Science Fiction gilt allgemein als Feld, in dem sich männliche Leser und männliche Autoren austoben. Vielleicht, so wird angemerkt, interessieren sich Frauen auch nicht so sehr für SF, gefolgt vom versöhnlichen Schluss, dass es ja immer Ursula K. Le Guin gibt, wenn man sich nach weiblicher Science Fiction umsehen möchte. In dieser Reihe stellen wir dem Einzelfall Le Guin weitere, vielfältige Einzelstorys an die Seite – in der Hoffnung, dass sie ein größeres Ganzes ergeben, ein Mosaik weiblicher Zukunftsvisionen.
James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon
Der Name James Tiptree Jr. lässt erst einmal nicht vermuten, dass es sich um eine Autorin handelt. Aber die Psychologin, Geheimdienstmitarbeiterin und Hühnerzüchterin Alice B. Sheldon schrieb ihre Kurzgeschichten, Novellen und zwei Romane unter einem männlichen Pseudonym, dessen Nachname ihr auf einem englischen Marmeladenglas ins Auge fiel. Aus dem Nichts, nur schriftlich unter einer Postfachadresse zu erreichen, trat James Tiptree Jr. im Jahr 1968 mit der Geschichte „Birth of a Salesman“ an die Öffentlichkeit und schrieb sich in den folgenden zehn Jahren zu Weltruhm.
Geheimdienst und Hühnerfarm
Doch auch wenn Tiptree aus dem Nichts kam, hatte Alice B. Sheldon bereits 52 bemerkenswerte Lebensjahre hinter sich, als sie zu veröffentlichen begann. 1915 als Tochter einer Autorin von (vornehmlich) Reiseliteratur und eines Anwalts und Natur- und Afrikaforschers geboren, bereiste sie bereits in den 20er Jahren die Welt. Sie heiratete jung und ließ sich jung wieder scheiden. Zunächst strebte sie eine Laufbahn als Künstlerin und Kunstkritikerin an, doch dann verschlug es sie im 2. Weltkrieg in ein vollkommen anderes Feld: 1942 trat sie in die U.S. Army ein und war in den nächsten Jahren für die Air Intelligence, die Photo Intelligence und die Army Intelligence tätig. Die Frauen, die in dieser Zeit in der Armee waren, wurden in ihren Tätigkeitsfeldern stark beschränkt, und oft war Sheldon, die den Rang einer Major erlangte, die erste Frau in ihrem Sektor. 1945 heiratete sie Huntington Sheldon, der einen hohen Rang beim US-Geheimdienst innehatte, und nachdem sich das Paar nach dem Krieg zunächst auf eine Hühnerfarm zurückgezogen hatte, wurden beide Anfang der Fünfziger zum Aufbau der neugegründeten CIA „reaktiviert“. Bereits 1955 verließ Sheldon die CIA wieder, um Psychologie zu studieren – zudem behagte ihr die Richtung nicht, in die sich die Behörde entwickelte. Weil sowohl ihr Mann als auch die CIA großen Druck auf sie ausübten, verschwand sie für ein halbes Jahr von der Bildfläche, indem sie alles, was sie bei ihrer Arbeit gelernt hatte, dazu verwandte, nicht gefunden zu werden.