Science Fiction

Science-Fiction-Romane mit queeren Protagonist*innen

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BUCH

 

Judith Vogt, 19.06.2019

Pride Month!!! Damit ihr auch den Rest des Jahres Phantastik-Romane mit queeren Held*innen lesen könnt (hier übrigens 25 queere Fantasybücher aus 2018), haben wir ein Best-of aus der Science-Fiction-Literatur für euch!

Queere Zukünfte

In „Space Opera“ von Catherynne Valente muss ein abgehalftertes Duo, das nie über den Verlust ihres dritten Bandmitglieds hinwegkam, beim intergalaktischen … nun … ESC antreten und damit beweisen, dass die Menschheit es wert ist, zu überleben. „Decibel Jones and Oort St. Ultraviolet“, die früher bekannt waren als „Decibel Jones and the Absolute Zeros“, müssen ihre Vergangenheit in Ordnung bringen, um die Zukunft zu sichern, und dazu gehört auch ihre sexuelle Verwirrung, das Infragestellen ihrer Gender-Identität und das Betrauern vergangener Liebschaften. Eine Verbeugung vor David Bowie und anderen schillernden Gestalten der irdischen Musikszene!

Für mich schon ein Klassiker queerer Science-Fiction sind die „Wayfarer“-Romane von Becky Chambers. Die bislang drei philanthropischen, hoffnungsvollen Space-Opera-Romane „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“, „Zwischen zwei Sternen“ und „Unter uns die Nacht“ schildern das Zusammenleben von Menschen als unterlegener Alien-Spezies mit gesellschaftlich und technologisch höher entwickelten Völkern. Dabei stellt Chambers, die selbst mit einer Frau zusammenlebt, alle Identitäten, Orientierungen und Anziehungen bei Menschen wie Aliens als gleichwertig dar. Normalität ist, was existiert. Es ist eben die Zukunft!

Dass ich die „Nachspiel“-Trilogie von Wendig mit in die Liste der besten SF-Romane hier auf Tor Online aufgenommen habe, hat einen wütenden Kommentar nach sich gezogen – frei nach dem Motto: „Was hat Judith Vogt denn geraucht, dass dieses Buch auf dieser Liste steht?“ Nun, Judith Vogt findet, dass „Nachspiel“ nicht nur exzellente Star-Wars-Unterhaltung ist (besonders Teil 2!), sondern dass es auch deshalb ein Meilenstein ist, weil Sinjir Rath Velus die erste schwule Hauptfigur im Star Wars-Verse ist – in einer Galaxis weit, weit entfernt, von der schon reaktionärere Leser*innen behauptet haben, es „gäbe“ dort keine queeren Menschen (oder Aliens)! „Aftermath“ hat es geschafft, mich für neue Figuren abseits der Filmprotagonisten zu begeistern und Queerness nicht nur in Gestalt von Sinjir, sondern auch an anderen Ecken und Enden der Trilogie (z.B. mit einer genderqueeren Piratenperson und einem lesbischen Paar) zu normalisieren. Ich empfinde das als große Sache in diesem Franchise und hoffe, dass die Filme sich Ähnliches bald auch trauen! (Und ja, natürlich shippe ich #Stormpilot!)

Der Zweiteiler „Sternenbrand“ von Annette Juretzki wartet mit einem Closed-Room-Szenario in einem Raumschiff auf, dessen Crew gerade in widerstreitenden Loyalitäten auseinanderbricht. Auslöser war die Aufnahme des jungen Mannes Xenen von einem beinahe unbesiedelten Planeten, dessen wenige Bewohner*innen einer gefährlichen Alien-Spezies dienen. Xenen ist überdies ziemlich unsterblich in den Kommandanten Jonas Brand verliebt, aber gleichzeitig genauso stark vom pansexuellen Exoskelett-Alien Zeyn angezogen. Zu behaupten, Juretzki hätte Science-Fiction-Gay-Romance geschrieben, greift zu kurz: Obwohl es in „Blind“ und „Blau“ oft um Xenens „Love Triangle“ geht, gibt es eine Actionszene nach der anderen, einen galaxis- und historienumspannenden Konflikt, interessante gesellschaftliche Entwürfe von Alien- und KI-Kulturen und hervorragend recherchierte Szenen im luftleeren Raum.

