Wir brauchen mehr politische Fantasy und Science Fiction!
Fantasy und Science Fiction dienen der Weltflucht und sollten nicht politisch sein – solche Argumente tauchen mit schöner Regelmäßigkeit auf. Aber schweigen ist auch politisch. Ist es nicht Zeit, auch in der Fantasy und Science Fiction etwas unbequemer zu werden? Ein Appell von Judith C. Vogt.
Nicht selten führen diese gar zu Boykott-Aufrufen, wenn SF/F „zu politisch“ wird. Diese Boykott-Aufrufe kommen seltsamerweise immer von der gleichen Klientel – nämlich der, die glaubt, dass ihr „politische“ Aussagen in den Büchern und Filmen, auf die sie einen Besitzanspruch zu haben glaubt, etwas wegnehmen.
Und deshalb kann der Artikel jetzt eigentlich auch schon aufhören, denn das genügt als Beweisführung, dass auch Unpolitisches politisch ist. Auch das vermeintlich Unpolitische stützt das vorhandene System, das vorhandene Ungleichgewicht und ist in sich somit eine politische Aussage. Ende.
Aber der Artikel ist hier nicht zu Ende, denn:
Wir brauchen mehr politische Fantasy und Science-Fiction!
In ihrer sehr lesens- und hörenswerten Dankesrede für den Science-Fiction- und Fantasy-Literaturpreis Hugo (www.barnesandnoble.com) bringt es N. K. Jemisin, die für den dritten Teil ihrer „Broken Earth“-Trilogie den dritten Hugo in Folge bekommen hat, auf den Punkt: „Science Fiction und Fantasy sind ein Mikrokosmos der größeren Welt und keineswegs außen vor, was die Engstirnigkeit und die Vorurteile dieser Welt angeht.“ Und es geht noch weiter: „Ich sehe Science-Fiction und Fantasy als Anwärter darauf, den Zeitgeist voranzutreiben: Wir Kreativen sind die Ingenieure der Möglichkeiten. Und wenn dieses Genre, endlich, wenn auch widerwillig, anerkennt, dass die Träume der Marginalisierten wichtig sind und dass jeder von uns eine Zukunft hat, dann wird die Welt das auch tun. (Bald, wie ich hoffe.)”
Eine Autorin, die auch für mehrere Teile eines Science-Fiction-Zyklus‘ immer wieder Hugo Awards, Nebulas und andere Preise erhalten und sich in Essays dafür ausgesprochen hat, dass Science-Fiction/Fantasy-Autor*innen die Zukunft maßgeblich mitgestalten, ist die in diesem Jahr verstorbene Legende Ursula K. Le Guin. Aber das Erscheinen der Romane und Kurzgeschichten aus dem „Hainish-Zyklus“ liegt jetzt um die 40 Jahre zurück – wo ist die Zukunft, deren Ingenieurin Le Guin war? Und warum standen Autorinnen wie Octavia Butler stets in der zweiten Reihe, wie N. K. Jemisin in diesem, sehr lesenswerten Twitter-Thread fragt?
Warum fanden so viele große, umfassende, aber ein bestimmtes Weltbild untermauernde Ideen der Fantasy und Science-Fiction maßgeblichen Widerhall in der umfassenderen Popkultur, warum prägt ein (wenn auch fantastisch geschriebenes) „Vieh, Frauen und Sklaven“-Weltbild wie das aus „Lied von Eis und Feuer“ die Popkultur seit Jahren, während die feministische Science-Fiction von Le Guin auf Deutsch zum größten Teil vergriffen ist und bis auf wenige Ausnahmen – quasi Babysteps in die richtige Richtung – kaum Blüten zum Beispiel in den gängigen Themen des Pen&Paper-Rollenspiels oder in Hollywood getrieben hat? Und wenn das mit Le Guin geschah, werden die Spuren von Autor*innen wie Jemisin dann heute wohl deutlicher ausfallen?
Aber die Historie!
