Judith Vogt, 27.09.2019
Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: Margaret Atwood, die gerade für ihre Fortsetzung von „Der Report der Magd“ viel Aufmerksamkeit bekommt.
Diese Porträt ist eine schwierige Angelegenheit: Atwood, obgleich schon seit Jahrzehnten unter anderem von Science-Fiction-Weltruhm, konnte sich nie mit dem Genre anfreunden. Ich porträtiere sie hier trotzdem und erkläre euch natürlich gern, warum!
Science Fiction versus „speculative fiction“
Margaret Atwood, die „Der Report der Magd“ bereits 1986 veröffentlichte, nannte dieses prägende Werk „speculative fiction“, weil die Geschehnisse darin tatsächlich geschehen könnten. Sie sagt dazu: „Die Science Fiction hat Monster und Raumschiffe; speculative fiction könnte hingegen tatsächlich passieren.“ Auch zu ihrer Post-Apokalypse „Oryx und Crake“ äußerte sie sich folgendermaßen: „Es ist Fakt in der Fiktion. In der Science Fiction gibt es Raketen und Chemikalien.“
Das ist natürlich – ich würde mal sagen – verhandelbar. Nicht mit Atwood selbst vielleicht, denn das haben schon ganz andere versucht, aber nehmen wir im Sinne dieser Porträtreihe einmal an, dass Science Fiction auch Post-Apokalypsen und spekulative Near-Future-Dystopien umfasst.
Atwoods Standpunkt von „Monstern und Raumschiffen“ verleugnet, was Science Fiction kann und tut, und während der Begriff immer schon schwammig war, weil er ein so großes und vielfältiges Genre beschreibt, sagt Atwoods Argument doch auch etwas über das Standing und die generelle Wahrnehmung der Science Fiction aus. Ihre Weigerung, sich selbst zu diesem Genre zu zählen, hat dann auch einige Kritiker*innen dazu bewogen, besonders in Besprechungen der exzellenten Psychostudie „Oryx and Crake“ hervorzuheben, dass Science Fiction niemals diese psychologischen Nuancen aufweisen könnte – und somit kann der Roman also keine SF sein, richtig?
Dabei ist der Fall besonders bei „Oryx und Crake“ mit seinen genetischen Experimenten, seiner apokalyptischen Endzeit, seinen wilden Kreuzungen und neu gestalteten Menschen ziemlich eindeutig. „Der Report der Magd“, die als Serie verfilmte Dystopie über Unfruchtbarkeit, Tyrannei und Unterwerfung von Frauen, weist ebenfalls alle „Marker“ auf, die ihn einem Untergenre der Science Fiction zuordnen – der Social-Science-Fiction zum Beispiel oder der feministischen Science Fiction.
Selbst Ursula K. Le Guin widersprach Atwood in dem Bestreben, ihre Bücher vom Label zu befreien. Sie sagte, Atwood treffe keine gültige literarische Unterscheidung, sondern schütze ihre Werke vor literarischen Fanatikern, die Science Fiction in ein „literarisches Ghetto“ stecken wollen.
Es ist natürlich irgendwo verständlich, dass Atwood, die keinesfalls nur Science Fiction, pardon, speculative fiction schreibt, sondern auch Gegenwartsfiktion, Thriller und Lyrik, ihre Romane von diesem „Makel“ befreien will. Immerhin ein kleiner Sieg fürs Genre: Obwohl sich Atwood nicht als Science-Fiction-Autorin versteht, bezeichnet sie sich als Science-Fiction-Liebhaberin.
Utopische Kindheit in Kanada
Margaret Atwood wurde 1939 in Kanada geboren und lebt heute in Toronto. Ihre Kindheit verbrachte sie an einem See, für jede Besorgung musste ihre Familie mit einem Boot aufbrechen. Erst mit elf besuchte Atwood ganzjährig eine Schule, und schon mit sechzehn widmete sie sich leidenschaftlich dem Schreiben. Mit zweiundzwanzig veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband. Noch heute prägen Wasser und Wald eine für sie gültige Utopie – und natürlich ein gerechteres Sozialsystem, eine Verringerung des CO2-Ausstoße und die Erhaltung unserer Lebensgrundlage.
