Fantasy

Fantasy gestern und heute. Wie hat sich das Genre in den letzten zehn Jahren verändert?

Fantasy gestern und heute
© pixabay/Keller

Christian Handel, 14.05.2021

Wie hat sich die deutschsprachige Fantasy in den vergangenen zehn Jahren verändert? Hat sie das überhaupt? Ist sie wirklich diverser und mutiger geworden? Oder war früher alles besser? Wir wollen es genau wissen – und haben Autor*innen, Lektor*innen und Übersetzer*innen nach ihren Einschätzungen gefragt.

Deutschsprachige Fantasy vor zehn Jahren

Zur besseren Einordnung werfen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit. Zu den Titeln, die damals hierzulande erschienen, zählen unter anderem Bernhard Hennens Drachenelfen, die Grim-Trilogie von Gesa Schwartz, Kai Meyers Arkadien-Reihe, Markus Heitz‘ Albae-Romane, Das Labyrinth der Träumenden Bücher von Walter Moers, die Bände 2 und 3 der Mara-Trilogie von Tommy Krappweis, Ascheherz von Nina Blazon, Die Sturmjäger von Aradon von Jenny-Mai Nuyen, Bluttrinker von Stephan R. Bellem und Magierdämmerung von Bernd Perplies. Jennifer Benkau gab mit Nybbas Träume im Kleinverlag ihr Debüt und Tanja Heitmann veröffentlichte weitere Bände ihrer Romantasy-Reihe, die ein paar Jahre zuvor mit Morgenrot startete.

„Wenn man in die nuller Jahre zurückblickt, dann sieht man ja vor allem eins: ein Heer aus Zwergen, Elfen, Orks und Trollen“, sinniert Andy Hahnemann von FISCHER Tor. „Die deutsche Fantasy war heftigst damit beschäftigt, die Tolkienvölker durchzudeklinieren und hatte wenig Lust auf anderes.“ Da habe sich in den letzten Jahren viel getan. Märchenfantasy habe eine Blüte gehabt, Urban-Fantasy- und sogar Steampunksettings ließen sich vereinzelt blicken. „Der Diversity-Diskurs hat es über den Atlantik geschafft und hinterlässt mittlerweile seine Spuren in dem einen oder anderen Buch.“ Für ihn sind dies alles hoffnungsvolle Signale: Die Autor*innen trauen sich seiner Ansicht nach mehr, und immer häufiger ziehen die Leser*innen, die größeren Verlage und sogar der Handel mit.

Düster, dreckig, amoralisch?

Den Siegeszug der Völkerfantasy hatte seinerzeit die Herr der Ringe-Verfilmung von Peter Jackson eingeleitet. Vor rund zehn Jahren, 2012, kam dann der erste Teil seiner Hobbit-Trilogie in die Kinos und so mancher erhoffte sich ein neues goldenes High Fantasy-Zeitalter. Als inhaltlich prägender erwies sich dann jedoch eine andere Adaption: HBO startete im April 2011 die Ausstrahlung von Game of Thrones. Fortan wurde die fantastische Literatur deutlich düsterer und dreckiger (Stichwort Grimdark)

Fantasy-Autor Stephan R. Bellem (BluttrinkerDer Ruf der Rusalka) bedauert dies. Ihm fehlt das Epische, das zuvor die Post-Tolkien-Fantasy prägte. Mit Game of Thrones sei der Trend losgetreten worden, möglichst alle Charaktere möglichst zwielichtig und „moralisch flexibel“ zu gestalten. „Sind sie es nicht“, erklärt er, „gehen sie drauf.“ Aber: „Wann immer ein Kniff zum Selbstzweck verkommt, driftet er ins Klischee ab. Vielleicht wäre es mal wieder an der Zeit, ein Klischee zu brechen?“

Bellem hat das Gefühl, dass der Hype um Grimdark Fantasy bereits zum Erliegen gekommen ist. Und findet das gar nicht schlimm. Er wünscht sich „mehr Mut zum Eskapismus. Die Welt da draußen ist doch deprimierend genug. Das heißt nicht, dass der Weg zum Happy End langweilig sein muss!“

Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Fantasy kommt es Jenny-Mai Nuyen (Die Töchter von Ilian, Das Drachentor) so vor, als hätten sich Subgenres weiter spezifiziert. Nischen würden sich mit ihren jeweiligen Tropen und Lesererwartungen festigen. „Man könnte meinen, starre Kategorien engen die Kreativität ein“, sagt sie. „Aber ich denke, wo die Grenzen immer klarer gezogen werden, gibt es auch mehr Möglichkeiten charmanter und kluger Rebellion. Ich beobachte viel Innovation, wo verschiedene Subgenres gekreuzt werden und so ganz neue, unerwartete Geschichten entstehen.“

