Science Fiction

Science Fiction von Frauen #9: Joanna Russ

Judith Vogt, 01.12.2019
 
Weiter geht es mit unserer Kolumne über großartige Frauen in der Science-Fiction-Literatur. Heute im Porträt: Joanna Russ. 
 

In den 1970er Jahren befassten sich zwei Theoretiker*innen intensiv und literaturwissenschaftlich mit der Science-Fiction und schrieben gleichzeitig Meilensteine des Genres: Samuel Delany und Joanna Russ. Ersterer hat in Deutschland bei Golkonda eine neue Heimat gefunden, die Wiederentdeckung von Russ steht dagegen noch aus.

Joanna Russ befand sich stets in einem ambivalenten Verhältnis zum Genre: Als Professorin für Anglistik hielt sie stets an der Science-Fiction fest, obwohl sie wenig davon als literarische Kunst anerkannte. Ihre vierzehn Jahre als Rezensentin für das Magazine of Fantasy and Science Fiction geben nicht nur einen Einblick darin, wie Russ Rezensionen schrieb, sondern auch, was sie selbst von der von ihr kritisierten und literarisch schlechten Science-Fiction lernte. Und als Feministin, die wusste, dass sie Männer und ihre SF-Geschichten kennen musste, um dagegen anzuschreiben, fuhr Russ wie ein ellbogenbewehrter Orkan durchs Genre.

Befreiung im Schreiben

Russ, geboren 1937, wuchs als Kind eines Hochschullehrers und einer Lehrerin in der Bronx auf. Die 1950er bildeten für sie eine erstickende Kulisse aus weiblicher Fügsamkeit und Heteronormativität. Russ heiratete noch im Studium, ließ sich jedoch im Jahr ihres Bachelorabschlusses, 1967, wieder scheiden. Ihre erste Kurzgeschichte „Nor Custom Stale“ war bereits 1959 im Magazine for Fantasy and Science-Fiction (F&SF) erschienen, das lange den Dreh- und Angelpunkt ihrer Karriere bildete. Wie bei so vielen Autor*innen ihrer Zeit besteht ein großer Teil ihres literarischen Werks aus Kurzgeschichten – anders als bei Tiptree Jr. gibt es sie jedoch selbst im Englischen nicht gesammelt, sie sind verteilt auf F&SF-Ausgaben und Anthologien, und bedauerlich viele von ihnen sind nirgends mehr einsehbar – mit Ausnahme der Erzählungen um Alyx, die auch die Protagonistin ihres ersten Romans „Picnic on Paradise“ ist, und die 1976 gesammelt als „The Adventures of Alyx“ erschienen. Mit Alyx wird auch Russ’ Reise von der Fantasy zur Science-Fiction sichtbar, denn der Zyklus startet in einer Umgebung, die eher an die heroische Fantasy erinnert und erlangt dann immer mehr Science-Fiction-Elemente. Russ schrieb später, sie sehe eine Gefahr in der Fantasy, wenn sie nicht mehr als ein Tagtraum sei, während sie der spekulativen und auch wissenschaftlichen Kraft der Science-Fiction die Möglichkeiten zugesteht, an politischen und gesellschaftlichen revolutionären Prozessen mitzuwirken. 

Die bedeutendste feministische SF-Autorin ihrer Zeit

Während sich andere feministische Autor*innen wie Le Guin, Delany, Tiptree Jr. und Zimmer Bradley, wo es ging, um Bekenntnisse zum radikalen Feminismus der zweiten Welle drückten, war Russ die wohl bedeutendste Verfechterin eines neuen, feministischen Blicks auf Gender und Sexualität. Ihre politische Agenda ist untrennbar mit ihrer Arbeit als Schriftstellerin und Kritikerin verbunden.

Für SF-Autorinnen gab es in den Sechzigern und Siebzigern vorbestimmte Nebensträßchen, oft Sackgassen, denen sich Russ verweigerte. Sie verschaffte sich Platz mitten in den Hauptstraßen der Szene und legte sich in Briefen mit den Genregrößen ihrer Zeit an.