Trotz der Dystopien ist Atwood Optimistin – alle Schriftsteller*innen seien im Grunde ihres Herzens optimistisch, denn sie hegen die Hoffnung, dass noch Menschen da sein werden, die ihre Werke lesen wollen. In dieser Hoffnung hat Atwood die einzige Kopie ihres Romans „Scribbler Moon“ dem norwegischen Future Library Project übergeben, das ihn erst 2114 zur Lektüre freigeben wird.
Die Macht der Magd
„Der Report der Magd“ ist wohl Atwoods berühmtestes Werk der „speculative fiction“. Seit 1986 war der Roman niemals vergriffen und ist weltweit millionenfach verkauft worden. Es ist das Buch schlechthin, wenn es um Politik geht, die sich um die Kontrolle des weiblichen Körpers und der Fortpflanzung geht – nicht umsonst protestieren Demonstrant*innen weltweit im ikonischen Magd-Kostüm „pro choice“ und für die Autonomie ihrer eigenen Körper.
Die Magd geht um – sie ist zum geisterhaften Symbol einer Zukunft geworden, die uns in manchen Momenten nicht einmal mehr fern erscheint; zum Beispiel, wenn in US-Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche zu jedem Zeitpunkt und unter allen Bedingungen unter Strafe gestellt werden. Doch machen wir uns nichts vor: Auch in Deutschland geistert die Magd durch so manche Äußerung der AfD und durch den Unwillen, Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor nicht zu legalisieren (sondern nur unter bestimmten Umständen von Strafe zu befreien).
Die Hulu-Serie ist nur eine von vielen Medieninkarnationen des Werks, ein Film von Volker Schlöndorff und eine Oper gingen ihnen voraus. Atwood begann die Arbeit an „Der Report der Magd“ 1984 in West-Berlin, schrieb dann jedoch in Kanada und den USA weiter. Sie beendete das Buch in Alabama. (Bezeichnenderweise: Berlin, von einer Mauer umgeben und mit seiner Geschichte im Nationalsozialismus, und Alabama als „Musterstaat“ des politisch rechten Südens der USA – die Tyrannei eines totalitären Systems und der strenge Puritanismus sind die Grundpfeiler, auf denen „Der Report der Magd“ steht.)
Atwood selbst erinnert sich kaum noch an den Schreibprozess. In ihrem Tagebuch stünden Einträge wie „Ich fühle mich wie leergesaugt. Aber ich funktioniere noch.“ Beim Erscheinen 1986 sah Atwood nicht kommen, wie aktuell ihre Dystopie noch werden würde. Dabei hatte sie eine Regel, die sie beim Schreiben befolgte: Sie wollte nichts im Roman beschreiben, was Menschen nicht bereits zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort getan hatten, und keine Technologie entwerfen, die nicht bereits existierte.
Auch die Bezeichnung „feministische Dystopie“ trifft ihrer Meinung nach nicht zu – denn an der Spitze ihrer Gesellschaft stehen auch machtvolle Frauen, wohingegen eine feministische Dystopie ein System beschreiben müsste, in dem Männer an der Spitze stehen und Frauen unterdrückt werden. (Auch hier wage ich zu widersprechen, was aber mit Sicherheit auch an den unterschiedlichen Feminismus-„Generationen“ liegt, denen Atwood und ich angehören: „Der Report der Magd“ beschreibt ein wirkmächtiges Patriarchat, und es ist absolut nicht unüblich, dass auch Frauen in dieser Hierarchie Macht ausüben können und auch Männer machtlos sind.)
Sie selbst sei zu sehr Optimistin, um den Roman in vollständiger Dystopie enden zu lassen – der Epilog aus „Der Report der Magd“ bietet uns noch eine zweite Zukunft, und Atwood sagt: „Wann immer mich Leute fragen, ob ich glaube, dass ‚Der Report der Magd‘ wahr wird, sage ich, dass es zwei Zukünfte in diesem Buch gibt, und wenn die erste davon wahr wird, kann auch die zweite wahr werden.“ Noch 2012 schrieb Atwood im Guardian über „Der Report der Magd“, der sie seit dreißig Jahren begleitet: „Einige Bücher suchen die Lesenden heim. Andere suchen ihre Autorin heim. ‚Der Report der Magd‘ hat beides getan.“