Immer wieder kommt als Gegenargument zur „Mehr Diversität in der Phantastik!“-Forderung, dass Fantasy, wie wir sie kennen, nun einmal weiß / hetero / männlich dominiert sein müsse. Weil das kulturelle Leitmotiv das europäische Mittelalter sei. „Müssen denn da jetzt wirklich die Quoten-People-of-Color mitlaufen?“ Müssen wir also selbst da jetzt auf einmal politisch werden? Können wir nicht einfach mal bei der guten, alten „alle sind weiß und Frauen müssen ständig damit rechnen, vergewaltigt zu werden“-Narrative bleiben – muss selbst die etwa politisch hinterfragt werden?
Jau. Vor kurzem stieß ich auf einen Tweet, der auf Deutsch lauten würde: „Wenn du darauf beharrst, dass High Fantasy nur weiße Heteros in stereotypen Geschlechterrollen beinhalten darf, weil es ‚historisch korrekt‘ sein soll, dann muss dein epischer Held an Wundbrand sterben, sobald er sich zum ersten Mal in den Finger schneidet. Sorry, aber die Regeln sind nicht von mir.“ Der Thread ging noch weiter: „Was ich versuche zu sagen, ist, dass unsere Sicht auf ‚historische Korrektheit‘ auf einer völlig ausgedachten Sicht auf die Vergangenheit beruht, die unsere kulturell eingeprägten ästhetischen Präferenzen bestätigt.“
Das heißt also im Klartext, wenn meine Helden sich die Zähne putzen und gut riechen, weil ich mir eben lieber gut riechende Menschen mit sauberen Zähnen in meine eingebildete Vergangenheit projiziere, dann unterwerfe ich meine Version der Vergangenheit einfach meinem heutigen Empfinden der Gegenwart. Und wenn ich behaupte, dass Schwule keinen Platz in meiner Geschichte haben, weil das nicht „historisch korrekt“ ist, dann sollte ich vielleicht meinen Blick auf die Gegenwart kritisch hinterfragen. Ist das wirklich nur der Wunsch nach einer vermeintlichen historischen Akkuratesse oder empfinde ich auch im Jetzt und Hier offenbar immer noch Schwule als Fremdkörper in einer heteronormativen Gesellschaft?
Indem Autor*innen behaupten, Minderheiten hätten keinen Platz in ihren phantastischen Versionen von Historie, geben sie das politische (!) Statement ab, dass Minderheiten auch eigentlich keinen Platz in unserer nicht-phantastischen Gegenwart haben. Dass sie geduldet sind, toleriert – aber nicht wirklich „Teil“, nicht wirklich aktiv mitgestaltend, sondern passiv unserer Großherzigkeit und unserer Selbstwahrnehmung als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts unterworfen.
Ihr findet, damit fälle ich ein ganz schön hartes Urteil? Das stimmt, das tue ich. Und ich weiß auch, dass viele Autor*innen und Leser*innen vielleicht auch einfach noch nicht aus diesem Blickwinkel drüber nachgedacht haben. Aber dann wird es jetzt Zeit. Wenn uns eine pluralistische, diverse Gesellschaft wichtig ist, dann muss sie uns auch in unseren Phantasiewelten, in unserem Eskapismus etwas bedeuten. Dass wir es nicht schon immer so gemacht haben, können wir mit mangelndem Wissen und fehlender Sensibilisierung erklären, aber notwendig war es immer schon. Und jetzt gerade, in diesem Moment, diesem Jahr und mutmaßlich auch noch den nächsten, die folgen, dürfen wir nicht mehr durch weiße cis-hetero-normative Un-Politik politisch sein.
Und noch was:
Wir müssen die gutmütigen, alten Metaphern sein lassen
Sprecht mir nach: People of Color sind keine Orks und keine Aliens.