„Die großen Namen sind immer noch dieselben wie vor zehn Jahren.“

Gesa Schwartz (Die Chroniken der Schattenwelt, Ella Löwenstein) sieht das wesentlich pessimistischer: „Ich sehe derzeit keine relevante Phantastikszene mehr in Deutschland im Sinne von: Verlage, Autor*innen, auch Leser*innen, die eine wie weit auch immer gefasste gemeinsame Agenda haben, eigene, neue, unabhängige Ideen entwickeln und einer breiten Öffentlichkeit präsentieren bzw. von eben dieser wahrgenommen werden.“ Interessante neue Stimmen und besondere Geschichten seien abseits ihrer jeweiligen Bubble weitgehend unbekannt. Die Namen, die groß sind, seien immer noch dieselben wie vor zehn Jahren.

Bernd Perplies (Tarean-Trilogie; Wolkenmeer-Reihe), der seit 2008 Fantasy- und Science Fiction-Romane veröffentlicht, kann da nur teilweise zustimmen „Der Fantasy-Hype hat definitiv nachgelassen.“ Er führt an, dass viele Kollegen nicht mehr in den Großverlagen publizieren – und wenn doch, dann in anderen Genres. Ihm kommt es so vor, als habe sich die deutschsprachige Fantasy in den vergangenen Jahren zunehmend weg vom Publikumsverlag und hin zum Kleinverlag und ins Selfpublishing verlagert. „Ich weiß nicht, wie es um die phantastische Kleinverlagsszene vor zehn Jahren bestellt war“, gibt er zu, „aber heutzutage wirkt sie extrem lebendig (Corona-Rückschläge mal außen vor belassen). Gleiches gilt fürs Selfpublishing, das für viele mittlerweile eine völlig akzeptable Alternative zu sein scheint, um fantastische Geschichten - auch schräge Stoffe - zu realisieren.“

Mehr Fantasy von Frauen?

Was er begrüßt ist, dass in den Publikumsverlagen endlich mehr deutschsprachige Autorinnen veröffentlicht werden als noch vor zehn, fünfzehn Jahren. „Als ich anfing zu veröffentlichen, hießen meine Kollegen (neben den Bestsellern Heitz und Hennen) Christoph Hardebusch, Stephan Russbült, Oliver Plaschka, Stephan Bellem, Falko Löffler und Christoph Lode. Heute sind es Madeleine Puljic, Katharina V. Haderer, Nicole Gozdek und Anett E. Schlicht. Hier zeigt sich gefühlt ein positiver Wandel.“

Den beobachtet auch Markus Heitz. „Subjektiv gesprochen, ist das Genre erkennbar weiblicher und moderner geworden.“

Bellem stimmt seinen beiden Kollegen nur bedingt zu. Was er sich von den Publikumsverlagen wünscht, ist mehr Mut in mehrfacher Hinsicht: „Mein Eindruck ist, dass viele Verlage noch sehr stark in alten Geschlechterrollen denken: Schreibt man epische Fantasy, „muss“ man ein männliches Pseudonym wählen. Schreibt man unter weiblichem Pseudonym, dann bitte Romantasy. Im Jugendbuch und New Adult Bereich ist die deutsche Fantasy recht stark vertreten, wenn auch nicht immer im Buchhandel sichtbar. Denn vieles davon geschieht im Kleinverlag. Neuauflagen alter Klassiker helfen nur bedingt, dass der deutschsprachige Markt sich weiterentwickelt. Wenn Jungautor*innen nicht nur gegen die aktuellen Titel aus Amerika antreten, sondern auch noch gegen diverse Neuauflagen, wird sich die Situation leider nicht verbessern.“

Und wie sehen das die Verlage?

