Fantasy

Zwillingssymbolik in der Fantasy

Zwillingssymbolik in der Fantasy

Alessandra Reß, 16.03.2020

Luke und Leia, Cersei und Jamie, Raistlin und Caramon: Die phantastische Literatur kennt zahlreiche prominente Zwillingspärchen. Alessandra Reß über die Zwillingssymbolik in der Fantasy und die damit einhergehenden Tropen.


Man war vorgewarnt. Als der letzte Band der Harry Potter-Saga veröffentlicht wurde, erwartete eigentlich niemand, dass der finale Kampf gegen Voldemort ohne Verluste vonstatten gehen würde. Und auch wenn die Hauptfiguren letztlich alle verschont blieben, sorgte doch insbesondere der Tod von Fred Weasley für eine gewisse Fassungslosigkeit. Als Zwilling war er bis dato stets als Einheit mit George Weasley in Erscheinung getreten, und es hatte kaum eine Szene gegeben, in der man die beiden überhaupt in Taten und Äußerungen voneinander hätte unterscheiden können. Indem nun ein Zwilling überlebte, während der andere in der Schlacht um Hogwarts fiel, symbolisierte Freds Tod wie kein anderer den ultimativen Verlust – selbst wenn es mächtigere, weisere oder auch beliebtere Figuren gab, die im Kampf gegen Voldemort ihr Leben lassen mussten.

Seit Jahrtausenden zeigen sich Menschen fasziniert von Zwillingen und anderen Mehrlingen. Diese Faszination schlägt sich kulturübergreifend in Mythen und Sagen nieder, etwa in Götter- und Heldenpärchen wie Polydeukes und Kastor, Hunahpú und Xbalanqué oder Cosmas und Damian. Im Zentrum der Erzählungen um sie geht es jedoch nicht nur um deren Abenteuer. Oft stehen sie für bestimmte Tropen, typische Muster, die wiederum mit symbolhaften Bedeutungen aufgeladen sind, welche Zwillingen zugesprochen werden.

Zwillinge als Yin und Yang

Die Verbindung des Gegensätzlichen, die Trennung des Untrennbaren: Häufig sind es Paradoxien und Dualismen, die durch Zwillinge dargestellt werden. Beispielsweise versucht Malsumis, eine Gottheit aus der Mythologie der nordamerikanischen Abenaki, ständig die guten Taten seines Zwillingsbruders Gluskab ins Schlechte zu verkehren. Viele andere Zwillingsgottheiten stehen für den Dualismus aus Tag und Nacht, etwa Apollon (mit der Sonne assoziiert) und Artemis (mit dem Mond assoziiert) oder Arsu (palmyrischer Gott des Abendsterns) und Azizos (Morgenstern). Auch Hunahpú und Xbalanqué, das Helden-Zwillingspaar aus der Mythologie der Quiché-Maya, wurden nach ihrem Tod zu Sonne und Mond.

Solche dualistischen Pärchen müssen jedoch keineswegs verfeindet sein. Im Gegenteil sind sie aufeinander angewiesen, und ihre Einheit und Verbundenheit werden stets betont – was sich auch in Bezeichnungen wie dioskurimarassa, ibeji, poqangwhoya oder ashvins zeigt, die göttliche oder heroische Zwillingspärchen in verschiedenen Kulturen bezeichnen.

Auch in der Fantasyliteratur werden Zwillingsfiguren oft ergänzende Kräfte bei einer gleichzeitigen innigen Verbundenheit zugeschrieben. Ein sehr prominentes Beispiel sind Alex und Camryn aus der Twitches-Serie. Abgeschwächter findet sich das Motiv z. B. mit Aheka und Mokoya in JY Yangs „The Black Tides of Heaven“, Dawn und Eve aus der Xanth-Saga oder auch Jame und Tori aus der Kencyr-Saga. Auf die Spitze treibt das Motiv dagegen Nicky Drayden in ihrem New-Weird-Roman „Temper“: Hier wird fast jeder mit einem Zwilling geboren, der genau entgegensetzte Tugenden und Laster verkörpert. Was für die Beziehung der Zwillingsbrüder Auben und Kasim zueinander durchaus eine Herausforderung darstellt, jedoch keine, die nicht gemeistert werden könnte.

