Queer*SF Manifest 2.0[1]
Science-Fiction-Autor*in Aiki Mira denkt darüber nach, was Queer*SF ist, was sie mit der feministischen SF zu tun hat und welches Potenzial in ihr steckt.
Queer*SF oder Queer*Scifi ist ein Hashtag[2] bei Social Media, ein Label für Literatur – ein Thema über das gerade gesprochen wird.
Was Queer*SF alles sein kann, ist noch nicht festgelegt.
Eine disruptive, revolutionäre Bewegung? Oder eine kommerzielle Kreatur?
Ein zahmes Haustier? Oder ein echtes Tier?
Klar ist: wir haben es mit einem hochaktuellen, lebendigen Diskurs zu tun, der auf gesellschaftlichen Wandel hinweist.
Wie die feministische Science Fiction führt Queer*SF zu spannenden Weiterentwicklungen in der Literatur ‒ und darüber hinaus. Denn Queer*SF will nicht nur unsere Geschichten verändern – sondern unsere Welt.
Von feministischer SF zu Queer*feministischer SF
Queer*SF kann als eine neue Science Fiction verstanden werden, die an die Tradition feministischer Science Fiction anknüpft, wie sie zum Beispiel von Joanna Russ, James Tiptree Jr., Octavia E. Butler, Ursula K. Le Guin und Margaret Atwood geschrieben wurde. Dank feministischer SF haben wir heute komplexe weibliche Protagonistinnen und das Subgenre der feministischen Dystopie. Queer*SF kann einen ähnlichen Wandel bewirken und dabei zu mehr und komplexerer Repräsentation von Queerness sowie zu kollektiveren Formen von Protagonist*innen führen. Oder gar zu einem neuen Subgenre, bei dem ein diverses Space-Team im Mittelpunkt steht.
Ich verstehe Queer*SF daher als Queer*feministisch und bin überzeugt, dass sie das feministische Projekt nicht nur weiterführen, sondern auch erneuern und bereichern kann. Durch das Hinterfragen von Genrekonventionen kann Queer*SF wie damals feministische SF zum Systemupdate für das gesamte Genre werden.
Von queeren Robotern zu queeren Menschen
Figuren wie Roboter, Androiden oder Aliens dienen in der Science Fiction oft als Projektionsfläche für das Andere oder das Fremde. Dementsprechend wurden solche Figuren auch dazu benutzt, um Queerness anzudeuten, ohne sie aussprechen zu müssen. Beispielsweise können „odd couples“ wie R2-D2 und C-3PO aus Star Wars im Nachhinein als Metapher für eine queere Beziehung interpretiert werden.
In dem preisgekrönten Roman von 1969 Die Linke Hand der Dunkelheit von Ursula K. Le Guin wird Queerness in Form von nichtbinärer Geschlechteridentität zwar von Humanoiden repräsentiert, diese stammen jedoch von einem fremden Planeten. Zudem wird ihre Queerness als etwas dargestellt, das auf der Erde nicht vorkommt.
Ähnliches lässt sich hinsichtlich der Repräsentation von Frauen feststellen. Auch hier wurden zunächst nicht-menschliche Figuren genutzt, um eine neue, widerspenstige, gar gefährliche Weiblichkeit zu entwerfen wie zum Beispiel in dem Roman von Philip K. Dick Träumen Androiden von elektrischen Schafen? aus dem Jahr 1968.
Dank feministischer SF werden komplexe Frauenfiguren heute nicht mehr nur von Androiden oder Aliens dargestellt, sondern von Menschen. Eine ähnliche Rolle kann Queer*SF für die Repräsentation von Queerness spielen, wodurch diese in Zukunft nicht nur ganz selbstverständlich in unseren Geschichten vorkommt, sondern auch ganz selbstverständlich durch Menschen verkörpert wird.
Queere menschliche Protagonist*innen finden wir bereits bei Autor*innen wie Charlie Jane Anders, Karin Tidbeck, Annalee Newitz, Becky Chambers, Kameron Hurley, Catherynne Valente, Arkady Martine, Tamsyn Muir, Rivers Solomon und Yoon Ha Lee.
Auch deutsche Autor*innen wie Annette Juretzki, Judith Vogt, Christian Vogt, James A. Sullivan und Jol Rosenberg schreiben Science Fiction, in der queere Menschen vorkommen. Im Jahr 2022 wurde zudem zum ersten Mal eine Kurzgeschichte mit beiden deutschen Science-Fiction-Preisen ausgezeichnet, in der die Hauptfigur queer und ein Mensch ist.[3]
Von Erdbeben-Queerness zu Casusal Queerness
Queer*SF steht weniger für eine Coming-Out-Literatur, bei der queere Identität zum dramatischen Plot-Element wird. Stattdessen greift Queer*SF auf casual Queerness zurück. Das bedeutet, der Plot dreht sich nicht darum, ob jemand queer ist. Queer zu sein, wird zu einer Eigenschaft von vielen. Wie jede Eigenschaft macht sie Figuren komplexer und stattet sie mit einer individuellen Perspektive aus.
So ist meine Figur Rain aus Titans Kinder. Eine Space-Utopie asexuell und transgender, aber auch eine zahlenverliebte Powergamerin, die richtig abgefuckte Schimpfwörter kennt ‒ Eigenarten, die nichts mit ihrer Queerness zu tun haben. Rain ist all das zusammen und sie ist queer. Das macht sie zu einem Individuum.
Casual Queerness erscheint mir zugleich realistisch und utopisch zu sein. Realistisch, weil wir komplexe Wesen sind, die sich nicht durch eine einzige Eigenschaft erklären lassen. Utopisch, weil es im Alltag von queeren Menschen nicht so reibungslos läuft, wie in einer Space-Utopie, in der Menschen wegen ihrer Sexualität oder ihrem Gender weder abgelehnt noch diskriminiert werden.
Wie William Gibson bemerkte, ist die Zukunft schon da, bloß ungleich verteilt. Während er das besonders auf materielle Dinge und neue Technologien bezog, sehe ich das auch in Bezug auf gesellschaftlichen Wandel und unseren erkämpften Rechten und Freiheiten. Manche haben das Glück bereits in einer Art Utopie zu leben, von denen die Mehrheit auf diesem Planeten nur träumen kann.
Fazit bleibt, dass in Queer*SF nicht nur Menschen queer sind, sondern, dass diese Eigenschaft sie auch menschlicher macht.