Knaur Fantasy möchte mit seinem Programm einen solchen Vorwurf nicht nur entkräftigen, sondern hat es sich sogar auf die Fahnen geschrieben, moderne und feministische Fantasy und Science Fiction an die Leser*innen zu bringen. „Mit unseren Titeln möchten wir besagte Geschlechterrollen und Genreverteilungen aufbrechen“, betont Maria Weber, Lektorin für Fantasy & Science Fiction. „Fantasy von Frauen kann sehr viel mehr als nur Romantasy und Urban Fantasy sein und sie ist längst über diesen Vorwurf hinausgewachsen. Durch den Hype, der sich gerade vor allem um New Adult und Romantasy im Jugendbuch niederschlägt, mag das ein wenig aus dem Blickfeld geraten, aber auch bei Publikumsverlagen findet man (Jung-)Autorinnen mit ihren modernen Fantasyromanen für Erwachsene.“ Sie verweist u. a. auf Katharina V. Haderer, die in ihrer Black-Alchemy-Trilogie düstere High Fantasy rund um Hexenglauben und Nekromantie geschrieben hat.

„Die Völkerfantasy und die klassische High Fantasy erfreuen sich immer noch großer Beliebtheit“, betont Karin Pauluth, Lektorin für Fantasy & Science Fiction bei der Verlagsgruppe Piper. Inzwischen sei jedoch eine deutlich größere Vielfalt spürbar. So habe die deutschsprachige Fantasy es in den letzten Jahren immer wieder geschafft, sich neu zu erfinden und sich mit aktuellen Themen zu befassen. „Momentan beobachten wir insbesondere, dass die Grenzen zwischen den Genres immer fließender werden“, berichtet sie. „Es entstehen innovative Genremischungen, mit denen sich die deutschsprachige Fantasy eine junge und dynamische Leserschaft erschließt.“ Ein Beispiel dafür sei der frisch erschienene Roman Tears of Light von Ava Blum, in dem eine romantische New-Adult-Geschichte mit spannenden Elementen der Science-Fiction angereichert wird.

Pia Cailleau, die Programmleiterin des Carlsen-Imprints Impress, freut sich darüber, dass sich endlich auch alteingesessene Verlage wieder trauen, die deutschsprachige Fantasy breiter zu verlegen. „Die deutschsprachige Fantasy ist allem voran gewachsen! Endlich wurden all die vergessenen Fantasy-Manuskripte aus den Schubladen geholt und dank der plötzlich auftauchenden Schreib- und Selfpublishingplattformen öffentlich gemacht, gelesen und oftmals gefeiert.“ Inzwischen erscheinen nicht nur Romane von ein paar Auserwählten, sondern eine Vielzahl deutschsprachiger Fantasy-Autor*innen würde gefördert. „Alles in allem eine tolle Entwicklung!“ 2020 erschienen knapp über 70 Titel bei Impress.

Über die Wichtigkeit von Social Media

Beatrice Lampe betrachtet das Thema aus einem anderen Blickwinkel. Sie ist Senior Lektorin bei Blanvalet, Limes & Penhaligon. Nicht nur in der Wahl ihrer Stoffe habe sich die Fantasy in den letzten Jahren verändert, sagt sie, sondern auch die Art und Weise, wie sie wahrgenommen und vermarktet wird: „Wie viele Genres ist Fantasy kein Selbstläufer mehr – deutschsprachige Autor*innen müssen für Leser*innen in sozialen Medien sichtbar sein und mit diesen interagieren wollen.“ Leser*innen sollten wir alle viel stärker als Fans und Follower denken. Diese verschafften Autor*innen nicht nur Buchverkäufe, sondern auch starke zusätzliche Aufmerksamkeit durch Verlinkungen, Klicks und Votes. „Natürlich bedeutet das harte Arbeit jenseits des Manuskripts.“

Andererseits habe ausgerechnet die Fantasy in diesem Kontext einen entscheidenden Vorteil: „Ist es nicht herrlich, dass gerade Fantasy-Cover so gerne auf Instagram inszeniert werden? Da ist unser Genre der allgemeinen Unterhaltungsliteratur eindeutig voraus – und dadurch tut es auch nicht so weh, dass Fantasy im Feuilleton kaum stattfindet. Das hat sich nämlich nicht verändert.“

Mehr Diversity auch in der Fantasy

Gerade in den letzten Jahren erkennt Maria Weber von Droemer Knaur zudem eine vermehrte Hinwendung zu diversen Themen und zu einer stärkeren Repräsentation marginalisierter Gruppen – nicht nur, aber auch in der Fantasy. „Es fällt ein moderner Blick auf bekannte Muster. Die Protagonist*innen werden neu erfunden und können sich von starren Rollenmustern und Verhaltenskonventionen lösen.“

Ein Muster, das auch die freie Lektorin und Übersetzerin Michelle Gyo erkennt: „Ein wichtiges Thema, das immer mehr Raum einnimmt, ist Diversität. Noch ausbaufähig, sicher. Aber es gelangt immer weiter in den Mainstream.“

Sie hält die deutschsprachige Fantasy für inzwischen breiter aufgestellt als noch vor zehn Jahren. „Bei den Verlagen gibt es erfreulicherweise viele deutschsprachige Autor*innen im Programm“, beobachtet sie. Das sei keine direkte Veränderung, da die Verlage auch früher schon deutschsprachige Werke unterstützt haben. Doch sie hat den Eindruck, dass dies gerade in den letzten Jahren nochmal zugenommen hat.

