Science Fiction

Terry Pratchett für Anfänger: Hinweise für erstmalige Scheibenwelt-Touristen

Banner Terry Pratchett für Anfänger: Hinweise für erstmalige Scheibenwelt-Touristen

BUCH

 

Christian Endres, 14.08.2017

Steht man als LeserIn vor einem solchen Serienmomument wie der SCHEIBENWELT von Terry Pratchett, kratzt man sich mitunter schon mal das Haupthaar und fragt sich: Wo soll ich anfangen, o Meister? Darauf gibt es verschiedene Antworten, weshalb wir einige davon hier geben.

Zwischen 1983 und 2014 hat der englische Ausnahmeautor, Menschenversteher, und Schlapphutträger Sir Terry Pratchett (1948–2015) über vierzig humoristische Fantasy-Romane geschrieben, die auf seiner magischen Scheibenwelt spielen. Die Bücher über die im Original als Discworld bekannte Welt, die auf den Rücken von vier riesigen Elefanten steht, die wiederum von der gigantischen Sternenschildkröte Groß A’Tuin durchs Universum getragen werden, wurden in mehr als fünfunddreißig Sprachen übersetzt und weltweit 80 Millionen Mal verkauft. Terry Pratchetts Geschichten voller Witz und Weisheit befassen sich vordergründig mit Magie und magischen Wesen, aber hintergründig vor allem doch mit dem menschlichen Schwächen im Angesicht von Problemen, Fremdartigkeit, Veränderung und Fortschritt, sodass sie uns permanent einen Spiegel vors Gesicht halten – ein Gesicht, das während der Lektüre des Öfteren von Geschmunzel und Gelächter verzerrt wird. 

Allerdings brauchte selbst der famose Sir Terry ein Weilchen, um seinen endgültigen Ton zu finden und der Scheibenwelt beispielsweise den Tiefsinn zu verpassen, für den sie berühmt werden sollte. Zudem mussten im Verlauf der ersten Bücher noch ein paar Details, was Orte und Figuren angeht, herumgeschoben und feinjustiert werden, ehe sich die geografische und personelle Konsistenz verfestigt hatte.

Trotzdem, die beste Lesereihenfolge beim Einstieg in die Vorzeigeserie der modernen humoristischen Fantasy ist nun mal ganz simpel nach Erscheinungsdatum, immer schön der Reihe nach. So einfach ist das manchmal. Dann stimmen auch die Chronologie der einzelnen Subreihen und Zyklen (um die Zauberer, die Stadtwache, die Hexen, Gevatter Tod, die Industrialisierung, etc.) und die Entwicklung der Figuren über alle Romane hinweg.

Früh genug kommt der Neuleser zu den ersten Highlights der phänomenalen Scheibenwelt, deren Bewohner einem mit jedem Band mehr ans Herz wachsen. Furchtlose Serieneroberer und Abenteuertouristen könnten zum Antesten theoretisch natürlich genauso gut den ersten Roman jeder Zyklen-Untergruppe lesen, die nach den jeweiligen Haupthandlungsträgern sortiert sind:

 

Zauberer

Die Farben der Magie

Das Licht der Fantasie

Wer die Scheibenwelt als Tourist erkunden will, fängt also am Besten mit den Romanen „Die Farben der Magie“ und „Das Licht der Fantasie“ an, den ersten beiden Büchern, die eine zusammenhängende Geschichte erzählen und im Grunde als ein Werk betrachtet werden müssen. Der eröffnende Zweiteiler um den furchtsamen, magisch vollkommen untalentierten Zauberer Rincewind, den arglosen Touristen Zweiblum und dessen bissige Zaubertruhe ist in erster Linie eine Verballhornung von Fantasy-Archetypen. Das ist lange noch nicht so geistreich und genial, wie es nur wenige Bücher später werden soll – zur Akklimatisierung und Orientierung taugen die Romane aus den Jahren 1983 und 1986 aber allemal. Solange man im Hinterkopf behält, dass sie lediglich die erste von vielen Touren darstellen und Pratchett am Anfang mit jeder Runde besser und brillanter wurde, derweil der Humor sich gehörig wandelte. Wer nicht auf den Slapstick-Doppelpack zum Discworld-Debüt anspringt, muss mindestens einen der nachfolgenden Romane lesen, bevor er die Scheibenwelt abschreibt.

In den nächsten Rincewind-Romanen „Der Zauberhut“, der Faust-Parodie „Eric“ und „Echt zauberhaft“ lässt sich von Buch zu Buch eine satte Steigerung feststellen.

 

Hexen

Das Erbe des Zauberers

Die Hexen der Scheibenwelt sind bauernschlaue bis weise Frauen mit Durchblick – der durchdringende Blick der strengen Esme ‚Oma’ Wetterwachs, der größten und respektabelsten aller Hexen, kann sogar durch Granit schneiden. Im ersten Buch mit Pratchetts beliebten Hexen geht es um Gleichberechtigung, da die magisch hochbegabte Esk vom Schicksal dazu bestimmt wurde, ein Zauberer zu werden, und dringend ausgebildet werden muss. Ein Zauberer, keine Hexe. Deshalb muss sie Oma Wetterwachs letztlich in die wahnwitzige, wunderbare, wuselnde, wimmelnde, würzige, wieselnde, würgereizerzeugende Scheibenwelt-Metropole Ankh-Morpork bringen, wo die traditionsbewusst-sexistischen Zauberer der berühmten Unsichtbaren Universität logieren. Da ist der Ärger vorprogrammiert ...

