game of Thrones“) Lucifer Morningstar in der Hölle – so, wie Jenna Coleman („Doctor Who“) aus lizenzrechtlichen Gründen eine weibliche Version des taffen Okkultisten John Constantine spielt, die mit der historischen Lady Johanna Constantine in den „Sandman“-Comics seit 1990 eine Entsprechung hat. Die in den Comics als blasses Gothic-Mädel abgebildete Death wird in der „Sandman“-Serie zum Gucken und Bingen überdies von der schwarzen Schauspielerin Kirby Howell-Baptiste („The Good Place“) verkörpert, dasselbe gilt für Vivienne Acheampong („The One“) als Lucien. Das macht den auch in Sachen Gender schon immer vielfältigen, progressiven und modernen Stoff auf dem Bildschirm noch diverser und zeitgemäßer, noch aktueller und zeitloser. Darüber hinaus hat man die Handlung, die auf Netflix im alten England zwischen den großen Kriegen losgeht und danach in verschiedene Gefilde der Wachwelt und des Traumlandes aufbricht, etwas näher an unsere Gegenwart herangeholt.

„Die ersten sechs Folgen sind fast wie sechs Filme, mit eigenen Welten und eigenem Cast“, schwärmt Showrunner Heinberg in einem Interview über den Live-Action-Einstieg in die „Sandman“-Saga. Generell kann man festhalten: Der Netflix-Remix der „Sandman“-Comics reduziert, ergänzt, arrangiert neu, sucht sich seinen eigenen Weg in die Geschichte – und fasziniert dennoch wie erhofft. Vielleicht ist manch ein CGI-Effekt und Hintergrund-aus-dem-Rechner zu glatt, manch eine Kamerafahrt too much, vielleicht fehlt dem Design manchmal ein bisschen Schmutz und etwas Patina, wie das bei vielen Hochglanz-Produktionen heute so ist.

Aber die Faszination „Sandman“ stellt sich ohne Zweifel in der Streaming-Auslegung des Comic-Meisterwerks ein, die bis in die Nebenrollen und Synchros (Stephen Fry als Gilbert, Mark Hammil als Merv Kürbiskopf, Patton Oswalt als Rabe Matthew) gut besetzt wurde. Gaiman, Goyer und ihre Crew haben es geschafft, einerseits eine detailverliebte und werkgetreue, andererseits für alle sofort zugängliche Adaption zu schaffen, die letztlich selbst Fans überraschen und sowieso verzaubern kann, da sie Zitate, Zugeständnisse und Zugaben geschickt kombiniert. Und wahrscheinlich ist eine solche Umsetzung wirklich erst jetzt, in dieser Ära des kostspieligen Web-Fernsehens, möglich gewesen.

Knapp vier Jahrzehnte war „Sandman“ ein Werk des Comics. Jetzt ist die Geschichte von Dream und den Ewigen auch ein Werk des Fernsehens und findet abermals ein neues Publikum. Netflix, wo man mit „The Umbrella Academy“ bereits einen Comic-Knüller im Angebot hat, ließ sich das angeblich 15 Mio. Dollar pro Episode kosten. Auf Audible wurde das „Sandman“-Hörspiel die erfolgreichste Eigenproduktion und Adaption der Plattform, mal sehen, ob das dem Netflix-Pendant ebenfalls gelingt. Die Perspektive der Odyssee durch die Menschenwelt und das Traumland ist schwer einzuschätzen: Der Name Neil Gaiman hat Gewicht, Fantasy boomt, das Quellmaterial ist super und gibt viel her, und doch wird die Vorlage mit jedem Kapitel anspruchsvoller, noch schwieriger aufzubereiten und einzufangen. Vom Umfang oder dem verworrenen roten Faden zwischen brillanten anderen Fabeln und Reflexionen ganz zu schweigen.

Update: Nach zwei Wochen in der internationalen Netflix-Top10 gab es eine nachgeschobene, teils animierte Bonusfolge mit zwei der besten Single Storys aus den frühen Comic-Bänden, um Musen und Katzen. Gaiman sagte indes, eine zweite Staffel sei noch nicht spruchreif, Netflix wolle sich erst die Performance der ersten Season im gesamten Release-Monat August betrachten.

Nun, wir werden sehen. Fürs Erste ist Netflix’ „Sandman“ die Adaption, von der Comic-Schlafwandler nie zu träumen gewagt haben.

Christian Endres ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Artikeln und anderem. Außerdem arbeitet er seit fast 15 Jahren als Redakteur für Panini Comics und kümmert sich dort um Spider-Man, die Avengers und Batman, aber auch die Sandman-Titeln. Erreichen kann man ihn auf seinem Twitter-Account.

Bilder Netflix: Courtesy Of Netflix © 2022

Bilder Comics: © 2022 DC Comics. All Rights Reserved

Christian Endres

Christian Endres schreibt für den Tagesspiegel, Tip Berlin, diezukunft.de, phantastisch!, Doppelpunkt, Geek! und viele mehr. Für Panini betreut er redaktionell die Comic-Ausgaben von Spider-Man, Batman, Conan, den Avengers und anderen. Neben den Büchern „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ und „Die Zombies von Oz“ veröffentlichte er Geschichten in Anthologien, Magazinen wie c’t und Exodus, der Heftreihe Basement Tales, Basteis Horror Factory sowie auf Englisch im Sherlock Holmes Mystery Magazine und in Heavy Metal. Er wurde bereits mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

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