Leslie S. Klinger, 23.09.2019
Diese Woche erscheint unser großer "Dracula"-Prachtband, herausgegeben von Leslie S. Klinger. Hier liefert der Autor einen Überblick der wichtigsten Personen aus dem Vampir-Epos, der längst Weltliteratur geworden ist.
Der Graf: Dracula und seine Familie
Über das Leben des Grafen oder Woiwoden Dracula – mit diesen Titeln wird er in Bram Stokers Erzählung bezeichnet – ist nur wenig bekannt. Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass »Dracula« sein richtiger Name ist. Obwohl einige Autoren daran festhalten, dass der von Stoker beschriebene Vampir identisch mit Vlad Țepeș oder Vlad Dracula, auch bekannt als Vlad, der Pfähler, ist, gibt es schlichtweg keinerlei Hinweise darauf, dass Vlad irgendwelche vampirischen Eigenschaften hatte. Elizabeth Miller, eine der scharfsinnigsten Dracula-Expertinnen, bemerkt: »Die Argumente dafür, dass Graf Dracula identisch mit Vlad ist, sind mehr als dünn.« In Stokers Bericht wird nirgendwo auf »Vlad« oder »den Pfähler« und seine blutrünstige Geschichte Bezug genommen, außer vielleicht in gänzlich vagen, allgemeinen Bemerkungen über Draculas »eiserne Nerven« und seinen »scharfen Sinn« in Kriegszeiten.
Das wenige, was wir über Draculas Familiengeschichte wissen, beruht auf den Gesprächen, die der von ihm beauftragte Anwalt Jonathan Harker bei seinem Besuch in Transsilvanien aufzeichnete. Folgt man Harkers Wiedergabe der Bemerkungen des Grafen, dann ist Dracula ein Szekler aus einer »Familie mit langer Geschichte«. Er bezeichnet sich selbst als »transsilvanischen Adligen« oder Bojaren. Offenkundig war er ein Feldherr, der mit seinen Truppen gegen die Türken kämpfte und »wenn er zurückgeschlagen wurde, trotzdem immer und immer wieder angriff, auch wenn er allein vom blutigen Schlachtfeld zurückkehrte«. Nichts weist darauf hin, dass noch andere Mitglieder seiner Familie übrig sind, obwohl einige Kommentatoren vermuten, bei den drei Frauen, die gemeinsam mit ihm auf Schloss Dracula wohnen, könne es sich um Draculas Schwestern, Töchter oder ehemalige Ehefrauen handeln.
Die Beschreibungen seiner äußeren Erscheinung stimmen überein. Jonathan Harker schildert Dracula als hochgewachsenen alten Mann von ans Wunderbare grenzender Körperkraft, der, abgesehen von einem langen weißen Schnurrbart, glattrasiert ist. Seine Augenbrauen sind buschig und zusammengewachsen, und er hat »ungewöhnlich scharfe« Zähne und bemerkenswert rote Lippen. Er hat hohe Wangenknochen, jedoch ein breites, kräftiges Kinn, und seine Ohren sind auffallend spitz. Insgesamt erscheint Draculas Gesicht Harker außerordentlich blass. Draculas Hände beschreibt er als klobig und breit mit kurzen Fingern, haarigen Handflächen und langen, gepflegten Fingernägeln, die spitz zugeschnitten sind. Zudem bemerkt er, dass Draculas Atem schlecht riecht – einigermaßen überraschend bei einem Toten, der doch gar nicht atmen sollte! Mina Harker ergänzt diese Beschreibung mit ihren eigenen Beobachtungen und schildert den Grafen als einen »großen, schlanken Mann mit Adlernase«, harten und grausamen Zügen, langen weißen Zähnen und auffallend roten Lippen.
Auf seine persönliche Geschichte gibt es nur dürftige Hinweise. Zu Lebzeiten erwarb er sich den Ruf eines klugen, verschlagenen und tapferen Mannes. Er studierte teuflische Geheimwissenschaften an der legendenumwobenen Scholomanz am Hermannstädter See, wo er möglicherweise auch zum Vampir wurde. Seine irdischen Nachkommen waren »große Männer und gute Frauen«. Seit wann er Schloss Dracula bewohnt und ob er andere Zufluchtsstätten hatte, ist unbekannt. Seine Reisen scheinen ihn kaum über Osteuropa hinausgeführt zu haben, doch obwohl er nie in England war, hört man ihn stets nur Englisch sprechen, das er sich durch die intensive Lektüre englischer Zeitungen, Zeitschriften und Bücher angeeignet hat. Es liegt jedoch nahe, dass er zudem fließend Deutsch, Ungarisch, Slowakisch, Serbisch, Walachisch und Rumänisch spricht.
Folgt man Bram Stokers Darstellung der Ereignisse, dann wurde Dracula von Quincey Morris und Jonathan Harker getötet. Wie in den Anmerkungen zu Kapitel 27 ausgeführt wird, gibt es jedoch gewichtige Gründe, an dieser Behauptung zu zweifeln. Es finden sich zahlreiche Schilderungen von Draculas Leben nach den von Stoker berichteten Geschehnissen, darunter Kim Newmans gelungenes Buch Anno Dracula (1992, dt. Anno Dracula), die Comicserien The Tomb of Dracula (dt. Die Gruft von Graf Dracula) und Dracula Lives (1972–1979) von Marv Wolfman sowie Fred Saberhagens The Dracula Tape (1975, dt. Die Geständnisse des Grafen Dracula). Allerdings sind die genannten Berichte widersprüchlich, und es gibt keinen Grund, dem einen mehr Glauben zu schenken als dem anderen.