Spätere Hexen-Romane wie die Shakespeare-Verulkung „MacBest“, „Total verhext“ oder „Lords und Ladies“ machen noch mal einen wahren Quantensprung in Sachen Qualität, doch das Potential von Oma Wetterwachs zeigt bereits diese erste Hexen-Geschichte.

 

Tod

Gevatter Tod

Terry Pratchett und Neil Gaiman haben zusammen nicht nur den Roman „Ein gutes Omen“ geschrieben, sondern beide in ihrem individuellen Schaffen obendrein den Tod zum Sympathieträger gemacht. Während er in Gaimans Sandman-Comics ein süßes Gothic-Mädel ist, kommt er in Pratchetts Scheibenwelt-Romanen ganz klassisch als Gerippe mit Kapuzenmantel, Sense und Sanduhr daher. Dennoch ist Gevatter Tod der Publikumsliebling der Scheibenwelt, DER IMMER IN GROSSBUCHSTABEN SPRICHT. Wie kann man ihn auch nicht lieben? Er mag Katzen, ist einfühlsam und verständnisvoll, hat regelmäßig verhängnisvolle Identitätskrisen und hilft zur Not als Weihnachtsmann aus (der auf der Scheibenwelt allerdings Blutwurst und Innereien bringt). Der erste, anno 1987 veröffentlichte Roman mit dem Tod, seiner Adoptivtochter Ysabell, seinem Diener Albert und seinem Lehrling Mort in den Hauptrollen ist ein echter Scheibenwelt-Evergreen und ein sehr guter Einstiegspunkt. Tödlich für die Platz-Perspektive im Bücherregal ...

Die nächsten Romane mit dem sympathischen Schnitter als knochigem Protagonisten sind „Alles Sense!“, „Rollende Steine“ und „Schweinsgalopp“.

Stadtwache

Wachen! Wachen!

Samuel Mumm zählt ebenfalls zu den absoluten Lieblingsfiguren der Scheibenwelt-Fangemeinde – und das in mehr als einer Hinsicht mit Recht. Der immer drahtige, oft stählerne Kommandant der Stadtwache von Ankh-Morpork nimmt die Welt durch seine Stiefelsohlen wahr, kennt jeden schmutzigen Trick im Straßenkampf und ist als Ermittler so bissig wie ein Terrier. Im ersten Roman über die Stadtwache müssen der angetrunkene Mumm und seine laschen Kollegen freilich erst mal gehörig aufgescheucht und aufpoliert werden, während sie und ein neuer, naiv aufrichtiger Wächter sich zugleich einer gefährlichen Verschwörung und einem noch viel gefährlicheren Drachen stellen müssen. Vorsicht, die Lektüre dieses ersten Scheibenwelt-Krimis könnte einem lebenslang einbringen – das heißt, lebenslange Begeisterung für Terry Pratchett und die Scheibenwelt.

Im weiteren Verlauf des grandiosen Wachen-Zyklus um „Helle Barden“ und „Hohle Köpfe“ werden die Romane mit Mumm, Karotte und Co. immer raffinierter und politischer.

 

Keine Scheibenwelt

Dunkle Halunken

Kein Scheibenwelt-Roman, aber einer der besten Romane, die Pratchett geschrieben hat. Wer abseits einer riesigen Serie wie der Scheibenwelt-Reihe in den Genuss von Pratchetts Genialität, Witz und Weisheit kommen will, ist hier genau richtig. Der historische Einzelroman „Dunkle Halunken“ nutzt das frühe viktorianische London als dreckige Kulisse, die an Ankh-Morpork erinnert, und folgt dem jungen Überlebenskünstler Dodger, der zum Kavalier einer jungen Schönheit in Nöten wird, Dickens trifft und obendrein allerhand Mördern trotzen muss. Eine tolle Mischung, zumal Pratchett seine Einsicht in das Wesen der Menschen keineswegs als Exklusivgut der Scheibenwelt-Romane betrachtet hat und es stattdessen zuhauf in das sympathische kleine Meisterwerk „Dunkle Halunken“ hat einfließen lassen. Null Scheibenwelt-Magie, aber hundert Prozent Pratchett-Erzählmagie.

Christian Endres

Christian Endres schreibt für den Tagesspiegel, Tip Berlin, diezukunft.de, phantastisch!, Doppelpunkt, Geek! und viele mehr. Für Panini betreut er redaktionell die Comic-Ausgaben von Spider-Man, Batman, Conan, den Avengers und anderen. Neben den Büchern „Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes“ und „Die Zombies von Oz“ veröffentlichte er Geschichten in Anthologien, Magazinen wie c’t und Exodus, der Heftreihe Basement Tales, Basteis Horror Factory sowie auf Englisch im Sherlock Holmes Mystery Magazine und in Heavy Metal. Er wurde bereits mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.
 

www.christianendres.de 

https://twitter.com/MisterEndres