J. C. Vogt, 18.08.2021
1927 – zum fünften Mal findet in Brüssel die nach dem belgischen Industriellen Ernest Solvay benannte Solvay-Konferenz statt. Von Max Planck und Walther Nernst ins Leben gerufen, sollte die alle drei Jahre stattfindende Konferenz mit etwa 25 eingeladenen Koryphäen aus Physik und Chemie eine Art internationales „Gipfeltreffen“ der Naturwissenschaft darstellen. Während der ersten sechs Solvay-Konferenzen war Marie Curie die einzige Frau.
Das Thema der wohl berühmtesten, fünften Solvay-Konferenz war „Elektronen und Photonen“, und dort wurde die neu formulierte Quantentheorie federführend zwischen Albert Einstein und Niels Bohr diskutiert. Siebzehn der neunundzwanzig Anwesenden haben im Laufe ihres Lebens den Nobelpreis erhalten, und wenn wir euch jetzt bitten würden, drei berühmte Physiker zu nennen, ist es sehr wahrscheinlich, dass mindestens zwei der drei Namen, die ihr nennt, auf dieser Konferenz anwesend waren (Stephen Hawking nicht. Den habt ihr doch als drittes genannt, oder?)
Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden
Wir kommen wohl kaum umhin, Arthur C. Clark zu zitieren. Wir – Judith und Christian Vogt – schreiben gern im „Spannungsfeld“ von Physik und Fantasy-Elementen, wie zum Beispiel in unseren Steampunk-Romanen „Die zerbrochene Puppe“ und „Die verlorene Puppe“. Mysterien um physikalische Paradoxa und der Ansatz, dass „fortschrittliche Technologie und Magie“ zumindest im Auge der Perspektivfiguren nicht unterschieden werden können, faszinieren uns – und besonders Christian als promovierten Physiker – mehr als der traditionellere Fantasyliteratur-Gegensatz „Technologie zerstört Magie“.
Die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik wirken „wie Magie“ – wir können sie im Gegensatz zu anderen physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht in unserem Alltag feststellen und nicht mit grundlegendem Schulwissen verstehen. Vielleicht gerade, weil die moderne Physik so abstrakt ist, gibt es auch unter Naturwissenschaftler*innen ein Faible für Symmetrie und „Schönheit“ von physikalischen Theorien. Wenn etwas bereits so unvorstellbar ist – kann es dann nicht wenigstens auf einer theoretischen Ebene eine ästhetische Komponente haben? In manchen Fällen passt diese Suche nach der Symmetrie tatsächlich, doch oft erweist sie sich als menschlicher Wunsch, den der Kosmos leider nicht gewährt (Lesetipp dazu: „Das hässliche Universum: Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt“ von Sabine Hossenfelder).
Zwei Gedanken führten also dazu, dass wir in „Anarchie Déco“ Magie zum physikalischen Forschungsfeld der Zwanziger erheben:
- Symmetrie/Schönheit könnte als zweite Komponente neben der Naturwissenschaft notwendig sein, um magische Phänomene zu erschaffen.
- Die magische Physik als noch unausgereiftere Theorie fällt neben der Quantenmechanik eigentlich erst einmal kaum auf.
Binärität und Dualität
Die Physikerin Nike forscht in „Anarchie Déco“ an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (der heutigen Humboldt-Universität) im Zusammenspiel von Wissenschaft und Kunst und stellt fest, dass beides zusammen ungeahnte Effekte erzielt. Sie arbeitet an der Theorie dazu, während viele Kollegen und Vorgesetzte das Ganze zwar mit Interesse, aber auch einem gewissen wissenschaftlichen Argwohn betrachten. Es ist suspekt, dass die Phänomene nur im Zusammenspiel mit einem im Moment des Experiments geschaffenen Kunstwerks entstehen können. Und nicht nur das: Alle gelungenen Experimente mit der „dualen Magie“ erforderten die Beteiligung von zwei Menschen, und zwar einem Mann und einer Frau. Wie kann das Geschlecht von Beteiligten für eine wissenschaftliche Theorie Relevanz haben? Wer in diesem Duo jedoch künstlerisch und wer naturwissenschaftlich arbeitet, ist egal – und in einer Zeit, in der sowohl Kunst als auch Wissenschaft eine Männerdomäne war, können Nike und ihre Kommilitonin Erika davon profitieren, dass sie nicht einfach durch männliche Kollegen „ausgetauscht“ werden können, sobald die magische Physik Fahrt aufnimmt.
