Science Fiction

Science Fiction von Frauen #18: Aliette de Bodard

Science Fiction von Frauen #18: Aliette de Bodard
© deboarded/Mynmann/mailanmaik/Pixabay

Judith Vogt, 07.01.2022

Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: Aliette de Bodard, in Frankreich lebend und auf Englisch schreibend.

Aliette de Bodard ist eine der wenigen französischen Science-Fiction- und Fantasy-Autor*innen, die international richtig abräumen. Das liegt auch daran, dass die 1982 in den USA geborene Franko-Vietnamesin auf Englisch schreibt. Das allein ist natürlich kein Garant für internationalen Erfolg, de Bodard ist außerdem eine hervorragende Schriftstellerin, die vietnamesische Kultur, aber auch andere, bislang selten besuchte Erzählkosmen in ihren Romanen und Kurzgeschichten zum Leben erweckt.

Steile Schreibkarriere

De Bodard wuchs in Paris auf und lebt auch heute dort. Französisch ist ihre Erstsprache, doch ihre Eltern bestanden darauf, dass sie früh Englisch lernt. Sie schreibt nie auf Französisch – die Tatsache, dass Englisch ihre Zweitsprache ist, gebe ihr einen größeren spielerischen Freiraum.

De Bodard begann zu schreiben, während sie sich mit zweijährigen Kursen auf die École Polytechnique vorbereitete, eine der führenden technischen Hochschulen Frankreichs. Im Studium schwenkte sie zunächst von Romanen auf Kurzgeschichten um.

Heute ist sie Softwareentwicklerin und veröffentlicht seit 2007, nachdem sie ein Jahr zuvor an Orson Scott Cards „Literary Bootcamp“ teilgenommen hatte. 2009 war sie Finalistin beim John W. Campbell-Award, der Newcomer im Genre prämiert (mehr zum Campbell-Award im Porträt zu Jeannette Ng). Ihre Kurzgeschichten erschienen in den bekanntesten SFF-Zines und wurden ab 2012 geradezu mit Preisen überhäuft. Sie gewann Nebula, Locus, Hugos, World Fantasy Awards und den British Science Fiction Award – bislang vor allen Dingen für Kurzgeschichten und für ihre Novelletten und Novellen, von denen „The Tea Master and the Detective“, eine gendergeswappte Sherlock-Holmes-Hommage über eine Detektivin und ein Tee-zubereitendes Raumschiff, sicher die bekannteste ist.

Trotz ihres gigantischen internationalen Erfolgs – im Februar konnte man auf Twitter live verfolgen, wie ihr neues, bei TOR Books erschienenes „Tiger Heart“ die Amazon-Bestenlisten im Sturm nahm – ist sie im deutschsprachigen Raum noch nicht sehr bekannt und beachtet. Der erste Teil ihrer Urban-Fantasy-Trilogie in einem verheerten Paris, „Dominion of the Fallen“, erschien als „Das Haus der Gebrochenen Klingen“ bei Droemer – aber bereits 2017, sodass ich wenig Hoffnung hege, dass die Trilogie weiter übersetzt wird.

Das liegt vielleicht auch an der Literaturform, in der de Bodard international Ruhm erlangt hat: Kurzgeschichten, Novelletten und Novellen sind im deutschsprachigen Raum schwierig und höchstens als Sammelband zu vermarkten, wie die vier „Murderbot“-Bände von Martha Wells, die 2020 als „Tagebuch eines Killerbots“ bei Heyne erschienen.

Zusammenhängende Erzählwelten

Ihr bekanntestes Science-Fiction-Universum ist sicherlich die Hugo-nominierte Xuya-Erzählwelt, eine komplexe, detailreiche Perspektive auf eine vietnamesische ferne Zukunft zwischen den Sternen.

De Bodard entwirft in Fantasy und SF alternative Geschichtsverläufe, in denen heute ausgelöschte oder marginalisierte Kulturen im Vordergrund stehen – wie zum Beispiel „Servant of the Underworld“, ein Fantasy-Mystery-Roman in einem alternativen Aztekenreich des 15. Jahrhunderts.

Sie wandert mühelos zwischen den Genre-Welten, wie z.B. mit „In the Vanishers’ Palace“, einer vietnamesischen Fantasy-Variante von „Die Schöne und das Biest“ – aber sowohl das Biest als auch die Besucherin im Palast sind Frauen. Und auch in „Fireheart Tiger“ steht eine Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen im Mittelpunkt: Eine adlige Diplomatin muss in einem präkolonialen Fantasy-Vietnam auf dem Parkett von Politik und Intrigen gegen ihre erste Liebhaberin antreten.

Franko-vietnamesischer Anti-Kolonialismus

De Bodard ist eine der wenigen für uns als deutsch- oder englischsprachige Leser*innen sichtbaren Autor*innen, die sich intensiv mit Dekolonialisierung beschäftigen und dabei kein von England kolonisiertes Land im Fokus haben. Anti-Kolonialismus ist häufig Anti-(British-Empire)-Imperialismus, was einer der Gründe ist, weshalb andere Länder sich bedeckt halten können, wenn es um Aufarbeitung und Reparationen geht. Auch Deutschland fährt mit der „Das waren die anderen!“-Strategie nach wie vor gut.