In „Gebrochene Flügel“ von Jennifer Heck spielen Raumschiffe keine Rolle: In einer Near-Future-Dystopie, in der es möglich ist, Homosexualität mit einem medizinischen Eingriff zu beseitigen, sind alle Errungenschaften der queeren Szene nichtig: In diesem Szenario finden zwei schwule Jugendliche zueinander, in dem Wissen, dass ihre Gefühle der Gesellschaft überhaupt nichts bedeuten.

Sarah Stoffers geht in „Berlin: Rostiges Herz“ neunhundert Jahre in eine vom Klimawandel geprägte, magische Steampunk-Zukunft. Monatelang steht das Buch, in dem die Gesellschaft sich in Zauberer und Erfinder aufteilt, nun schon auf der Phantastischen Bestenliste (z.B. aktuell im Juni). Die lesbische Protagonistin, eine Erfinderin, sucht zusammen mit einem jungen Mann, der kurz vor der Zaubererprüfung steht, nach den Gründen, aus denen die Frau, die beide liebten, vergiftet wurde.

Englischsprachige Romane

Einige Romane, die ich gern besonders hervorheben würde, sind leider noch nicht auf Deutsch erschienen. Die ungekrönte Königin harter, frauenzentrierter Science-Fiction ist Kameron Hurley. Kein einziges Buch von ihr ist bisher auf Deutsch erschienen (ja, ich prangere das an!). Aber egal ob „Apocalpse Nyx“, „The Stars Are Legion“ oder „The Light Brigade“, kompetente und knallharte Space-Lesbians gibt es in jedem Hurley-Roman!

Auch Aliette de Bodard, auf Englisch schreibende franco-vietnamesische Autorin, ist bislang nicht übersetzt. Für ihre Novelle „The Tea Master and the Detective“ erhielt sie gerade frisch den Nebula-Award. Ihr self-gepublishter Roman „In the Vanishers’ Palace“ ist die Science-Fiction-Variante von „Die Schöne und das Biest“, in dem eine Gelehrte in einer verwüsteten Welt von einer der letzten Drachen entführt wird. Nach und nach fühlt sie sich immer mehr zu ihrer Entführerin hingezogen …

Über Ann Leckies Gender-Mindfuck habe ich ja bereits in ihrem Porträt hier auf Tor Online berichtet: In der Ancillary-Trilogie („Die Maschinen“ und die beiden Fortsetzungen) wird das generische Femininum verwendet und verschiebt unseren Blick auf das Männliche als „Standardgeschlecht“. In Leckies bislang noch nicht auf Deutsch erschienenem Roman „Provenance“ kehren Leser*innen in dasselbe Universum zurück, diesmal mit einer lesbischen Protagonistin in einer Geschichte, in der es großangelegt um Machtdynamiken, Familienpolitik und interstellare Konflikte geht.

(Gender-)queere Klassiker

Aber queere Protagonist*innen sind nicht erst gestern erfunden worden – auch in Science-Fiction-Romanen, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, wird die Binärität der Geschlechter in Frage gestellt und sexuelle Orientierung und Anziehung zum Thema gemacht.

Das berühmteste Beispiel ist sicherlich Ursula K. Le Guins „Die linke Hand der Dunkelheit“, in dem das Volk eines ganzen Planeten geschlechtsneutral ist, außer zu „Paarungszeiten“, zu denen sie genderfluid wechselnde Geschlechter annehmen. Bei Le Guins „Freie Geister“ lebt der Protagonist zudem eine Zeit lang mit einem schwulen Freund zusammen und führt eine sexuelle Beziehung mit ihm, bevor er wertfrei zu dem Schluss kommt, dass er sich mehr zu Frauen hingezogen fühlt – das geschieht zwar nur am Rande, Le Guin wirft damit jedoch in den Raum, dass auch sexuelle Anziehung eine Sache der Kultur ist und dass es in einer Gesellschaft, die in dieser Hinsicht keine Wertung vornimmt, vollkommen gängig ist, Bisexualität und andere Ausprägungen sexueller oder romantischer Vielfalt „auszuprobieren“.

