Alessandra Reß, 24.08.2023
Von „Dracula“ bis „Flüsse von London“: In keiner anderen Stadt spielen so viele Fantasyromane wie in der britischen Metropole. Woran liegt das? Ein Erklärungsversuch zwischen inspirierenden Gebäuden und londoness.
Alessandra Reß, 24.08.2023
Von „Dracula“ bis „Flüsse von London“: In keiner anderen Stadt spielen so viele Fantasyromane wie in der britischen Metropole. Woran liegt das? Ein Erklärungsversuch zwischen inspirierenden Gebäuden und londoness.
Engel in Berlin, Vampire in Venedig, Hexen in Moskau, Gestaltwandler in Kalkutta: In der Urban Fantasy gehören übernatürliche Wesen zum guten Ton einer jeden Metropole. Einige Städte sind für den Einfluss von Magie und Co. aber offenbar anfälliger als andere. An der Spitze steht dabei London – in keiner anderen irdischen Stadt spielen so viele Fantasyromane.
Die Gründe dafür sind vielfältig. So ist es sicher hilfreich, die Hauptstadt eines der traditionell größten Exportländer für Fantasyliteratur zu sein. Für britische Autor*innen, die ihre Werke in unserer Welt ansiedeln, ist es im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend, London als Schauplatz zu wählen. Trotzdem erklärt das nicht, warum London im Phantastik-Ranking z. B. noch vor US-Städten steht.
Heute profitiert London von einer mit der Stadt assoziierten Fantasy-tauglichen Ästhetik und Stimmung, mitunter bezeichnet als londoness. Wohl jeder von uns verbindet mit London etwas, gleich ob wir schon einmal dort waren oder nicht. „Das Bildnis des Dorian Gray“, „Dracula“, „Sherlock Holmes“, „Oliver Twist“, aber auch „The Werewolf of London“ oder sogar „James Bond“ – innerhalb und außerhalb der Phantastik finden sich zahlreiche Werke, die das popkulturelle Bild von London geprägt haben. Nicht unerheblich ist dabei, dass Erzählungen, die in London spielen, traditionell eine düster-schauerromantische, akademische Atmosphäre aufweisen. Selbst nicht-phantastische Werke wie „Sherlock Holmes“ oder „Oliver Twist“ sind nah an Fantasy-Ästhetiken, werden sogar selbst in Genrevarianten adaptiert. Die „Sherlock Holmes“-Fantasy- und Horror-Pastiches sind dabei so zahlreich, dass sie fast ein eigenes Genre bilden können und umfassen z. B. Werke von Christian Endres (z. B. „Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen“), James Lovegrove („Sherlock Holmes and the Shadwell Shadows“) oder G. S. Denning („A Study in Brimstone“).
All das hat London zu einer Marke gemacht. „Die Flüsse von London“, „Die Clans von London“, „Die Magier von London“, „Federn über London“, „London’s Legacy“ – heute ist schon der Name der Stadt Verheißung genug, um Lesende anzulocken. Ihr Ruf als traditionelle Bücherstadt – dem mit Titeln wie „Die Seiten der Welt“ oder „Die magischen Buchhändler von London“ Beifall gezollt wird – trägt hier sicher ebenfalls einiges bei.
Die Tragweite dieses Rufs musste jedoch erst „erschrieben“ werden, und die durch Klassiker hervorgerufene Stimmung ist noch kein Alleinstellungsmerkmal. Bleibt die Kombination mit einem dritten Grund: Londons (abwechslungs-)reiche Stadtgeschichte und die Spuren, die diese im Stadtbild hinterlassen haben.
Stefan Ekman, ein schwedischer Literaturwissenschaftler, hat sich eingehend mit London als Schauplatz der Urban Fantasy beschäftigt. In seinem Paper „London Urban Fantasy: Places with History“ (2018) arbeitet er vier Elemente heraus, die London besonders attraktiv für das Subgenre machen – auch, weil sie eine Möglichkeit bieten, das Fremde mit dem Bekannten zu vermischen und die Magie innerhalb der Bücher als „real“ zu untermauern.
Erstens ist London nicht nur eine alte, sondern eine uralte („ancient“) Stadt, deren Bedeutung mit der Zeit nicht nachgelassen hat. Zweitens hat der Große Brand 1666 in der City of London für eine tabula rasa gesorgt, die in der Fantasy gerne als Wendepunkt interpretiert wird. Drittens verfügt London mit dem Tunnel- und Tube-System über eine weitläufige „Stadt unter der Stadt“. Und schließlich nennt Ekman noch die „Era of Uglification“, einen je nach Buch variierenden Zeitpunkt in der Stadtgeschichte, der die Schwelle zur Moderne markiert – was zumindest aus Autorensicht offenbar mit einem weniger schönen Straßenbild einhergeht.
Ekman selbst zieht verschiedene Beispiele heran. Der Große Brand taucht als handlungsrelevantes Ereignis demnach z. B. in Paul Cornells „London Falling“, China Miévilles „Der Krake“ oder Kate Griffins „A Madness of Angels“ auf. In Tom Pollocks „Skyscraper Throne“ stellt er die Schlacht zwischen zwei Gottheiten dar; der King of Cranes, der Antagonist der Trilogie, treibt es aber noch viel weiter und verschandelt später London mit Glasgebäuden wie „The Shard“, um sich selbst darin spiegeln zu können.