Als „The Pre-persons“ erschien, eine Anti-Abtreibungsgeschichte von Philip K. Dick, schrieb sie ihm den angeblich „garstigsten“ Brief, den Dick je erhalten habe: Darin hieß es, dass sie Leuten mit seiner Einstellung normalerweise anbieten würde, sie zu schlagen.

Und Russ interagierte nicht nur in Briefen: Novellen, Kurzgeschichten, ja, ganze Romane in dieser Zeit verließen den abgeschotteten Kontext des einzelnen Schreiberlings in seiner Kammer und antworteten aufeinander, entstanden in Reaktion aufeinander oder sollten den anderen zeigen, wie man es besser, visionärer, revolutionärer machen kann. So beginnt „We Who Are About To…“ beispielsweise als klassische Robinsonade, wie „Gilligan’s Island“, das in den Sechzigern im Fernsehen lief – nur auf einem fernen Planeten, wie der „Darkover“-Zyklus von Zimmer Bradley. Düster stellt Russ die Frage, wieviel Persönlichkeit in einer solchen Situation einem höheren Ziel untergeordnet würde – und was geschieht, wenn sich eine einzelne Frau einem solchen „Überlebensszenario“ widersetzt.

Analog zur zweiten Welle des Feminismus war Russ zudem eine Verfechterin der vollkommen weiblichen Zukunftsvisionen: Es müsse diese Männer ausschließenden SF-Settings geben, so Russ, „weil Männer dazu tendieren, sich alle guten Dinge dieser Welt unter den Nagel zu reißen.“

Damit bildet Russ das Zentrum einer Erzähltradition, die sich heute in modernerer Form zum Beispiel bei Kameron Hurley wiederfindet. Hurley selbst schreibt in ihrem Essayband „The Geek Feminist Revolution“, dass sie zum ersten Mal bei der Lektüre von Russ’ Romanen Worte für sich selbst fand.

Die Entdeckung der Homosexualität

„Ich habe mich immer in unerreichbare Männer verliebt, bis ich erkannt habe, dass ich sie nicht lieben möchte: Ich möchte sein wie sie.“

Delany und Russ haben noch eine weitere Gemeinsamkeit, außer, dass sie beide denselben Szenekreisen angehörten und sich auch theoretisch mit der SF befassten: Sie brachten offen homosexuelle Perspektiven in die Science-Fiction. Während männliche Homosexualität im heteronormativen Weltbild als „zu viel“ (zu sexuell, zu offensiv, zu bedrohlich) angesehen wird, wird weibliche Homosexualität traditionell als „zu wenig“ abgeurteilt (als „sexless“, kein „richtiger“ Sex). Als lesbische Frau mit lesbischer Sexualität als Thema ihrer Romane und Geschichten hat Russ alles gehört, was lesbische Frauen in unserer Gesellschaft (immer noch) zu hören bekommen, vieles davon abgedruckt als Kritik oder Leserbrief.

Als lesbische Feministin sah sie zudem, wie trotz der zweiten Feminismus-Welle gesamtgesellschaftlich alles auf Männer konvergiert – Frauen als Beiwerk für Männer, Frauen im Vergleich mit Männern, Frauen als die eine Frau unter Männern, Frauen, die für Männer arbeiten, die Männer lieben, die für Männer leben. Sie fand beispielsweise in ihrem wohl berühmtesten Roman „The Female Man“ scharfsinnige Worte dafür, ganze Passagen verlassen die Romanhandlung und stehen für sich als wütender feministischer Debattenbeitrag, von dem das Buch selbst, und somit Russ, sich am Ende wünscht, dass eine Zeit kommt, in der es nicht mehr verstanden wird. Ich habe es im vergangenen Monat gelesen, habe dabei gelacht und geweint und bedauerlicherweise immer noch alles daran verstanden.

Als treibende Kraft der feministischen Science-Fiction gab Russ Menschen Stimme, Perspektive und Worte, die sie vorher nicht hatten und eröffnete das Genre, das stets den Anspruch hatte vorauszuschauen, und doch oft angestaubte Werte transportierte, in neue Richtungen.