Auch Emily Huggins betont, dass sich im Genre in den vergangenen Jahren viel getan hat. Die Programmleiterin des Kinder- und Jugendbuchverlags Ueberreuter findet, die deutschsprachige Fantasy sei professioneller, selbstreflektierter, aber auch vielfältiger geworden. „Während man früher oft mal die amerikanische und englische Fantasy in Stil, Themen und Komplexität pauschal von der deutschen Fantasy unterschieden hat, glaube ich, dass man inzwischen immer öfter Schwierigkeiten hätte, da zu trennen.“ Es gäbe immer noch eine eigene deutsche phantastische Tradition, die weit in die Romantik zurückgehe, aber Weltenbau, Figurenpsychologie und Sprache seien noch mal diverser, vielfältiger und moderner geworden.

Hängen wir den Amerikanern zehn Jahre hinterher?

Der Autor James Sullivan (NuramonDie Stadt der Symbionten) stimmt zwar erfreut zu, dass Diversität, Anti-Rassismus und Feminismus sich inzwischen deutlicher in Erzählwerken abbilden. Insbesondere durch die sozialen Netzwerke würden diese Themen viel offener und auf unsere Situation bezogen diskutiert. Er glaubt jedoch nicht, dass die deutschsprachige Fantasy gegenüber Romanen aus Übersee inzwischen aufgeholt hat. Im Gegenteil: „Wir sind im letzten Jahrzehnt noch weiter hinter die internationale Fantasy zurückgefallen, weil wir die Debatten, die dort geführt wurden (RaceFail, Sad Puppies, usw.), und die dadurch aufgeworfenen Fragen zu selten aufgegriffen haben. Wir haben als Genre eine eigene Debatte in weiten Teilen verweigert und die Vielfalt in der internationalen Szene dementsprechend kaum noch nachvollziehen können.“

Zum Glück würde endlich auch in der hiesigen Phantastik-Branche über diese Themen gesprochen. Dank Twitter, Instagram & Co. seien wir füreinander sichtbarer geworden. Dadurch erkenne man aber auch die Gräben zwischen uns, die wir bisher nur in der anglo-amerikanischen Szene zu sehen glaubten. „Wir sind jetzt dort“, sagt Sullivan, „wo die internationale Szene vor etwa zehn Jahren war, haben aber die Möglichkeit, auf der Basis unserer besonderen Gegebenheiten aufzuholen.“

Wünsche für Morgen … und für Jetzt!

Was würde er sich künftig von der deutschsprachigen Fantasy wünschen?

„Dass wir auf allen Ebenen mehr wagen“, erklärt Sullivan, „in dem wir Traditionen hinterfragen, das Nützliche aufgreifen und weitertragen und das Obsolete fallen lassen, und dabei immer bedenken, dass jeder Text eine Abbildung unserer Gesellschaft ist.“

Er wünscht sich mehr Bewusstsein bei dem, was wir tun. Dass Autor*innen sich öfter fragen, welchen Bezug unsere Texte zur Wirklichkeit haben und wie sie gelesen werden können. „Denn die Bedeutung unseres Genres besteht nicht in einer Verweigerung der Realität, sondern in ihrem besonderen Bezug zur Realität. Ich wünsche mir eine Fantasy, die auf allen Ebenen progressiv ist und dazu führt, dass wir im internationalen Gefüge eine eigene Stimme finden.“

Gesa Schwartz sieht das ganz ähnlich. Auch sie träumt von mehr Mut.  Und wünscht sich „eine Besinnung auf die eigenen Qualitäten, ein gesundes Selbstbewusstsein, die eigenen Geschichten zu erzählen, und den Ehrgeiz, eine eigene Stimme auszubilden, die - auch international - einzigartig ist. Und mit Blick auf den gesamten Markt: eine Rückbesinnung darauf, dass die literarische Phantastik in unserem Land erfunden wurde. Wir brauchen keine Vorbilder, um großartige phantastische Geschichten zu erzählen.“