De Bodard erinnert sich, dass sie lange gezögert hat, sich in ihrer Science-Fiction und Fantasy mit Vietnam zu beschäftigen. „Das hat mir verdammte Angst eingejagt. Ich habe zuerst einige Kurzgeschichten mit chinesischen Protagonist*innen geschrieben, weil es sich sicherer anfühlte, und weil meine Familie mir nicht sagen würde, was ich alles falsch gemacht hab!“ Sowohl die französische als auch die vietnamesische Kultur hätten sich anfangs so angefühlt, als wäre sie nicht genug Teil davon, um sie in ihre Erzählungen einzubauen. „Mir wurde in einem Gespräch klar: Wenn ich nicht über meine eigene Identität schreibe – wenn ich nicht Leute wie mich in Geschichten schreiben würde – wer würde es sonst tun?“

Ihre erste Begegnung mit dem Thema Kolonialismus hat sie nach eigener Aussage nicht durchgehalten – die Recherche in einem Buch über die französische Kolonisierung von Vietnam im 19. Jahrhundert. „Ich habe das Buch nicht zu Ende lesen können. […] Ich dachte: ‚Warum habe ich immer diese schrecklichen Einfälle? Warum tue ich mir das an?‘“

Dass sie in ihrer Recherche nicht über die Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert hinwegkam, um sich die kolonialen Gräueltaten zu ersparen, war jedoch auch der Grund, weshalb sich ihre Geschichten oft um alternative Geschichtsverläufe drehen, Visionen eines nicht-kolonisierten Vietnams.

Auch im Französischen sind die Wörter für Geschichte (as in history) und Geschichte (as in story) dieselben: Wer erzählt die Geschichte unserer Geschichte und aus welcher Perspektive? So wie wir heute noch Latein sprechen als Auswirkung des Römischen Reichs, so de Bodard, werden sich auch die Auswirkungen des Kolonialismus noch lange zeigen. Das betrifft alles - von kolonisierter Küche bis hin zur Erzählkultur. Sie sei sich selbst nicht ganz sicher, ob sie über alles sprechen möchte, worüber Menschen, die teils nur eine oder zwei Generationen von uns entfernt sind, schweigen. „Das mögen schmerzhafte Erinnerungen sein, aber wir können das nicht für immer begraben.“

Schreiben heißt Recherchieren

De Bodard bezeichnet sich selbst als sehr organisiert – ein Grund dafür sei die Tatsache, dass sie faul sei – wie in der Softwareentwicklung sei es sehr viel einfacher, Dinge in der Planung zu reparieren, als wenn man schon mitten drin steckt. Daher erarbeitet sie sich detaillierte, farbcodierte Outlines und nimmt sich für die Recherche ebenso viel Zeit wie fürs Schreiben selbst – meist etwa ein halbes Jahr, das fürs Lesen, Notieren und Nachdenken reserviert ist. Sie vergleicht es mit dem Spielen mit Lego – auch bei der Überarbeitung arbeite sie mit einem Bausteinprinzip, wo sie Rückmeldungen zu Gemeinsamkeiten zusammenfasst und nach und nach einbaut. „Ja, ich bin ein Kontrollfreak, schuldig im Sinne der Anklage.“

Als Europäerin, die in der Fantasy über aztekische / mexikanische Kultur geschrieben hat, beschäftigt sie sich natürlich auch mit Gedanken darüber, inwieweit Recherche ersetzen kann, nicht „own voice“ zu sein. „Als Autorin muss man über Dinge schreiben, die man nicht kennt, sonst würde man niemals den Stift aufs Papier setzen.“ Dennoch ist sie sich bewusst, dass es einen schmalen, manchmal nicht vorhandenen Grad zwischen „gut recherchiert“ und „kulturell angeeignet“ gibt. (Sie schreibt darüber unter anderem hier). Die Gefahr liege vor allem in der Reproduktion von immergleichen Stereotypen: Figuren sollen sich mit ihren Werten und Lebenswirklichkeiten dreidimensional anfühlen, und nicht wie Abziehbilder oder „kostümierte Weiße“. Diesen Rechercheaufwand würden viele Autor*innen unterschätzen, sagt de Bodard. Dass sie selbst of color sei, entbinde sie nicht von guter Recherche. „Ich muss auch immer wieder innehalten und mir anschauen, was ich da gerade tue.“

Welten in vielen Formen

Obwohl de Bodard Ruhm mit Kurzgeschichten und Novellen errungen hat, erlauben ihr Romanprojekte, freier zu atmen. Weltenbau und Figuren haben darin mehr Platz, und de Bodard ist eine Autorin, die üppiges, fantasievolles Worldbuilding betreibt und darin aufgeht. Außerdem betrachtete sie Romane als „elastischer“ als Kurzgeschichten. „Wenn in einer Kurzgeschichte etwas Ungeplantes passiert, muss ich sie eigentlich neu planen und neu organisieren. […] Romane überleben es, wenn man Unerwartetes nach ihnen wirft.“

