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Wie das Zweite Zeitalter von Mittelerde die »Streaming Wars« gewinnen soll | Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht

Streaming Wars: Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht
© Prime Video
Marcel Aubron-Bülles, 12.07.2022
 

Am 2. September ist es so weit: Die teuerste Serie aller Zeiten wird beim US-amerikanischen Streaming-Anbieter Prime Video gezeigt, »Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht«. Tolkien-Experte Marcel Aubron-Bülles erklärt uns, was das für den Serien- und Streaming-Markt bedeutet.

Seit über fünf Jahren arbeitet das Team hinter den Kulissen an diesem Mammut-Projekt, vom ursprünglichen Pitch der beiden Showrunner Patrick McKay und JD Payne gezählt, als sich verschiedene Anbieter um die Chance beworben hatten, neue Geschichten in J.R.R. Tolkiens Welten zu erzählen.

Denn das werden die Fans im September sehen: neue Geschichten.

Was genau zwischen den Erben Tolkiens, Prime Video und den anderen Beteiligten vereinbart worden ist, bleibt vorerst natürlich Geschäftsgeheimnis, aber es wurde immer wieder betont, dass als Grundlage der Serie lediglich die Rechte an »Der Hobbit« und »Der Herr der Ringe« mit den stets zitierten Anhängen erworben wurden.

Weder »Das Silmarillion« noch die wissenschaftliche Edition von Tolkiens Werken, »The History of Middle-earth«, von denen nur die ersten beiden Bände im Haus- und Hofverlag Tolkiens in Deutschland, der Hobbitpresse bei Klett-Cotta als »Das Buch der Verschollenen Geschichten Teil I und II« erschienen sind:. Und schon gar nicht die »Unfinished Tales«, dem Zwitterband vor der »HoMe«, der als »Nachrichten aus Mittelerde« erschienen ist, und dessen immenser Erfolg 1980 deutlich machte, dass Leser*innen auf der gesamten Welt mehr erfahren wollten, was im ›Legendarium‹ Tolkiens alles geschieht - und vor allem, wie der künstlerische Schaffensprozess vor sich gegangen ist. Bedauerlich, denn hier nimmt das Zweite Zeitalter Mittelerdes großen Raum ein; beschreibt man hier doch die Insel Númenor, die Königslinie, die Geschichte Galadriels und Celeborns und nicht zuletzt das Beziehungsdrama von Aldarion und Erendis, bei dem die Interaktion von Liebe und Macht eindringlich beschrieben wird.

Wovon sprechen wir also eigentlich?

Was wissen wir über »Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht«?

Fast nichts.

Das mag überraschend klingen, vor allem, da in so großen und einflussreichen Publikationen wie ›Empire‹ und ›Vanity Fair‹ kürzlich kräftig die Werbetrommel gerührt wurde. Und natürlich kann man sich auf IMDB und über einige einschlägige Leak-Channels auf Twitter Informationen zusammensuchen, die hier und da Brotkrumen liefern, die aber über eins nicht hinwegtäuschen können: Diese Serie wurde und wird unter höchster Geheimhaltungsstufe gedreht und beworben.

Zwar sind Cast & Crew in Teilen bekannt, und natürlich haben einige der Schauspieler*innen hier und da auf ihren Instagram-Accounts Bilder und Anspielungen geliefert, die die neugierige und fast schon verzweifelte Fangemeinde zu den wildesten Theorien animierten. Dass John Howe als wichtiger Designer mitarbeitet, der ja bereits die Filmtrilogien Peter Jacksons entscheidend beeinflusst hatte, wurde von vielen als positiv eingestuft, wenn auch der Wunsch, endlich wieder Neues zu sehen anstelle der ästhetischen Fossilisation Mittelerdes der letzten zwanzig Jahre, vermutlich nicht erfüllt wird.

Aber im Grunde weiß niemand, was wir sehen werden. Die vollmundigen Pressetexte, in denen einfach nur Namen und Charaktere aus dem Zweiten Zeitalter Mittelerdes genannt werden, haben in etwa denselben Informationsgehalt wie die Aussage, dass der nächste ›Tatort‹ in Köln, Hamburg, München oder Berlin gedreht werden könnte, weil dies die vier größten Städte Deutschlands sind, und der ›Tatort‹ oft deutsche Städte als Hintergrund nutzt.

Andere ›Intellectual Properties (IP)‹ oder Marken der Film-, Fernseh- und Streamingwelt überschlagen sich mit neuesten Besetzungscoups, Interviews mit Regisseur*innen und anderen Menschen vor und hinter der Kamera, und dem ständigen Flirt zwischen der nächsten Produktion und der Fangemeinde.

Nicht so bei »Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht«.

Die Eine Marke, sie alle zu vernichten: Mittelerde.

Wer sich ein wenig für die Hintergründe des Wandels im Medienkonsum der letzten beiden Jahrzehnte interessiert und die digitale Revolution auch nicht ganz verschlafen hat, weiß, dass brachiale Umwälzungen das Geschäft verändert haben. Vorbei sind die Zeiten, als große Film- und Fernsehproduktionsgesellschaften den Ton angaben, was auf Leinwand und Bildschirme kam. Heute geben Namen wie Netflix, Disney+ und Amazon Prime Video vor, was produziert wird. Gleichgeblieben scheint nur, dass es im Wesentlichen immer noch US-amerikanische Firmen sind, die die großen Projekte entscheidend mitbestimmen.

Positiv formuliert heißt das in diesem Fall, dass Prime Video sich entschieden hat, diese Serie fünf Staffeln lang zu drehen, egal, ob sie nun die Hoffnungen erfüllt oder nicht. Fünfzig Stunden werden gedreht, die aller Wahrscheinlichkeit nach in  fünf Staffeln à acht Folgen aufgeteilt werden.