Das Spannungsfeld der zweiten Welle

Dennoch muss man auch Russ genauer unter die Lupe nehmen: Die zweite feministische Welle zeichnet sich dadurch aus, dass sie exklusiv war: Vornehmlich weiße cis Frauen strebten nach den Positionen, die gemeinhin für Männer reserviert waren. Natürlich strebte auch dieser Feminismus nach gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, doch das Spannungsfeld zwischen der Solidarität von „Schwestern“ und dem Wettbewerb um den einen Platz, den es zwischen Männern zu ergattern gab, blieb vorherrschend.

Auch in der Science-Fiction: Es kann eben immer nur eine „Mutter der Science-Fiction“ geben, nur eine „Schlumpfine“ im Dorf. In Briefen und Kritiken ging Russ andere SF-Autorinnen an, die ihr nicht feministisch genug waren: Wilhelm etwa, nachdem diese in einem Interview sagte, ihr neuer Roman sei nicht vornehmlich feministisch. Oder Le Guin, deren „Die linke Hand der Dunkelheit“ sie vorwarf, sich weiterhin exklusiv um Männer zu drehen und Männlich-Patriarchales zu reproduzieren, auch wenn vorgeblich Geschlechterkonzepte im Roman abgeschafft seien.

Und obwohl sie in „How To Suppress Women’s Writing“ scharfsinnig analysiert, wie systematisch Literatur von Frauen als irrelevant und unkanonisch, als unnötig und „nicht richtig“ abgewertet wird, machte sie anfangs den Fehler selbst: Science-Fiction, die ihr nicht „hard“, also technisch und naturwissenschaftlich genug war, wertete sie ab, ebenso wie die lange Tradition der SF-Geschichten aus der Feder von weiblichen „Magazine Writers“, die ihrer Meinung nach schädliche Stereotype reproduzierten.

Das änderte sich erst im Laufe der Siebziger, als sie begann, die SF-Autorinnen als Schwesternschaft zu schätzen. Sie entwickelte ein größeres Gemeinschaftsgefühl und versöhnte sich auch mit denen, die andere Schwerpunkte setzten als sie.

Die Debatte flaut ab – und geht weiter!

In den 1980ern verschwanden der Feminismus und auch die queeren Themen weitestgehend aus der Debatte um die Science-Fiction. Russ schreibt, dass sie in den Achtzigern im Publikum von komplett männlichen Panels über das Fandom der Siebziger saß, und dort mit keinem Wort die Nebula- und Hugo-Award-gewinnenden Frauen erwähnt wurden, die homosexuellen Themen, die feministischen Diskurse. Im Nachhinein wurde die Science-Fiction männlich gemalt, und das geschieht bis heute (und ist der Grund für diese Porträtreihe). Russ kannte die Mechanismen, sowohl als Autorin, als auch als Kritikerin und Professorin, und mit ihrem Tod 2011 verstummte ihre Stimme nicht: Mit ihrem erbarmungslos scharfen Blick auf männlich dominierte Literatur, auf den Literaturkanon der Universitäten und auf rückwirkende kulturelle Marginalisierung von Autorinnen kann sie auch als Ahnherrin heutiger Initiativen gelten, Missverhältnisse sichtbar zu machen – von #DichterDran bis zum frisch erschienenen „Ratgeber“ „The White Man's Guide to White Male Writers of the Western Canon“ von Dana Schwartz.

Es ist kein Zufall, dass sich in der Zeit, in der der Großteil ihrer Geschichten und Romane erschien, die Science-Fiction diversifizierte und gesellschaftliche Wirkmacht entwickelte. Ihr Einfluss auf die politische Landschaft des Genres ebenso wie auf die Themen Gender und Sexualität in der Science-Fiction kann nicht überschätzt werden. Der Kampf um Diversität, Inklusion und Sichtbarkeit mag in den 1980ern und 1990ern abgeebbt sein, doch in den letzten Jahren erfasste er die amerikanische SF, die Popkultur generell und hat zum Glück auch vor dem deutschsprachigen Raum nicht Halt gemacht, auch wenn wir in manchen Belangen noch am Anfang stehen.

Auch dieses (zehnte!) Porträt meiner Reihe lässt sich am besten mit einem Zitat der Autorin schließen: „I think from now on, I will not trust anyone who isn't angry.“

I feel you, Joanna.  

 

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de