ESSAY
Franz Rottensteiner, 12.08.2016
Was ist eigentlich Science Fiction? Wie grenzt sie sich von der Fantasy ab? Und was genau versteht man unter Phantastik? Franz Rottensteiner, seines Zeichens Publizist und Literaturkritiker, dröselt genau diese Problematik auf und verschafft einen Überblick über die Genres, die uns eintauchen lassen, in neue Welten und ferne Universen.
Was ist Science Fiction? Man ist geneigt, die Feststellung des Augustinus über die Zeit abzuwandeln: „Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, so weiß ich es –, wenn ich es aber jemanden auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“
Die Science Fiction zu definieren, ist ein beliebtes Spiel unter Liebhabern, beinahe jeder SF-Fan hat seine eigene Auffassung, was die wahre SF ausmacht, und der amerikanische Kritiker Damon Knight hat einmal behauptet, dass jeder Versuch, sich auf eine zu einigen, nur zu blutigen Nasen führe. Was die Aficionados begannen, haben die Literaturwissenschaftler fortgeführt, schon weil man sich vor der ernsthaften Beschäftigung mit einer Literaturgattung erst einmal im Klaren sein muss, wovon man überhaupt sprechen will.
Immerhin, einen gemeinsamen Nenner gibt es: In irgendeiner Art und Weise versuchen alle Definitionen die so widersprüchlichen Begriffe Science und Fiction zusammenzuführen – also einerseits Experiment, logisches Schlussfolgern und rationale Überprüfung von Hypothesen und andererseits Literatur, Phantasie und Spekulation. Von Naturwissenschaft und Technik ist die Rede, von der Zukunft, von Extrapolation, der Verlängerung von Entwicklungslinien in das, was noch nicht ist, aber möglich ist. Der Romancier Kingsley Amis schrieb einmal: „Science Fiction ist jene Klasse von Prosaerzählungen, die eine Situation darstellt, die in der Welt, die wir kennen, nicht entstehen könnte, die jedoch hypothetisch auf Basis einer Neuerung in Wissenschaft oder Technik, oder Pseudo-Wissenschaft oder Pseudo-Technik, ob menschlichen oder außerirdischen Ursprungs, behandelt wird.“
Auch die Definition der SF von Brian W. Aldiss ist nützlich, weil sie das Formale, die Art, wie erzählt wird, nicht ignoriert: „Science Fiction ist die Suche nach einer Definition des Menschen und seiner Stellung im Universum, die vor unserem fortgeschrittenen, aber verunsicherten Stand des Wissens bestehen kann, und sie ist im allgemeinen in einer romantischen oder postromantischen Weise gehalten, wie sie durch die ‚Gothic novel‘ geprägt wurde.“
Man beachte den Hinweis auf die „Gothic novel“. Bekanntlich sieht Aldiss in Mary Shelleys Frankenstein oder der moderne Prometheus den ersten SF-Roman. Aber nicht nur Mary Shelley, H. P. Lovecraft, Dan Simmons oder China Miéville lieben Monster – selbst Stanisław Lem, der sich gerne als die verkörperte wissenschaftliche Vernunft geriert, schildert in seinem bekanntesten Roman Solaris eine Weltraumstation als Gespensterschloss im All. Eine Grenzüberschreitung weg vom Alltäglichen und Durchschnittlichen ist in der SF immer dabei. Das Outré ist förmlich ihr Markenzeichen. Besonders in Filmen, Fernsehserien und Computerspielen, in denen SF abseits des Buches produziert wird, sind Monster unverzichtbar, wie in Godzilla, Alien oder Terminator.
Stand zu Beginn der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung die Abgrenzung von der „normalen“ Literatur, so rückte zunehmend die Differenzierung innerhalb der verschiedenen phantastischen Genres in den Brennpunkt, nämlich die Unterscheidung zwischen Science Fiction, der klassischen Phantastik und der modernen Fantasy. In groben Zügen könnte man sagen, dass die Science Fiction die rationale Variante nicht-mimetischer Literatur darstellt, die Phantastik ihr irrationales Gegenbild, während die Fantasy weitgehend rationale Handlungen unter Heranziehung übernatürlicher Mittel abbildet.
