Mehr Phantastik

Buchtipps aus dem Otherland November 2024

Coverausschnitt von "Die Horde im Gegenwind". Sieht wie eine Bild aus verschwommenen Wasserfarben aus. Abstrakt, gelber Hintergrund, davor eine grau blaue Masse in der Mitte.
© Matthes & Seitz Berlin

Otherland, 20.11.2024

Zwei kleine, aber feine Buchtipps hat die Fantasy- und Science-Fiction-Buchhandlung Otherland für euch. Darunter ein sprachgewaltiges Meisterwerk der französischen Phantastik und Science Fiction, die so nah an unserer Realität ist, dass es weh tut.

Fantasy

Alain Damasio | Die Horde im Gegenwind

Matthes & Seitz Berlin

“Auf eine gewisse Weise ist Lebendigsein nur durch diesen dreifachen Kampf zu erreichen: gegen die Kräfte der Schwerkraft in uns - Faulheit, Müdigkeit, Ruhebedürfnis; gegen den Wiederholungstrieb - das schon Gemachte, das Bekannte, das Sicherheit versprechende; und schließlich gegen die Verführungen des Kontinuums - gegen alle nachhaltigen Entwicklungen, den Reformismus oder diese sehr freolische Vorliebe für die gefällige Variation, geklimperte Abweichungen um eine unterhaltsame Melodie.”

Dieses Buch wurde 2006 geschrieben und eroberte Frankreich im Sturm. Hat dann fast 20 Jahre gebraucht, wurde aber endlich Anfang dieses Jahres ins Deutsche übersetzt und erschien in einer wunderschönen Ausgabe bei Matthes&Seitz, die wirklich besondere Bücher versprechen. Wie ein frischer Wind fegte dann “die Horde” durch die deutsche Kulturlandschaft und riss alle großen Zeitungen von den Füßen - so sehr wurde dieses Buch gefeiert. Und, liebe Leser/innen: ich kann es nur bestätigen, der Hype ist REAL. Ich liebe dieses Buch. Ich verschenke es an alle meine Freunde und stelle es ganz oben in meine persönlichen Orm-Bibliothek. Wow wow wow.

Die Synopsis ist eigentlich ganz einfach: In einem Land, in dem immer Sturm herrscht, werden Gruppen losgeschickt, die an den Anfang des Windes gelangen sollen. Wir folgen der 38. Horde mit unterschiedlichsten Charakteren beim „aufströmen “. Auf Händen, auf Füßen, kriechend, schwimmend, ganz egal. Die Geschichte wird aus ständig wechselnden Perspektiven erzählt. Klingt erstmal anstrengend, ist aber so unglaublich gut umgesetzt, dass es den Lesefluss nur bereichert. Jede/r einzelne in der Gruppe ist ein Paradebeispiel für die magische Fähigkeit von Autor/innen durch bloße Gedankenkraft überzeugende Menschen zu erschaffen und in unsere Welt zu holen.

Damasio baut eine unglaublich originelle Fantasy-Welt, manchmal durch etwas viel Gelaber. Aber selbst das wurde von mir aufmerksam verschlungen. Es gibt eine Szene, in der zeitgleich ein extrem spannender Kampf im Wechsel mit einer philosophischen Abhandlung stattfindet, die sich beide wunderbar ergänzen und miteinander interagieren. Dieser Kniff steht, meiner Meinung nach, exemplarisch für das Buch, da sich oft Szenen, bei denen ich mir vor Spannung die Fingernägel abkaute, mit langen Traktaten über Zeit und Sein abwechselten. Versteht mich aber nicht falsch, man muss nicht schnöde Philosophie studiert haben, um mitzukommen. Im Gegenteil, mir fiel erst wirklich spät auf, mit was für großen Ideen Damasio mich bombardierte, da ich viel zu viel Spaß beim Lesen hatte! Bei so viel angewandtem Talent in Zusammenarbeit mit harter Arbeit stand mir manchmal der Mund offen - vor allem, weil es eine unglaublich dichte Geschichte ist, die in dem 715 Seiten langen Countdown nichts an Leichtigkeit verliert. Ein weiteres Hoch auf Übersetzerin Milena Adam, die es schafft die fabuliertesten Wortduelle zweier Troubadoure über Palindrome in einen spannenden Text ins Deutsche zu übertragen. Wow.

