Die kuriose Geschichte des Zeitreisens
Zeitreisen sind ein Spezialfall der Science-Fiction-Literatur – wissenschaftlich umstritten, höchst philosophisch und außerdem: ziemlich neu. Welche Autoren haben das Konzept erfunden? Und warum wurden Zeitreisen plötzlich so populär?
Zurück in der Zukunft, Minute 23. Soeben hat der DeLorean seinen ersten Sprung durch die Zeit gemacht. Marty MyFly und Doc Brown stehen auf züngelnden Flammenspuren, der Erfinder bejubelt den “ersten Zeitreisenden der Welt”. Seinen Hund.
“Moment Mal, Doc”, stottert Marty. “Wollen Sie mir weismachen, Sie bauten eine Zeitmaschine … aus einem DeLorean?”
Der Witz funktioniert ohne große Erklärungen. Niemand hat Marty oder den Zuschauern erklärt, was eine Zeitmaschine ist. Oder ein “Zeitreisender”.
Dabei sind Zeitreisen sind eine vergleichsweise neue Erfindung – und eine hundertprozentige Eigenentwicklung der Science-Fiction-Literatur. Ein Handvoll Autoren entwarfen innerhalb kurzer Zeit die Konzepte, die uns heute so vertraut sind. Nun sind Zeitreisen sogar Bestandteil von Liebesromanen und Kinderserien.
Aber wer genau hat das Zeitreisen erfunden? Und was machte die Idee plötzlich so populär?
Durch Raum und Zeit
In Mythen und Märchen gibt es keine Zeitreisen. Vorhersagen für die Zukunft spielen zwar mitunter eine große Rolle, doch auch der begabteste Prophet kann die Zukunft nur sehen, nicht betreten. Dem Konzept am nächsten kommt der Dornröschenschlaf: Der Held oder die Heldin fällt in einen unnatürlich langen Schlaf und ist nach dem Aufwachen sozusagen durch die Zeit gereist. Selten hat sich die Welt grundlegend verändert.
Überhaupt, die Zukunft ist kein großes Thema, selbst in den ersten Science-Fiction-Romanen. Thomas Morus' Utopia ist zwar weit entfernt, aber es existiert schon. Und bei Jules Verne wird überallhin gereist, von Mond bis Meeresgrund, jedoch nie durch die Zeit.
Erst ab den 1880ern tauchen die ersten Zeitreisegeschichten auf. In Mark Twain’s Ein Yankee am Hofe des König Artus (1889) landet ein Amerikaner nach einem Schlag auf dem Kopf im Mittelalter und bringt es dort, dank seiner technischen Fähigkeiten, zu einigem Ruhm. Im dem Roman El Anacronopete (1887) des Spaniers Enrique Gaspar y Rimba bereist der Erfinder Don Sindulfo García ebenfalls vergangene Orte, vom mittelalterlichen Spanien bis zum antiken China.
Beide Romane sind satirisch-komisch. Ihren Witz ziehen sie aus dem Unterschied zwischen Vergangenheit und Moderne, genau wie viele spätere Zeitreisegeschichten. Grundlage dafür war ein neues Bewusstsein für Geschichte: Die Welt drehte sich plötzlich sehr viel schneller als zuvor, die Vergangenheit war spürbar anders als die Gegenwart.
Damit war der Weg frei für den ersten echten Zeitreiseroman.
Die erste Zeitmaschine
“Der Zeitreisende (so sei er der Einfachheit halber genannt) erläuterte uns einen obskuren Sachverhalt.” So beginnt H. G. Wells Roman Die Zeitmaschine. Der Zeitreisende bringt einen neuen Begriff – Zeitreise – in die Science-Fiction-Literatur. Er ist auch der Erste, der mit Hilfe einer Maschine in die Zukunft reist, in das Jahr 802.701. Genau zwei Menschenrassen bevölkern in diesem Jahr die Erde – beide höchst unterschiedlich, aber gleichermaßen unsympathisch. Die Zeitmaschine ist, im Gegensatz zu ihren Vorläufern, kein besonders fröhlicher Roman.
Was inspirierte Wells zu seiner Geschichte? Wissenschaftliche Durchbrüche eher nicht. Erst zehn Jahre später veröffentlichte Einstein die Theorie eines Raum-Zeit-Kontinuums, bis zum endgültigen Beweis vergingen weitere Jahrzehnte.
Doch Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich unser Verhältnis zur Zeit. Wells erlebte mit, wie die Zeit zu einem wichtigen, messbaren Faktor im Alltag wurde – und wie sich der Takt der Veränderungen erhöhte. Die Zukunft war ungewiss, sie bot Raum für Spekulationen – und Ängste. Die Zeitmaschine sagt uns vor allem etwas über die Vergangenheit. Wie die meisten
Herrlich kompliziert: von Paradoxa und Schmetterlingseffekten
Wells Zeitmaschine konnte in die Vergangenheit reisen, auch wenn sie das im Roman selbst nicht tut. Fans und Kritiker spannen die Idee schnell weiter: Was würde geschehen, wenn man sich tatsächlich in die Vergangenheit begibt? Würde man damit nicht auch die Gegenwart verändern? Mark Twain und andere hatten diese Fragen einfach ignoriert, aber die Leser der neuen Pulp-Magazine zerlegten mit Genuss die Logik jeder neuen Zeitreisegeschichte. Hugo Gernsback persönlich schuf in einem seiner Magazine das Großvater-Paradoxon: “Nehmen wir an, ich reise 200 Jahre zurück und erschieße meinen Ur-Ur-Großvater, während er noch unverheiratet ist. Ich würde damit meine eigene Geburt verhindern.” (Offenbar konnten nur verheiratete Männer damals Kinder zeugen.)