Eine rationale Erklärung
Die Science Fiction, so phantastisch das Dargestellte auch anmuten mag, etwa Zeitreisen oder menschenähnliche Roboter, nimmt ganz selbstverständlich an, dass es für alles eine rationale (= „wissenschaftliche“) Erklärung geben muss. Man denke an Arthur C. Clarkes bekanntes Diktum, dass eine genügend fortgeschrittene Technik nicht von Magie zu unterscheiden ist. So können in der Science Fiction durchaus Vampire und andere „übernatürliche“ Wesen auftreten, aber die wissenschaftliche Aufklärung wird im Beipackzettel mitgeliefert.
Für die klassische Phantastik von Edgar Allen Poe, E.T.A. Hoffmann bis zu H. P. Lovecraft wurde die Theoriediskussion entscheidend von französischen Theoretiker Roger Caillois und seiner Vorstellung vom „Riss in der Wirklichkeit“ geprägt. Das Übernatürliche ist etwas, das in die Welt unserer vertrauten Alltagsgesetze als Störung einbricht, und bei den Figuren eine Erschütterung, eine Verstörung auslöst, weil es sich jeder rationalen Erklärung entzieht. H.P. Lovecraft hielt die Aufhebung der uns bekannten Naturgesetze für die Quelle tiefsten Grauens. Tzvetan Todorov wiederum hat als entscheidendes Merkmal für Phantastik die Unschlüssigkeit, ob etwas natürlich oder übernatürlich sei, festgemacht.
In der Phantastik erscheint das Übernatürliche als Gesetzwidrigkeit, als gewaltsame Invasion, als Verunsicherung über das Bestehende. In der Science Fiction wie der Fantasy-Literatur ist dagegen das Worldbuilding, das Erschaffen ganzer Welten, von zentraler Bedeutung. Man denke nur an Frank Herberts Wüstenplanet und Tolkiens Mittelerde. Die detaillierte Ausmalung fremder Welten hat einen ganz eigenen Reiz. Die Science Fiction entwirft oft komplizierte soziale Architekturen, vorwiegend angesiedelt in der Zukunft, aber auch in denkbaren Parallelwelten oder in Alternativwelten der Vergangenheit, aber stets mit rationaler Grundlage (so absurd die Erklärungen auch sein mögen). Die Frage, ob etwas natürlicher oder übernatürlicher Natur sei, stellt sich überhaupt nur in der Phantastik; die Science Fiction nimmt implizit an, dass alles, was es gibt, natürlich ist und Gesetzen folgt, die vom forschenden und erkennenden Verstand erkannt und bewältigt werden können.
Unbekannte Welten
Die Fantasy wiederum entwirft Welten, die zwar von unserer aus erreicht werden können oder völlig apart von ihr existieren, in der das Phantastische aber nicht verunsichert, weil es ein selbstverständlicher Bestandteil der fiktionalen Welt ist. Fantasy-Romane könnte man als ausgedehnte Märchen sehen, sie leben und atmen Magie.
Häufig wird zwischen zwei Arten von Fantasy unterschieden, „Low Fantasy“ und „High Fantasy“. Die erste Art geht zurück auf die Conan-Figur des amerikanischen Pulp-Autors Robert E. Howard und spielt meist in archaischen, prähistorischen Gesellschaften, während die „High Fantasy“ idealisierte quasi-mittelalterliche Settings bevorzugt. Juristisch könnte man bei dieser von einem entwickelten, oft sehr komplexen System von Loyalitäten und Allianzen sprechen, während jene kaum über das Faustrecht hinausgekommen ist. Conan entstand Anfang der dreißiger Jahre in dem auf unheimliche Phantastik spezialisierten Pulp-Magazin Weird Tales und wurde in den sechziger Jahren ein Taschenbuch-Massenerfolg. Andere Autoren setzten die Reihe fort oder imitierten sie. 1982 und 1984 gab es die erste Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger als Conan der Barbar. Bemerkenswerte spätere Autoren dieser „Heroic Fantasy“ waren Fritz Leiber, Michael Moorcock und Karl Edward Wagner.
