In den 1970er Jahren befassten sich zwei Theoretiker*innen intensiv und literaturwissenschaftlich mit der Science-Fiction und schrieben gleichzeitig Meilensteine des Genres: Samuel Delany und Joanna Russ. Ersterer hat in Deutschland bei Golkonda eine neue Heimat gefunden, die Wiederentdeckung von Russ steht dagegen noch aus.
Joanna Russ befand sich stets in einem ambivalenten Verhältnis zum Genre: Als Professorin für Anglistik hielt sie stets an der Science-Fiction fest, obwohl sie wenig davon als literarische Kunst anerkannte. Ihre vierzehn Jahre als Rezensentin für das Magazine of Fantasy and Science Fiction geben nicht nur einen Einblick darin, wie Russ Rezensionen schrieb, sondern auch, was sie selbst von der von ihr kritisierten und literarisch schlechten Science-Fiction lernte. Und als Feministin, die wusste, dass sie Männer und ihre SF-Geschichten kennen musste, um dagegen anzuschreiben, fuhr Russ wie ein ellbogenbewehrter Orkan durchs Genre.
Befreiung im Schreiben
Russ, geboren 1937, wuchs als Kind eines Hochschullehrers und einer Lehrerin in der Bronx auf. Die 1950er bildeten für sie eine erstickende Kulisse aus weiblicher Fügsamkeit und Heteronormativität. Russ heiratete noch im Studium, ließ sich jedoch im Jahr ihres Bachelorabschlusses, 1967, wieder scheiden. Ihre erste Kurzgeschichte „Nor Custom Stale“ war bereits 1959 im Magazine for Fantasy and Science-Fiction (F&SF) erschienen, das lange den Dreh- und Angelpunkt ihrer Karriere bildete. Wie bei so vielen Autor*innen ihrer Zeit besteht ein großer Teil ihres literarischen Werks aus Kurzgeschichten – anders als bei Tiptree Jr. gibt es sie jedoch selbst im Englischen nicht gesammelt, sie sind verteilt auf F&SF-Ausgaben und Anthologien, und bedauerlich viele von ihnen sind nirgends mehr einsehbar – mit Ausnahme der Erzählungen um Alyx, die auch die Protagonistin ihres ersten Romans „Picnic on Paradise“ ist, und die 1976 gesammelt als „The Adventures of Alyx“ erschienen. Mit Alyx wird auch Russ’ Reise von der Fantasy zur Science-Fiction sichtbar, denn der Zyklus startet in einer Umgebung, die eher an die heroische Fantasy erinnert und erlangt dann immer mehr Science-Fiction-Elemente. Russ schrieb später, sie sehe eine Gefahr in der Fantasy, wenn sie nicht mehr als ein Tagtraum sei, während sie der spekulativen und auch wissenschaftlichen Kraft der Science-Fiction die Möglichkeiten zugesteht, an politischen und gesellschaftlichen revolutionären Prozessen mitzuwirken.
Die bedeutendste feministische SF-Autorin ihrer Zeit
Während sich andere feministische Autor*innen wie Le Guin, Delany, Tiptree Jr. und Zimmer Bradley, wo es ging, um Bekenntnisse zum radikalen Feminismus der zweiten Welle drückten, war Russ die wohl bedeutendste Verfechterin eines neuen, feministischen Blicks auf Gender und Sexualität. Ihre politische Agenda ist untrennbar mit ihrer Arbeit als Schriftstellerin und Kritikerin verbunden.
Für SF-Autorinnen gab es in den Sechzigern und Siebzigern vorbestimmte Nebensträßchen, oft Sackgassen, denen sich Russ verweigerte. Sie verschaffte sich Platz mitten in den Hauptstraßen der Szene und legte sich in Briefen mit den Genregrößen ihrer Zeit an.
Als „The Pre-persons“ erschien, eine Anti-Abtreibungsgeschichte von Philip K. Dick, schrieb sie ihm den angeblich „garstigsten“ Brief, den Dick je erhalten habe: Darin hieß es, dass sie Leuten mit seiner Einstellung normalerweise anbieten würde, sie zu schlagen.
Und Russ interagierte nicht nur in Briefen: Novellen, Kurzgeschichten, ja, ganze Romane in dieser Zeit verließen den abgeschotteten Kontext des einzelnen Schreiberlings in seiner Kammer und antworteten aufeinander, entstanden in Reaktion aufeinander oder sollten den anderen zeigen, wie man es besser, visionärer, revolutionärer machen kann. So beginnt „We Who Are About To…“ beispielsweise als klassische Robinsonade, wie „Gilligan’s Island“, das in den Sechzigern im Fernsehen lief – nur auf einem fernen Planeten, wie der „Darkover“-Zyklus von Zimmer Bradley. Düster stellt Russ die Frage, wieviel Persönlichkeit in einer solchen Situation einem höheren Ziel untergeordnet würde – und was geschieht, wenn sich eine einzelne Frau einem solchen „Überlebensszenario“ widersetzt.
Analog zur zweiten Welle des Feminismus war Russ zudem eine Verfechterin der vollkommen weiblichen Zukunftsvisionen: Es müsse diese Männer ausschließenden SF-Settings geben, so Russ, „weil Männer dazu tendieren, sich alle guten Dinge dieser Welt unter den Nagel zu reißen.“
Damit bildet Russ das Zentrum einer Erzähltradition, die sich heute in modernerer Form zum Beispiel bei Kameron Hurley wiederfindet. Hurley selbst schreibt in ihrem Essayband „The Geek Feminist Revolution“, dass sie zum ersten Mal bei der Lektüre von Russ’ Romanen Worte für sich selbst fand.