»Das vorherrschende Erklärungsmodell ist, dass es eine bestimmte Bedingung gibt, die erfüllt sein muss, damit wir die Phänomene hervorrufen können. Sie zu treffen und theoretisch zu umreißen ist schwierig, aber in unserem Modell befindet sie sich hier.« Nike kritzelte ein kleines Kreuz genau in die Mitte – wo sich die beiden Linien trafen. »Wenn wir uns vorstellen, dieser Kreis ist unüberschaubar groß, wir kennen nur einen Punkt auf dem Kreisumfang und ziehen einfach in irgendeine Richtung, in der Hoffnung, die Mitte zu treffen – dann wird uns das kaum gelingen. Wenn wir gegenüberliegende Pole finden und diese aufeinander zubewegen, wissen wir, in welcher Richtung die Mitte liegt, aber noch nicht, wie weit wir gehen müssen. Wir brauchen also eine zweite Polarität, deren Pole wir verbinden können. Eine zweite Achse, um den Schnittpunkt in der Mitte zu finden.« Nike fuhr die Linien noch einmal nach. »Im Moment sind wir auf rein empirischem Gebiet. Diese beiden Pole sind ›männlich‹ und ›weiblich‹. Und diese hier sind ›Wissenschaft‹ und ›Kunst‹. Diese beiden Polaritäten zu vereinen ist bisher die einzige Möglichkeit gewesen, den Mittelpunkt zu finden.«
Platonische Ideen
Was Nike jedoch ausbremst, ist die Unvorhersehbarkeit der magischen Phänomene: Es ist am erfolgversprechendsten, wenn das Kunstwerk selbst Gegenstand des Zaubers ist – doch wie sich das auswirkt, ist oft unkalkulierbar. Oft scheint das, was geschieht, dem Kunstwerk schon innezuwohnen: Eine Statue tanzt, ein bronzener Kolibri fliegt, ein Gorgonenhaupt versteinert. Doch wie soll Nike eine Doktorarbeit darüber schreiben, dass Kunstwerke letztlich tun, was sie wollen? Die platonische Idee des „Dings an sich“ ist ein alter Hut, der in der modernen Physik wohl kaum gelten kann – dass also menschengeschaffene Dinge das tun, was ihnen innewohnt, wird wohl kaum jemanden wie Albert Einstein von der Validität der magischen Physik überzeugen. Während Nike noch mit sich und ihrer Theorie hadert, probt Erika mit ihrem Freund Emil bereits für Varietébühnen. Je mehr Übung ein magiewirkendes Duo hat, desto besser sind die Effekte kalkulierbar und – noch wichtiger – reproduzierbar. Doch nicht nur dem Unterhaltungsbiz ist ein Effekt, der Abend für Abend ähnlich ist, von Nutzen: Die Magie verlässt unaufhaltsam den universitären Kontext und wird politisch relevant.
Magie IST Wissenschaft
Eine Besonderheit der magischen Physik ist, dass Magie und Wissenschaft keine Gegenpole bilden. Magie entsteht in akademischer Forschung – und auch wenn Aberglauben, Religion und Misstrauen die Kulisse bilden, ist es eine wissenschaftliche Elite, die sie entdeckt, sowohl an naturwissenschaftlichen Instituten wie auch an Kunsthochschulen. Umso ärgerlicher, dass eine „schöne“, „symmetrische“ Theoretisierung trotz aller beteiligten Ästhetik nicht möglich zu sein scheint!
Nike wehrt sich dagegen, die Phänomene überhaupt „Magie“ zu nennen – zu viel Unwissenschaftliches, Intuitives, Gefühltes steckt in diesem Wort. Aber sie hat wenig Entscheidungsgewalt darüber, was letztlich durch Politik, Zeitungen und Vorgesetzte kommuniziert wird – und welche Kreise es zieht. Natürlich fabulieren Antisemit*innen rasch vom jüdischen Golem und einer kabbalistischen Gefahr, während mächtige Männer der Berliner Physik wie Walther Nernst mit der Regierung darauf spekulieren, dass Magie nicht vom Versailler Vertrag reguliert wird und somit einer magischen Aufrüstung Deutschlands nichts im Wege stehen dürfte.