Aber genug zu Le Guin! Eine Autorin, die einen noch viel radikaleren Ruf genoss und genießt, ist Joanna Russ, aus deren Feder das hervorragende Sachbuch „How to Suppress Women’s Writing“ stammt, in dem sie Anfang der Achtziger den Umgang mit Literatur von Frauen anprangerte (eine übrigens immer noch viel zu aktuelle Lektüre und ein echter Augenöffner).

Ihr Roman „The Female Man“ („Planet der Frauen“ bzw. „Eine Weile entfernt“)  verknüpft vier Zeiten und Welten von vier Protagonistinnen, die sich alle in verschiedenen gesellschaftlichen Entwürfen von „Gender“ befinden. Dadurch, dass sie aufeinandertreffen und die Welten wechseln, beginnen sie, die Entwürfe ihrer eigenen Heimat in Frage zu stellen. Ein Klassiker zum Thema „Genderqueerness“!

In „China Mountain Zhang“ („ABC Zhang“) nahm Maureen F. McHugh 1992 die Perspektive eines chinesisch-puertoricanischen schwulen Mannes ein, der im weltumspannenden chinesischen Kommunismus des 22. Jahrhunderts aufwächst. McHughs Roman ist sehr charakterzentriert und malt einen plausiblen und ungewöhnlichen Weltenentwurf.

Queeres Postapokalypsen-Erzählspiel

Die US-amerikanische Spieldesignerin Avery Alder widmet sich im Erzählspiel-Design vor allen Dingen Spielen, die Sexualität und Gender neu denken. 2018 erschien aus ihrer Feder das regelarme, würfellose Rollenspiel „Dream Askew“ (im Doppelband mit Ben Rosenbaums „Dream Apart“), in dem eine Gruppe von drei bis sechs Spieler*innen sich in einer drei- bis vierstündigen Spielsession in eine nahe Postapokalypse begibt. Die Zivilisation, wie wir sie kennen, ist zusammengebrochen und bricht noch weiter zusammen – Menschen sammeln sich in ungewöhnlichen Communities, um zu überleben. Die Gemeinschaft, in der sich die Spielcharaktere befinden, hat ihre Wurzeln in den LGBTQIA+-Communities der heutigen Zeit. In der Apokalypse haben sie die männlich/weiblich-Binarität hinter sich gelassen und definieren sich neu. Im Rollenspiel gibt es ein ganzes Spektrum an Geschlechteridentitäten, zu denen Alder einlädt, sich individuell eine Bedeutung zu erdenken. Als Raven, Ice Femme, Gargoyle oder Dagger Daddy verkörperst du eine unentbehrliche Rolle in einer genderqueeren Postapokalypse.

Sachbuch als „Choose Your Own Adventure“:

Und wo wir gerade beim spielerischen Ansatz zum Thema Gender sind: In „She, he, they, me“ von Robyn Ryle können Leser*innen ihren eigenen oder einen fiktiven Weg zum Thema Gender in einer Art interaktivem „Abenteuerspielbuch“ beschreiten. Der kann sowohl zu den Schwurjungfrauen Albaniens, den Two Spirits der Indigenen Nordamerikas wie auch zu modernen Konzepten von „Gender Outlaws“ führen. Mit jedem Kapitel, zwischen denen man hin und her lesen kann, bringt Ryle mehr Informationen dazu, wie wir Geschlecht wahrnehmen, welche Auswirkungen auf unser Leben diese Wahrnehmung hat, welche historischen Konzepte es gab und welche möglichen es in der Zukunft geben könnte. Interessant, um den eigenen Weg nachzuverfolgen – aber auch interessant, um hypothetische Wege zu beschreiten!

 

Egal, welchen Weg ihr 2019 einschlagt: wir hoffen, wir konnten euch mit guter literarischer Wegzehrung versorgen!

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.


www.jcvogt.de