Das Buch ist wahrscheinlich nicht für jede/n gemacht, aber wenn ihr Lust auf eine Herausforderung und manchmal etwas Sitzfleisch habt, nehmt es in die Hand. Nehmt euch ein Beispiel an Golgoth, ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr euch bis zum Ende durchbeißt.

P.s. Das mitgelieferte Lesezeichen ist eine Legende, die alle Kürzel aufschlüsselt ;)

[Esther]

Science Fiction

Theresa Hannig | Parts per Million - Gewalt ist eine Option

Fischer/Tor €18

Hat euch ein Thema auch schon mal so beschäftigt, dass ihr gerne ein Buch darüber geschrieben hättet? Nun, wenn in dem Fall frau auch noch wie Theresa Hannig Schriftstellerin ist, ist der Schritt nicht besonders groß, oder?

Liest man Theresas neues Buch Parts per Million kann man deutlich spüren, wie viel Kraft es sie gekostet hat, sich dem Thema zu stellen und es konsequent bis zum Ende durchzuspielen - es ist hart, tut weh, ist nachvollziehbar und trotzdem erschreckend. Abschreckend.

Nahe Zukunft, Putin ist tot, was alles nur noch schlimmer gemacht hat und das Klima fährt weiter gegen die Wand. Stellt euch vor ihr kommt mit Klimagegnern in Kontakt, die angesichts der selbstverschuldeten Zerstörung unserer Lebensgrundlagen alle Mittel einsetzen, um die fortschreitende Klimaveränderung noch aufzuhalten oder zumindest abzumildern. Alle Mittel, außer Gewalt. Dafür werden sie beschimpft, bespuckt, getreten und geschlagen, verhaftet und für kriminell erklärt. Die Schriftstellerin Johanna Stromann gerät zufällig in eine Straßenblockade der Aktivisten und erlebt die Gewalt gegen eine gewaltlose Aktion aus nächster Nähe. Das macht sie neugierig: wer sind diese Menschen und warum wehren sie sich nicht? Immer tiefer taucht Johanna aus ihrem bürgerlichen Leben mit Mann und Tochter in das Aktivistenleben ein und wird von der Beobachterin selbst zu Aktivistin, die sich irgendwann selbst die Frage stellen muss: Ist Gewalt eine Option?

An dieser Stelle hätte Theresa Hannig die Leser*innen jetzt allein mit ihren Gedanken und der Antwort auf diese Frage zurücklassen können. Aber so einfach macht es Theresa uns nicht. Während wir jeden von Johannas Schritten nachvollziehen können und immer wieder nickend zustimmend denken "So hätte ich auch gehandelt", zieht sie den Sack zu und holt den Knüppel raus. Die Logik ist einfach und verlockend: wenn alle gewaltfreien, rechtsstaatlichen Mittel ausgeschöpft sind, aber unser Leben bedroht ist, müssen wir uns wehren. Dann ist Gewalt eine Option. Minutiös beschreibt Theresa den Sog, den Gewalt und die Hoffnung einer daraus resultierenden Veränderung, die Johanna und die anderen Aktivisten immer weiter machen lässt. Mehr muss mehr helfen. Härter, brutaler, auf der Suche nach der Revolution, die ihre Kinder schon lange aufgefressen hat.

Und wir Leser*innen? Schaudern. Sind froh das es nie so weit kommen wird. Oder? Oder vielleicht doch? Warum nicht? Schließlich sind wir heute doch genau an dem Punkt. Oder?

Nein, Theresa hat es sich nicht leicht gemacht. Die Verlockung, die Gewalt ausübt ist in Parts per Million spürbar. Die Plausibilität ihrer Alternativlosigkeit. Alles oder nichts. Aber genau hier, beim entweder oder wird klar: Gewalt ist wie ein Kurzschluss, es knallt und blitzt und dann ist alles aus. Denn Gewalt bietet keine Lösung, keinen Raum für "nach der Gewalt", keine Perspektive, außer auf mehr Gewalt.

Parts Per Million ist eine Warnung: schaut in den Spiegel und wenn ihr da die Gesichter derer seht, die euch Gewalt antun, dreht euch um und geht in eine andere Richtung. So lange noch Zeit dazu ist.

[Wolf]