Auch das ein weiteres typisches Schicksal physikalischer Erkenntnisse: Alles wird erst einmal auf die Möglichkeit hin überprüft, es als Waffe zu benutzen – nicht von ungefähr nimmt auch die Kernphysik in den Zwanzigern Fahrt auf.
Magie als Politikum
Die Zwischenkriegsjahre sind von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gezeichnet – die Gewaltbereitschaft war hoch, viele Strömungen prallten auf der Suche nach neuen politischen Systemen aufeinander – im Reichstag, aber noch mehr auf den Straßen. Die Polizei duldete dabei die SA als inoffizielle Schupos, die für Ordnung sorgten, und griff vor allem gegen die Roten hart durch. Für linke Strömungen waren die Zwanziger ein Auf und Ab – mal brachten sie die verlorenen Massen zusammen, die vom „Tanz auf dem Vulkan“ höchstens auf dem Deckblatt der Zeitungen lasen – mal mussten sie sich bürgerlich-sozialdemokratischen Strömungen ebenso geschlagen geben wie den Nationalsozialist*innen, die ihnen die Mitglieder abgriffen.
In „Anarchie Déco“ stellt die Magie für die Kommunist*innen ein weiteres Machtinstrument der Elite dar: Sie fürchten – nicht grundlos – die Entstehung einer „Magie-Bourgeoisie“, von der die Arbeitenden erneut ebenso ferngehalten werden wie vom Besitz der Produktionsmittel.
Die Nationalsozialist*innen gehören hingegen zu den Ersten, die sich über Beziehungen magisches Wissen aneignen – es fällt ihnen leicht, die Magie in ihr Weltbild einzupassen und eine Dichotomie von der schädlichen, jüdischen und der „dem einfachen Mann“ nahen, deutschen Wissenschaft, Kunst und Magie aufzubauen.
Bürgerliche können Nazi-Esoterik wenig abgewinnen, doch darin, dass Magie nicht in die Hand von Juden*Jüdinnen gehört, stimmen sie mit ihnen überein. Tatsächlich gab es in der Physik der Zwanziger- und Dreißigerjahre Versuche, die Berliner „jüdische“ Physik durch eine „deutsche (sachlich falsche) Physik“ abzulösen: Albert Einstein und viele andere Naturwissenschaftler*innen waren jüdisch, andere, wie beispielsweise Lise Meitner hatten teils jüdische Familien, und Antisemitismus zog an den Universitäten Kreise.
Auch Nikes Kommilitonin Erika ist Jüdin, Nike selbst Halbägypterin, die jedoch ebenfalls von den bereits nach rechts driftenden Studierendenverbänden als Semitin ausgeschlossen wird. Ihr Magiepartner, der tschechische Bildhauer Sandor, kommt aus einer teils jüdischen Familie, und schnell wird aus den universitären Experimenten ebenso wie magischen Morden auf Berlins Straßen eine antisemitische Bedrohungskulisse aufgebaut.
Sandor hat zudem Kontakte zur (historisch gesehen) sterbenden Anarchist*innenszene in Berlin: die Schwarzen Scharen halten an einer linken Bewegung fest, die in den Zwanzigern praktisch keine einflussreiche Rolle im Politikgeschehen mehr spielte. Die Anarchistin Isolde sieht Magie aus einer anderen Perspektive: Im Gegensatz zur Quantenphysik ist das Erschaffen magischer Phänomene mit grundsätzlichem naturwissenschaftlichem Wissen und einer künstlerischen Ader möglich – Fähigkeiten, die Menschen sich aneignen und zu denen sie sich zusammenschließen können. Wenn Magie also keine „magische Gabe“ und keine universitäre Ausbildung erfordert, gehört sie dann nicht allen? Wäre es möglich, sich selbst und die entmündigten, ermüdeten Massen mit Magie zu ermächtigen und auf magische Weise Herrschaftslosigkeit anzustreben? Oder würde eine solche Idee daran scheitern, dass Menschen nicht zu trauen ist?
Mehr zum magischen Berlin der Goldenen Zwanziger erfahrt ihr hier auf TOR Online und ab 25.08.2021 in „Anarchie Déco“ von J.C. Vogt!