James A. Sullivan und Judith Vogt, 16.08.2020
James A. Sullivan und Judith Vogt entwickeln das Konzept einer Progressiven Phantastik, die die Traditionen des Genres auf allen Ebenen hinterfragt, überkommene Motive aktualisiert und ungeahnte Kombinationen wagt.
Progressive Phantastik, was ist denn das? James A. Sullivan kündigte sein neustes Projekt auf Twitter als „Progressive High Fantasy“ an und formulierte den Gedanken einer progressiven Phantastik zusammen mit Nora Bendzko im Phantastik-Brunch-Podcast aus. Hier schreibt er zusammen mit Judith Vogt darüber.
Was ist Progressive Phantastik?
Wie jedes andere Genre bildet auch die Phantastik unsere Welt auf Erzählwelten ab – mitsamt unseren Träumen, Ängsten, Zielen und Hoffnungen. Die Phantastik eignet sich besser als jedes andere Genre dazu, Dinge, die noch nicht geschehen sind, so darstellen, als wären sie bereits geschehen oder als wären sie nie anders gewesen. Zugleich sind unsere Texte wie die aller Genres in Traditionen eingebettet, die seit langem bestehen und noch zu selten hinterfragt werden.
Die Progressive Phantastik setzt an der Stelle an, an der die Traditionen der Abbildung von Realität im Phantastischen im Weg stehen. Sie ist sich darüber im Klaren, dass jeder Text politisch ist und greift generell progressive Konzepte wie zum Beispiel Feminismus und Diversität auf und bildet sie in Erzählwelten ab. Das Progressive beschränkt sich aber nicht nur auf die Inhalte, sondern bezieht sich in Anlehnung an Progressive Rock und Progressive Metal in der Musik auch auf die Form. Statt unreflektierten Gewohnheiten oder präskriptiven Ratgebern zu folgen, sucht die Progressive Phantastik nach Formen, die den jeweiligen Stoff am besten zur Geltung bringen.
Progressive Phantastik beruht demnach auf einer Haltung, die Traditionen auf allen Ebenen hinterfragt, die obsoleten oder unpassenden fallen lässt, um dann mit den übrigen weiterzuarbeiten.
Die Traditionen der Phantastik
Wenn wir uns die beiden großen Spielarten der Phantastik ansehen, scheint auf den ersten Blick alles klar zu sein: Die Science-Fiction wirkt progressiv; die Fantasy eher konservativ. Durch die Fokussierung auf die Zukunft fällt es der Science-Fiction leichter, mit Traditionen zu brechen. Sie muss einfach vieles fallen lassen, was in unserer Zeit bereits obsolet ist. Die Fantasy knüpft eher an alte - märchenhafte, mythische, mittelalterliche - Erzähltraditionen an, wodurch der Bezug auf uns und unsere Zeit oft nicht offensichtlich ist. Beispiele wären etwa die Artussage – Motive von Ritter*innen und Ritterlichkeit, Gralssuche und Held*innenreise – oder auch die Motive der Romantik oder jene aus den Fantasy-Werken des frühen 20. Jahrhunderts, vor allem bei Lord Dunsany und J. R. R. Tolkien. Der Bezug zu unserer Welt ist bei all diesen Erzählwerken nicht eindeutig. Das erschwert einerseits das Erkennen problematischer Traditionen, bietet aber auch Interpretationsspielräume und erklärt damit, warum z. B. die Artussage immer wieder aufgegriffen wird. Im Vergleich zu der Vorwärtsgewandtheit der Science-Fiction erscheint die Fantasy oft als das nostalgischere Genre. Es scheint von unserer Zeit losgelöst und traditionsverbunden zu sein. Ist es deswegen vielleicht schwieriger, progressive Fantasy zu schreiben als progressive Science-Fiction?