Ja, natürlich, es gibt eine ganze Menge Metaphern auf Rassismus, in denen die Gruppe, die rassistische Gewalt erfährt, aus Außerirdischen besteht. Aus Elfen. Aus Orks. Das ist beispielsweise auch bei Le Guins „Das Wort für Welt ist Wald“ so, auch wenn die grün bepelzten „Aliens“ letztlich Menschen sind, die eine Evolution auf einem anderen Planeten hinter sich haben. Aber eine wohlfühlige Anti-Rassismus-Metapher lässt sich auch gut ignorieren oder einfach durchnicken. „Ja, fand ich auch schon immer, Rassismus ist blöd, egal, ob gegen Orks oder gegen Menschen.“
Vielleicht waren die Metaphern der letzten Jahre auch ein bisschen zu wohlfühlig, haben uns nett bestätigt, dass wir gute Menschen sind. Vielleicht ist es auch in der Fantasy und Science Fiction an der Zeit, etwas unbequemer zu werden. Unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Wenn wir Rassismus thematisieren wollen, dann so, wie er wirklich ist, ja, auch wie wir ihn mit-leben und mit-tragen, denn wir haben ganz offensichtlich zu lange weggeguckt und kriegen gerade die Quittung für unsere „Wieso, läuft doch alles super“-Haltung. Wir müssen deutlicher werden, politischer werden.
Mitgliedern marginalisierter Gruppen steht ein Spotlight in unseren Geschichten ebenso zu wie ein gleichberechtigter Platz in unserer Gesellschaft, unserem Bildungssystem und überall sonst – und, nein, dieses Spotlight in der Geschichte muss beileibe nicht immer problembehaftet sein, ich freue mich wirklich auf schwarze, lesbische Kriegerinnen, in deren Welt es einfach nur alltäglich ist, schwarz und lesbisch und Kriegerin zu sein. Aber wenn wir in unseren Büchern Rassismus, Sexismus, Homophobie thematisieren wollen, und sorry, aber das müssen wir!, dann müssen wir da deutlicher werden und dürfen nicht in die ebenfalls bereits rassistische, entmenschlichende Falle tappen, PoC mit Orks oder Klingonen gleichzusetzen.
Setzt euch für eure politischen Statements ein!
Steht dahinter. Vor Leser*innen, die nicht immer positiv darauf reagieren werden. Vor Kolleg*innen, die euch belächeln oder ablehnen werden. Und solltet ihr in die glückliche Situation geraten, dass eines eurer Bücher den Weg in die größeren Weiten der Popkultur antritt, als Comic oder Serie oder Film umgesetzt wird: Steht auch dann hinter den politischen Statements. Lasst euch wenn möglich vertraglich zusichern, dass der schwarze Protagonist nicht gewhitewasht wird, und wenn das über euren Kopf hinweg geschieht, versucht nicht, Entschuldigungen dafür vorzubringen.
Vielleicht denkt ihr jetzt: „Das ist doch für deutsche Autor*innen ohnehin unerreichbar!“, aber als Tanya Stewners „Liliane Susewind“ verfilmt wurde und man Lilianes schwarzen Freund Jesajah zu einem weißen Jungen namens Jess umschrieb, waren daran auch vor allen Dingen eine deutsche Autorin und deutschsprachige Filmemacher*innen beteiligt, die jovial erklärten: „Beim Casting wurde nach den besten Kindern im richtigen Alter gesucht.” (Wer gerne mehr darüber lesen möchte, dem sei das hier ans Herz gelegt: www.kino-zeit.de)
Das ist nicht „okay“. Das ist der Alltagsrassismus, an dem unsere netten Metaphern bislang nicht gerüttelt haben, der immer noch bombenfest im Sattel sitzt, und ganz ehrlich, ich bin ihn leid.
Wir haben sicher alle schon Unsinn in unsere Bücher geschrieben, wir haben Fehler gemacht und machen weiterhin Fehler, aber wir können an uns arbeiten, können besser werden und unsere Aussagekraft schärfen.
Wir sind jetzt dran. Ich überlasse für das Schlusswort wieder N. K. Jemisin das Feld:
„Der Refrain (von Kendrick Lamars „All the Stars”) lautet: ‘This may be the night that my dreams might let me know: all the stars are closer.’ Lasst 2018 das Jahr sein, in dem die Sterne für uns alle näher kamen. Die Sterne gehören uns. Danke.“
Judith Vogt
Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.