Was dies für die erzählerischen Freiheiten des ›Writers' Room‹ bedeutet, lässt sich jetzt noch nicht einschätzen, denn wir haben noch nichts von der Serie gesehen. Aber es lässt sich vermuten, dass dies eine freiere, kreativere Umsetzung der tolkienschen Themen ermöglicht, als es jemals zuvor in Film, Funk, Fernsehen und eben den Streaming-Diensten möglich war. Wo die meisten neuen Produktionen befürchten müssen, schon nach der ersten Staffel oder sogar mittendrin eingestellt zu werden, kann das Team aus dem Vollen schöpfen.

Und das erklärt auch, warum Jeff Bezos so viel Geld für diese Serie ausgegeben hat: Sie soll dieses Jahr und in den kommenden Jahren der Garant dafür sein, dass Amazon Prime Video den Thron der Streaming-Dienste erobert.

Alle anderen großen Marken waren schon verkauft: Marvel und Star Wars sind zu Disney-Gelddruckmaschinen verkommen, Paramount setzt unter anderem auf Star Trek, und generell entstehen nun neue Content-Monopole, was die meisten Zuschauer*innen, die nicht jeden Monat fünfzig Euro für Streaming ausgeben können, ziemlich nervt, mal ganz abgesehen davon, dass sich oft die Frage stellen lässt, ob es mehr als zwei Dutzende Filme einer Marke pro Jahr in Film & Streaming braucht, was aber natürlich allen selbst überlassen ist. You pay for what you watch.

Nur die Phantastik bot noch Chancen, und nach dem ›Rad der Zeit‹ von Robert Jordan schlug Prime Video bei der Marke zu, die eine der weltweit größten Fangemeinden besitzt, die zwei Filmtrilogien mit mehreren Milliarden Umsatz an den Kinokassen vorzuweisen hat, und auch in Zukunft jeglichen Umsatz garantieren wird: Mittelerde.

Ein neues Zweites Zeitalter entsteht - voller Hoffnung

Positiver ausgedrückt stehen die Chancen gut, dass die Zuschauer*innen weltweit Geschichten sehen werden, die im Wesentlichen ›Fanfiction‹ sind und daher alle kreativen Freiheiten genießen und keine stumpfe Adaptation. Denn dafür gibt es praktisch keine Vorlagen.

J.R.R. Tolkien ist dafür berüchtigt, dass er gefühlt tausendfach mehr geschrieben als veröffentlicht hat. Vielen ist »Der Hobbit« und »Der Herr der Ringe« ein Begriff, beim »Silmarillion« wird es schon dünn, und die tatsächlich recht zahlreichen kleineren oder eben wissenschaftlichen Publikationen des Oxforder Sprachwissenschaftlers sind der Allgemeinheit im Grunde unbekannt. Der deutsche Tolkien-Podcast ›SmallTolk‹ hat scherzhaft die Formel »1 Tolkien-Schreib-Jahr (TSJ) = 144 Schreib-über-Tolkien-Jahre (SÜTJ)« eingeführt, weil viel mehr über ihn als von ihm veröffentlicht wurde.

Was Tolkien aber über das Zweite Zeitalter geschrieben hat, reicht nicht aus, um eine Serie über fünf Staffeln zu führen. Und es gilt zu bedenken: Die Showrunner durften bei der Entwicklung der Serie auf den größten Teil des tatsächlichen Materials nicht zugreifen.

Die Familie Tolkien saß und sitzt mit am Tisch, wenn es um die erzählerische Gestaltung geht, denn sie hat natürlich ein großes Interesse daran, die für den Autor wichtige Themen angemessen vertreten zu sehen und an der einen oder anderen Stelle sagen zu können, dass etwas nicht verwendet werden darf. Allerdings besteht unter Fans die Hoffnung, dass sie eben auch Zugeständnisse machen kann, die über das hinausgehen, was der Öffentlichkeit im Augenblick als Status quo vermittelt wird.

Zu den erfreulichsten Tatsachen zählt, dass sich das Team klar zu einer diversen Besetzung bekennt, die, wie es in der heutigen Zeit bedauerlicherweise üblich ist, starker Kritik ausgesetzt ist. ›Representation matters‹ ist eine Tatsache, und wenn es PoC bei den Hobbits gibt, dann ist das kein Bruch eines ohnehin nicht vorhandenen Kanons, sondern eine kreative Freiheit, die sich erst dann beurteilen lässt, wenn die Serie denn tatsächlich gesehen ist.

Wer bis dahin Schwierigkeiten mit Hautfarbe, Gender oder sexueller Identität bei vielfach neu erfundenen Figuren hat, sollte die Zeit nutzen, die eigene Haltung zu reflektieren, und nicht über etwas zu reden, wovon man bis heute praktisch nichts weiß, außer zwei Dingen:

Es ist die teuerste Serie aller Zeiten, und Jeff Bezos weiß, warum er das Geld ausgegeben hat. 

 

Transparency-Hinweis: Ich bin von Prime Video dieses Jahr zu zwei Events rund um die Serie eingeladen worden, bei denen alle Unkosten vom Gastgeber getragen wurden. Zu keinem Zeitpunkt wurde ich dafür bezahlt oder gebeten, positiv über die Serie zu berichten.

Marcel Aubron-Bülles
© Peter Becher

Marcel Aubron-Bülles ist gebürtiger Kölner, freiberuflicher Übersetzer, und nachdem er 1997 die Deutsche Tolkien Gesellschaft e.V. gegründet hatte, irgendwie in Mittelerde hängengeblieben. Er wohnt in Jena, wo er übersetzt, rezensiert, textet, bloggt und sich ehrenamtlich engagiert - alles im Dienste der Phantastik.

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