Verfluchte Prinzen, beleidigte Feen und ewige Liebe: In der Fairytale Fantasy werden Märchenelemente immer wieder neu variiert und aufbereitet. Das erscheint naheliegend, doch Märchen und Fantasy wandelten lange auf getrennten, wenngleich ähnlichen Pfaden. Alessandra Reß über die Geschichte der Märchenfantasy.
Es waren einmal die Feenmärchen: Vermutlich aus den Wurzeln keltischer und germanischer Sagen heraus bildeten sich viele heute noch bekannte westeuropäische Volksmärchen. Ab dem 17. und bis ins 19. Jahrhundert hinein begannen Persönlichkeiten wie Giambattista Basile, Charles Perrault, Marie-Jeanne Lhéritier de Villandon sowie die Gebrüder Grimm, zahlreiche solcher Volksmärchen von Cannetella bis Dornröschen auf- und umzuschreiben.
Vom Volks- zum Kunstmärchen
Die so festgehaltenen Erzählungen waren zugleich regelloser als auch formelhafter gegenüber ihren sagenhaften Ahnen: Während sich einerseits Wesen und Macht der willkürlich agierenden Feen mit jeder Geschichte änderten, tauchten andererseits unumstößliche Gesetzmäßigkeiten und Weisungen auf, etwa die Anzahl von drei Wünschen, drei Tagen und Nächten, hundert Jahren Schlaf usw.
Auf ein dankbares Publikum stoßend, wurden – obgleich ursprünglich auch für Erwachsene gedacht – die Geschichten vor allem bei Kindern beliebt. Bald wuchs auch die Nachfrage an Erzählungen aus anderen Kulturkreisen: Im 18. Jahrhundert löste Antoine Gallands an europäische Erzählmuster angepasste Überlieferung der Märchen von Tausendundeine Nacht einen Run auf orientalische Geschichten aus, außerdem wurde das Interesse an japanischen und chinesischen Volkserzählungen befeuert. Mehr als ein Jahrhundert später bewirkte Rudyard Kiplings „Das Dschungelbuch“ gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber indischen Fabeln, und Übersetzungen der Sammlungen von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew sorgten für einen erhöhten Bekanntheitsgrad russischer Märchenfiguren. Für weitere internationale Vielfalt auf dem Märchenmarkt sorgten ab 1889 vom Ehepaar Andrew Lang und Leonora Blanche Alleyne herausgegebene Anthologien mit Feengeschichten („Lang’s Fairy Books“).
Rapunzel bleibt im Märchenturm
Zugleich etablierten sich im 19. Jahrhundert die Kunstmärchen: Dichtungen also, die sich zwar oft an Volksmärchen orientieren, aber in erster Linie deren Stimmung und Struktur für eigene Erzählungen nutzen – ähnlich wie später einige Fantasyromane. Bekannte Kunstmärchen jener Zeit stammen etwa von Schriftstellern wie Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff, Clemens Brentano, Nathaniel Hawthorne oder Alexander Sergejewitsch Puschkin.
Die in den Kinderschuhen steckende moderne phantastische Literatur blieb anfangs bemerkenswert unbeeindruckt von all den Märchen. Sicher, gerade in der Kinderliteratur erschienen aus der Feder von Schreibenden wie Edith Nesbit, Hope Mirrless oder Lyman Frank Baum Titel, die „märchenhaft“ anmuteten, sich also Struktur und Atmosphäre von Märchen zunutze machten. Dasselbe galt für Erzählungen wie George MacDonalds Portal Fantasy „Phantastus. Ein Feenmärchen“ oder Charles Kingsleys „Die Wasserkinder“, die philosophische Ansätze ins Gewand von Kunstmärchen kleideten. William Makepeace Thackerays „Die Rose und der Ring“ von 1855 war zudem ein Pionierwerk in seiner Hinterfragung und Unterwanderung von Märchenmotiven.
Während aber Mythen, Sagen und Folklore munter und bereitwillig Helden und ganze Handlungsstränge spendeten, blieben Rotkäppchen, Schneewittchen und Co. eher für sich. Das galt noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, obwohl viele Fantasy-Autor*innen – darunter Tolkien mit „Bauer Giles von Ham“ – Kunstmärchen verfassten.