Doch es gibt auch Mischformen in ihren Werken: Das Xuya-Universum, ihre vietnamesische Space Opera, besteht aus 44 Kurzgeschichten und Novellen und zeichnen einen alternativen Geschichtsverlauf von einem den amerikanischen Kontinent entdeckenden China (Xuya bedeutet so viel wie Morgenrot-Küste). Die ersten davon gehören zu ihren ersten Kurzgeschichten und haben die oben bereits erwähnten chinesischen Hauptfiguren, alles ab 2013 dreht sich um vietnamesische Kultur (ab „On a Red Station“). Einen detaillierten Verlauf dieser alternativen Zeitlinie mitsamt einer Zukunft im Weltall findet sich auf de Bodards Website, wo sie auch darum bittet, die Xuya-Storys nicht als „chinesische Science-Fiction“ zu bezeichnen, was wohl – vermutlich auch im Hype um Liu Cixin – immer wieder gemacht wird.

Mütter, queere Repräsentation und andere Alltäglichkeiten

„In the Vanishers‘ Palace“, das trotz der märchenhaften Grundprämisse ein Grenzgang zwischen Fantasy und SF ist, begann als Novelle. De Bodard riss mit vorherigen Projekten einige Deadlines und schrieb sich an die Grenze des Burnouts, bevor sie beschloss, sich etwas Wohltuendem zu widmen. „Die Schöne und das Biest” sei einer der ersten Disney-Filme gewesen, den sie im Kino sah, zudem faszinieren Märchen sie als Grundfundament unseres Verständnisses von Geschichten. Gleichzeitig stecken sie voller problematischer Tropes, die wir in modernen Adaptionen umdrehen können. So dreht sich „In the Vanishers‘ Palace“ um Konsens und das Recht auf ein „Nein“.

Zudem ist eine der Hauptfiguren im Roman Mutter von Teenagern. De Bodard hat zwei kleine Kinder und ist sich schmerzlich bewusst, dass Mütter in Medien generell, aber vor allem im Märchen und in der Phantastik, oft abwesend oder tot sind – oder einfach keine Persönlichkeit haben. Auch Teile ihres Xuya-Universums entstanden aus der Wut über tote und fehlende Mütter in der Science-Fiction. „Ich hatte Star Wars Episode III geschaut, und eine Kultur, die einen Mann retten kann, der in Lava gefallen ist, aber nicht verhindern kann, dass eine Mutter bei der Geburt stirbt – oder ihr überhaupt vor der Geburt mitteilen kann, dass sie Zwillinge erwartet – hat ziemlich dubiose Probleme.“ Zu diesem Fokus auf Familie passen auch die belebten „Brainships“, die Teil ihrer Familien sind, und ein Ahnenkult mit implantierten Erinnerungen der Vorfahr*innen im Xuya-Universum.

Auch bei der queeren Repräsentation in ihren Romanen sind wir wieder beim Thema Dekolonisierung: De Bodards Haupt- und Nebenfiguren sind lesbisch, bi, nichtbinär – doch die Konflikte in ihren Welten drehen sich nicht darum. „Ich wollte Geschichten, in denen Queerness wichtig und valide ist, aber auch komplett normalisiert. Geschichten über Homo- und Transfeindlichkeit sind sehr wichtig […], aber ich hatte das Ziel, eine Welt zu erschaffen, in der queere Menschen ihre eigenen Geschichten erleben und ihre eigenen Leben leben und vor allen Dingen ihr eigenes Glück erringen.“ Teil dieses Worldbuildings findet seinen Ursprung in der vietnamesischen Sprache: Das Vietnamesische kennt eine Vielfalt gegenderter Pronomen, und schon das Wort „ich“ transportiert das Geschlecht und die Beziehung sowie den Altersunterschied zu der Person, mit der man spricht.

Traurigerweise ist ihr neuester Roman „Fireheart Tiger“ auf Amazon unter „Erotikratgeber für Lesben“ sowie „Liebesromane für Lesben & Schwule“ kategorisiert. Während ersteres eine irgendwie noch ganz witzige Fehlkategorisierung ist, spricht aus Letzterem noch immer das Vorurteil, Romane mit queeren Charakteren seien nur für queere Lesende interessant. Vielfältige queere Geschichten sind für alle da.

„Ich wollte gar nicht über soziale Missstände schreiben. […] Aber natürlich ist das Schreiben immer ein politischer Akt, und ein Buch, in dem die beiden Hauptfiguren zwei queere Vietnamesinnen sind, die sich ineinander verlieben, und in dem einige Nebencharaktere nichtbinär sind, kann wohl nicht als ‚neutral‘ durchgehen. Es sagt etwas darüber aus, welchen Leuten Glück zusteht, Eskapismus und eigene Geschichten; und das ist an sich schon ein politisches Statement.“

 

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.


www.jcvogt.de