Schwierige Verhältnisse: „Gute“ und „böse“ Zwillinge

Anders sieht es dort aus, wo dem Dualismus eine eindeutig moralische Dimension innewohnt. Solche Fälle sind in der Fantasy meist von einer gewissen Hassliebe geprägt, manchmal versucht auch der eine Zwilling den anderen, meist „bösen“ Part zu retten.

Da sind beispielsweise Drust und Brude, die in „Dämonicon – Blutige Nächte“ von Darren Shan als eine Art Antithese zum ebenfalls in dem Buch auftauchenden Zwillingspaar Ronan und Lorcan gesehen werden können. Während Lorcan und Ronan bis zu Ronans Tod eine Einheit bilden, stehen Drust und Brude auf verschiedenen Seiten. Im Angesicht ihres Todes zeigt sich jedoch, dass auch sie einander keineswegs egal sind. Ganz ähnlich ist es mit Nuada und Nuala, den Elfenzwillingen aus „Hellboy 2 – Die Goldene Armee“.

Raistlin und Caramon Majerea aus den Drachenlanze-Romanen, eines der wohl bekanntesten Zwillingspärchen der Fantasyliteratur, kämpft meistens auf derselben Seite. Trotzdem, und obwohl gelegentlich Momente brüderlicher Liebe zwischen ihnen aufflammen, pflegen sie eine mitunter ungesunde, immer zwiespältige Beziehung zueinander. Anfangs ist diese vor allem durch den Neid des kränklichen Raistlin geprägt, der auf seinen physisch unbeeinträchtigten Bruder angewiesen ist. In der Legenden-Trilogie gipfelt die (eigentlich einseitig empfundene) Rivalität in einer offenen Feindschaft, in der sich beide zeitweise umzubringen versuchen, ehe sie sich doch wieder zusammenraufen.

Eine ähnliche Beziehung findet sich zwischen Mogweed und Fardale in der The Banned and the Banished-Saga von James Clemens (dt. „Das Buch des Feuers“).

Allen Unterschieden, Rivalitäten und sogar Feindschaften zum Trotz wird literarischen Zwillingen aber in fast allen Beispielen eine tiefgreifende Verbundenheit und Zuneigung zugeschrieben. Umso schwerer wiegt da der Verlust, wenn einer von beiden stirbt.

Tragische Verluste

Das in der westlichen Welt bekannteste Beispiel für ein mythologisches Zwillingspärchen, das durch Tod voneinander getrennt wird, ist jenes der Dioskuren aus der griechischen Sagenwelt, Polydeukes und Kastor. Im Kampf gegen die Brüder Idas und Lynkeus stirbt Kastor. Polydeukes ist außer sich vor Trauer, handelt jedoch mit seinem Vater Zeus einen Pakt aus, nachdem die Zwillinge ihr Leben weiter teilen können – nun wortwörtlich: Gemeinsam wandeln beide zwischen Olymp und Hades, wofür Polydeukes seine Unsterblichkeit aufgibt. Was getrennt wurde, wird im Tod wieder verbunden, ja, es erfährt in diesem speziellen Beispiel sogar noch eine tiefere Verbindung, da die Zwillinge nicht mehr durch ihre Sterblichkeit bzw. Unsterblichkeit voneinander getrennt sind.

In der modernen Phantastik finden sich ähnliche Motive, gerade im Bereich der All-Age-Fantasy. Bereits genannt wurden Fred Weasley (Harry Potter) und Ronan („Dämonicon“); in dem Zeitreise-Thriller „Schutzengel“ wird außerdem die junge Thelma als Teenager durch den Verlust ihrer Schwester Ruthie traumatisiert. Und im finalen Band von Die Tribute von Panem verkörpern gleich mehrere Zwillingspärchen den ultimativen Verlust: Erst ist es Leeg 1, die ihre Schwester betrauern muss. Kurz darauf stirbt sie selbst bei einer Explosion – und mit ihr der Kameramann Castor, Zwillingsbruder des trauernden Pollux (Hallooo, Foreshadowing!). Ob die Fantasy-Geschwister eine Wiedervereinigung wie Polydeukes und Kastor erleben, bleibt für die Lesenden meist im Dunkeln.