Das Subgenre der Urban Fantasy lebt vom Aufeinandertreffen von Welten, die sich denselben Raum – nicht unbedingt denselben Ort – teilen. Das Sichtbare trifft auf das Unsichtbare, Altes auf Neues, Magisches auf Profanes. Entsprechend bietet es sich an, den Konflikt zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzugreifen, der sich in London leicht anhand von Gebäuden symbolisieren lässt. Das Ziel ist aber für gewöhnlich nicht der Sieg über die Vergangenheit, sondern eine Balance zwischen deren Kräften und jenen der Gegenwart. Eine Schlüsselrolle kommt dabei nordischen, keltischen und römischen Gottheiten oder genii loci (Schutzgeistern) zu. Beliebte Elemente sind z. B. Mithras, dessen Tempelüberreste noch heute in London besichtigt werden können, verschiedene Flussgottheiten, oder Gog und Magog, die riesenhaften mythischen Beschützer der Stadt. Und die verbergen sich auch gern in den unteren Ebenen Londons.
Das Paradebeispiel für Urban Fantasy in der Londoner Unterwelt stammt aus der Feder von Neil Gaiman. In seinem Online-Essay „SimCity“ schrieb er, er stelle sich London als „huge and confused“ vor, sprach außerdem davon, dass es Dutzende Londons gebe. Gleich zwei davon beschreibt er in „Niemalsland“, in dessen Handlungsverlauf es den Protagonisten in die Spiegelwelt des Unter-London (engl. London Below) verschlägt. Auch zahlreiche andere Autor*innen haben sich von den Schichten unterhalb der Oberfläche inspirieren lassen. Ben Aaronovitchs „Ein Wispern unter Baker Street“, China Miévilles „Un Lun Dun“, Vivian Shaws „Strange Practice“, T. A. Willbergs „Der Mitternachtsmord“ oder Christoph Marzis eng an „Niemalsland“ orientiertes „Lycidas“ sind nur einige der Beispiele dafür. Das Vergangene ist dabei ebenso ein mögliches Motiv wie das Verborgene.
Gleichwohl findet sich die Vergangenheit Londons nicht nur in Gebäuden, Figuren oder der Unterwelt. Im Plot von Zeitreise-Geschichten wie Jennifer Alice Jagers „Emily Seymour“, Aniela Leys „London Whisper“ oder Kerstin Giers „Liebe geht durch alle Zeiten“ wird sie zumindest temporär zur Gegenwart.
Ebenso orientieren sich historische Fantasy und alternativhistorische Phantastik gerne an Londoner Epochen und Ereignissen. Neben dem Großen Brand sind z. B. die Rosenkriege oder die Jack-the-Ripper-Morde häufig thematisierte Ereignisse. Besonders beliebt ist zudem das viktorianische Zeitalter. Denken wir etwa an den Steampunk: Schon in „Die Differenzmaschine“, der Geburt des Subgenres, war das viktorianische London Hauptschauplatz und hat sich damit in die DNA von Steampunk und Steamfantasy eingeschrieben. In „Mortal Engines“ darf London sogar als rollendes Monster andere Städte futtern! Auch deutschsprachige Titel mit Steam-Elementen oder viktorianischem Flair greifen naheliegenderweise häufig auf London zurück, etwa in „Der Kristallpalast“, „Frost und Payne“ oder „Kitty Carter“. Gerne werden dabei Steampunk oder historische Fantasy mit Krimi-Elementen vermischt.
In jüngerer Zeit kommt immer mehr auch London als melting pot eine große Bedeutung zu, als Ort also, an dem nicht nur alte und neue, sondern Kulturen der Gegenwart miteinander und nebeneinander leben. Prominentestes Beispiel für diese Thematisierung ist Ben Aaronovitchs „Die Flüsse von London“, worin die kulturelle und ethnische Diversität der Figuren immer wieder aufgegriffen und ins historische und mythologische Bild Londons eingeflochten wird. Das ist auch insofern spannend, weil es eine Chance bedeutet, London von dessen konservativem Image zu lösen, das bis dato ein ambivalenter Aspekt der londoness ist.
Apropos Diversität: Die Dominanz englischsprachiger und weißer Fantasy auf dem Weltmarkt wird heute stärker hinterfragt. Das bringt mit sich, dass andere Metropolen mit ihrer Geschichte und ihren Mythen ins phantastische Bewusstsein nachrücken.
Fürs Erste scheint Londons Vormachtstellung in diesem Bereich allerdings kaum gefährdet. Sieht man sich aktuelle Verlagsankündigungen an, ist die Stadt jedenfalls mit Titeln wie z. B. V. E. Schwabs „Threads of Power“, Anika Beers „Requiem für einen blutroten Stern“ oder Ella Smokes „Die dunkelste Vorstellung“ in Zukunft weiterhin gut vertreten. Und schauen Sie beim nächsten Gang in die Buchhandlung doch mal auf den Buchrücken einiger Urban-Fantasy-Bücher. Ich bin mir sicher, dass Ihnen hier Magier, Hexen, Vampire usw. begegnen werden, die weiterhin dafür sorgen, dass London die Königin der magischen Metropolen bleibt.
Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.
Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.
Mehr unter: https://fragmentansichten.com/