Wir glauben nicht – denn letztlich dreht sich „Progressivität“, unserem Verständnis nach, um die Geisteshaltung. Bleiben wir bei der Artusdichtung: Natürlich sind viele Motive immer noch faszinierend und relevant. Das Öde Land ist zum Beispiel aktuell wie nie. Doch statt rein historisierend vorzugehen, könnten wir uns die alten Traditionen und ihre phantastischen Elemente ansehen und überlegen, was zeitgemäß und für eine moderne Nacherzählung sinnvoll zu verwenden ist.
Was wir dafür – abseits von explizit historischen Fantasy-Romanen – loslassen müssen, ist das oft reproduzierte „Im Mittelalter war das aber so!“ oder schlimmer noch: „Dieses Detail in dem Fantasy-Roman kann nicht sein, weil es im Mittelalter anders war.“ (Ja, so etwas bekommen wir gelegentlich zu hören). Zunächst einmal verkennt ein solcher Einwand den Bezugspunkt der modernen Fantasy. Die Fantasy-Literatur steht weniger in der Tradition des „realen“ Mittelalters als in der Tradition der Literatur des Mittelalters – vor allem der Artusepik. Und dabei dürfen wir nie vergessen, dass die Artusepik nie eine realistische Abbildung der Wirklichkeit war. Man könnte sie als frühe Fantasy-Literatur bezeichnen. Wer also von Fantasy allgemein verlangt, sie solle historische Realität eins zu eins abbilden und nur ein bisschen Magie und einige Kreaturen hinzufügen, verkennt nicht nur, dass schon die Artusepik des Mittelalters diesen Ansprüchen nicht genügte, sondern verstellt auch den Blick auf all die Möglichkeiten, die wir als Schreibende haben, um diese alten Stoffe für unsere Zeit zu gewinnen oder aber unsere Zeit in diesen Stoffen sichtbar zu machen. Wir könnten das allgemein mit Traditionen tun, was in der Artusepik im Speziellen schon immer getan wurde: Wir schauen uns die Vorlagen an und adaptieren sie für unsere jeweilige Zeit und sorgen damit dafür, dass die Tradition in einem neuen Gewand überlebt.
Es ist verführerisch, eine Geschichte an „Altes“ und an historische Tatsachen anzulehnen. Es dient auch dazu, eine Leserschaft mit wiedererkennbaren Elementen in eine Geschichte zu transportieren und sie dort abzuholen, wo sie sich befindet bzw. gerne aufhält. Das ist Chance und Gefahr zugleich – eine Chance, weil wir dadurch Traditionen erneuern können; eine Gefahr, weil wir problematische Dinge reproduzieren und normalisieren. Zumindest wenn wir unreflektiert vorgehen. Reproduzieren und normalisieren wir hingegen nur das, was zu unserer Zeit passt, können wir die Motive, Stoffe und Themen am Leben halten, die für uns – Lesende, Schreibende, Verlagsmenschen – klassische Fantasy ausmachen.
Wozu dienen Traditionen?
Motive und Bilder können mit der Zeit zu einem Teil unseres kulturellen Gedächtnisses werden und damit Traditionen begründen oder modifizieren.
Es ist natürlich nützlich, auf ein gemeinsames Gedächtnis für archetypische Motive und Bilder, Figuren und Strukturen zurückgreifen zu können. Aber wenn sie uns blockieren und einschränken oder sogar verletzen, dann ist es Zeit für eine Brechung – eine Brechung von Stereotypen, eine Brechung von Erwartungen oder eine Erweiterung durch neue Ideen und gegenwärtige Motive und Gedanken, die das Alte anreichern und zu etwas Neuem machen.
Denn alte Vorstellungen bilden nach einer sexistischen, rassistischen, ableistischen und queerfeindlichen Geschichte unserer Kultur weiterhin Sexismus, Rassismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit ab – oft sogar auf einem Stand, der unserer Gegenwart weit hinterherhinkt. Und auch, wenn etwas „früher so war“ – was sich im Übrigen heute ohnehin in den seltensten Fällen als objektiver Fakt feststellen lässt –, schreiben wir für unsere Gegenwart und brauchen Motive und Bilder, die mit der Gegenwart resonieren.