Verlust als auslösendes Moment

Sorgt der Tod des geliebten Geschwisters zunächst auch für Lähmung, dient er in vielen Geschichten den Figuren später auch als Motivation für große Taten. Auch hier bietet sich zunächst ein Blick in Mythen und Sagen an: Da ist beispielsweise der Arawak-Held Guaguguiana, der seinen Stamm nach der Trauer um seinen Zwillingsbruder aus den Höhlen Hispaniolas führte. Oder der Argonaut Ialmenus, der seinem verstorbenen Zwilling zu Ehren eine Siedlung gegründet haben soll.

In Fantasybüchern und -filmen sorgen Verluste eher selten zu Stadtgründungen. Stattdessen wird hier Rache genommen: In Tarsem Singhs bildgewaltigem „The Fall“ ist es die Ermordung seines Zwillingsbruders, der den Schwarzen Banditen endgültig gegen General Odious aufbringt.

Jack aus James Camerons „Avatar“ reagiert dagegen ungleich resignierter auf den Tod seines Zwillingsbruders. Doch mit diesem Verlust werden endgültig die Bande gekappt, die Jack noch an die Erde binden, und er kann einen Neuanfang wagen. Dass er dazu auf Pandora den ursprünglich für seinen Bruder entwickelten Avatar übernimmt, kann man, wenn man möchte, als Wiedervereinigung beider lesen.

Aber nicht immer muss der Verlust gleich den Tod bedeuten: In Emma Claytons „Die Goldenen Türme“ etwa macht sich der junge Mika auf, seine entführte Zwillingsschwester zu suchen.

Mehrlinge: Zwischen Faszination und Ächtung

Dualismen, Trauer und Verlust als auslösendes Moment: Diese drei Motive stehen besonders oft im Vordergrund, wenn die Bedeutung von Zwillingen über die Funktion der beiden Figuren als solche hinausgeht.

Ihre Darstellung in der phantastischen Literatur ist damit aber natürlich nicht erschöpft. In einigen Werken wird nicht nur auf mythologische, sondern auch auf sehr reale Zuschreibungen Bezug genommen. Beispielsweise schämt sich Kaede in „Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers“ dafür, Zwillingsschwestern zur Welt gebracht zu haben. Tatsächlich wurde das in vielen Kulturen, etwa bei einigen Kratyi-Stämmen, den südamerikanischen Buck oder auch in Phasen des europäischen Mittelalters, als Schande betrachtet und Mehrlingsmüttern vorgeworfen, die Kinder mit Dämonen gezeugt zu haben. Noch heute gelten Zwillinge z. B. bei den madagassischen Mpanjaka als fady, tabu, und werden daher oft ausgestoßen oder zur Adoption freigegeben.

Unter den Papua wiederum existiert ein Stamm, bei dem Zwillingspärchen einander heiraten müssen. Als Element findet sich das auch in der Dune-Serie, wenngleich mit einer gewissen Bedeutungsverschiebung. Gerade in der modernen Science Fiction wird das Zwillingsmotiv zudem oft mit Themen wie Klonen oder auch Identität verbunden (z. B. in „Blueprint“ von Charlotte Kerner).

All das zeigt letztlich vor allem eines: Menschen bringen dem Mehrlingsphänomen Faszination entgegen. Manchmal reicht das bis zu göttlichen Zuschreibungen, manchmal birgt es auch Gefahren für die Geschwister und ihre Mütter. Oft mag hinter dieser Faszination eine gewisse Sehnsucht nach einem Seelenpartner oder bedingungsloser Verbundenheit stehen, auch oder gerade in der westlichen Gesellschaft. Umso mehr eignen sich Zwillinge dazu, um Themen wie Verlust, Trauer oder Hasslieben noch einmal symbolisch zu verstärken und Lesende umso mehr auch um Nebenfiguren wie Fred trauern zu lassen.

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/