Einer humoristisch orientierten Variante widmete sich von 1939-1943 das Pulp-Magazin Unknown Worlds, ein von John W. Campbell ediertes Schwestermagazin von Astounding, in dem fantastische Stoffe wie Lykanthropie wissenschaftlich erklärt wurden Typisch dafür waren die Harold-Shea-Geschichten von L. Sprague de Camp und Fletcher Pratt, deren Helden mittels symbolischer Logik in verschiedene mythische und literarische Welten geworfen werden. Zu den Autoren zählten Theodore Sturgeon, L. Ron Hubbard, H. L. Gold, Fritz Leider, Anthony Boucher und Robert A. Heinlein. Obwohl das Magazin kommerziell kein Erfolg war, hatte es ungeheuren Einfluss auf die Entwicklung der Fantasy.
Als Vorläufer der „High Fantasy“ gelten u. a. der Märchendichter George MacDonald, die ironischen Kurz-Fantasien von Lord Dunsany, die wortgewaltigen, von Edelmut und Heldentum durchdrungenen Epen von Eric Rucker Eddison und die ironisch-eleganten, erotisch gefärbten Romane des Amerikaners James Branch Cabell. Cabells bekanntestes Buch Jurgen. A Comedy of Justice (1919) wurde Gegenstand eines Gerichtsverfahrens wegen Pornographie, was dem Roman eine ungeheure Publicity verschaffte.
Zum Erfolgsgenre auf dem Buchmarkt wurde die Fantasy aber erst durch den Riesenanklang, den J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe (1954-55) fand, was vermutlich den Verlag Ballantine zur Herausgabe der schön gestalten „Adult Fantasy“-Reihe veranlasste, die von Lin Carter im Zeichen des Einhorns herausgegeben wurde. Zwischen April 1969 und 1974 erschienen 65 Bände, meist Nachdrucke älterer Werke. Die ästhetisch ansprechend gestalteten Bände waren kein Verkaufserfolg, aber sie etablierten einen ersten Kanon von Fantasy-Werken. Mervyn Peake, ein anderer Engländer schuf mit der Gormenghast-Trilogie eine von Ritualen beherrschte düstere Fantasy-Welt, die in einem labyrinthischen Schloss spielt. Seitdem hat die Fantasy ungeheure Ausmaße angenommen und einzelne Werke sind Dauergäste auf Bestsellerlisten, etwa die witzigen Scheibenwelt-Romane von Terry Pratchett, die Harry-Potter-Bücher von Joanne K. Rowling oder George R. R. Martins Games of Thrones, das als Buch- wie als Fernsehserie alle Rekorde schlägt. Einige der psychologisch interessantesten Werke der Fantasy sind Entwicklungsromane wie Ursula K. Le Guins „Erdsee“-Zyklus.
Die Fantasy greift häufig Sagen- und Mythenstoffe auf und wandelt sie ab; wie Marion Zimmer Bradley, die in ihren Avalon-Romanen den Artus-Stoff aus feministischer Perspektive neu interpretiert. Manche Bücher entwickeln komplizierte Genealogien menschlicher und göttlicher Figuren. Besonders erfolgreiche Autoren, durchaus unterschiedlicher literarischer Qualität sind Terry Goodkind, Tad Williams, Robert Jordan, Neil Gaiman, Stephen King, Peter S. Beagle, C. S. Lewis oder China Miéville. Hier sind auch durchaus auch nicht-englischsprachige Autoren zu finden, etwa der Pole Andrzej Sapkowski mit seiner Saga vom Hexer Geralt, der Russe Sergej Lukianenko und Deutsche wie Michael Ende oder Kai Meyer.