In den 40ern und 50ern erfanden Autoren dann beinahe alle Konzepte des Zeitreisens, die uns heute so vertraut sind. In der Kurzgeschichte “Ferner Donner” von Ray Bradbury begibt sich ein Zeitreisender auf Dinosaurier-Safari und tritt dabei versehentlich auf einen Schmetterling. Als er zurück in die Gegenwart reist, ist diese erschreckend anders. Der Schmetterlingseffekt ist seitdem traditioneller Bestandteil von Zeitreisen-Geschichten.
Reisen in die Vergangenheit verlangten bald auch neue Worte und Begriffe, zum Beispiel den des “früheren Ichs”. Robert Heinlein erfand ihn 1941 in seiner komplizierten Kurzgeschichte “Im Kreis”. Der Protagonist begegnet dort gleich zwei Kopien von sich selbst, und zwar gleichzeitig.
Zu einem Klassiker entwickelte sich die Frage, ob man mit einer Zeitmaschine Adolf Hitler töten könnte - und sollte. Bereits 1941 (!) taucht dieses Szenario in der Kurzgeschichte “I Killed Hitler” von Ralph Milne Farley auf. Zum Ende des Jahrzehnts war der Mord an Hitler schon ein Klischee der Zeitreise-Literatur geworden. Es wird bis heute regelmäßig fortgeführt; aktuellstes Beispiel aus Deutschland ist der Roman Flug 39 von Phillip P. Peterson.
Zurück in die Vergangenheit
H.G. Wells ließ seine Zeitmaschine ausschließlich in die Zukunft reisen. Das tun inzwischen die wenigsten Autoren. Die Richtung hat sich geändert: Es geht hauptsächlich zurück. Warum?
Ein Grund könnte die Digitalisierung unseres Alltags sein. Wir sind inzwischen daran gewöhnt, dass wir die Vergangenheit festhalten können – wann immer wir wollen, in hochauflösenden Bildern. Videos sind kleine Zeitreisen, und inzwischen können wir damit über hundert Jahre zurückreisen. Allerdings nicht weiter. Was, wenn es doch ginge? Mit dieser Sehnsucht spielen viele Zeitreiseromane, unter anderem Andreas Eschbachs Bestseller Jesus-Video.
Die Vergangenheit muss aber nicht Jahrtausende zurückliegen, um interessant zu sein. In dem Film Zurück in die Zukunft reichen gerade einmal dreißig Jahre, damit sich Marty McFly in einer anderen Welt wiederfindet. Dieser Effekt spiegelt sich für uns heute, denn die damalige Gegenwart, 1985, wirkt inzwischen wie eine Retro-Kulisse aus Stranger Things.
“Wir haben keine Zukunft”, schreibt William Gibson. “Unsere Gegenwart ist einfach zu flüchtig.” Man könnte auch sagen: das Zeitreisen wird immer interessanter.
Das Zeitalter der Zeitreisen
Nach wenigen Jahrzehnten waren die grundlegenden Konzepte des Zeitreisen abgeschlossen – nun konnten sich Filme und Bücher an ihnen bedienen. Zeitreisen wirken inzwischen wie eine alte Sehnsucht der Menschheit, etwa so wie der Traum vom Fliegen. Doch sie sind eine neuzeitliche Erfindung. Und, wie Stenislaw Lem schrieb, “das ausschließliche Eigentum der Science Fiction”.
Aber … kann man Zeitreisen überhaupt als Science Fiction bezeichnen? Wissenschaftliche Erkenntnisse haben sie nicht beflügelt, sondern entweder erst nachträglich bestätigt (Zeitreisen in die Zukunft) oder als weitgehend unmöglich abgetan (Zeitreisen in die Vergangenheit). Gleichzeitig gibt es wohl kein Konzept, das unseren Kopf mit so vielen intellektuellen Herausforderungen bombardiert – angefangen von verästelten Logikfragen und Paradoxen bis hin zur Frage des freien Willens.
Zeitreisen sind ein Sonderfall der SF-Literatur und die bahnbrechenden Zeitreisegeschichten der 50er nach wie vor ein spannendendes Lesevergnügen. Dass wir Menschen überhaupt Jahrtausende ohne Zeitreisen auskamen, ist für mich immer wieder unverständlich. Gut, dass ich in der richtigen Gegenwart gelandet bin!
Über den Autor
Marcel Mellor ist Autor, Blogger und Digitalstratege. Für seinen Zeitreise-Thriller Das Register (www.register-das-buch.de) beschäftigte er sich intensiv mit der Geschichte und den verschiedenen Aspekten des Zeitreisens.