Otherland, 22.11.2023
Regelmäßig gibt euch das Team der Berliner Fantasy- und Science-Fiction-Buchhandlung Otherland Tipps zu den interessantesten neuen Büchern aller Verlage.
Das Otherland feiert aktuell 25. Geburtstag. Herzlich Glückwunsch vom Tor-Online-Team und Fischer Tor!
Science Fiction
Christian Kellermann | Adam und Ada
Hirnkost: €24
Am 11. Oktober hatten wir ja Christian Kellermann bei einem Autorenabend bei uns. Riesendank an den Hirnkost-Verlag und Klaus Farin für die Organisation und ebenso großen Dank an den fantastischen Hans Frey für die Moderation!
Es war ein unterhaltsamer, lehrreicher und spannender Abend, an dem Christian Kellermann sein erstes Buch, Adam und Ada vorstellte. Für alle, die sich wundern: ja, Christian ist tatsächlich verwand mit Bernhard Kellermann, der 1913 den SF-Roman Der Tunnel geschrieben hat. Christian ist Bernhards Ur-Enkel.
Aber das ist nicht der einzige interessante Hintergrund von Prof. Dr. Christian Kellermann, denn er ist Professor für Sozialwissenschaften, Arbeit und Digitalisierung an der University of Labour in Frankfurt/Main, außerdem Senior Researcher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz sowie Permanent Fellow am Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit.
In seinem ersten Buch Adam und Ada, in der übrigens auch Bernhard Kellermanns Tunnel eine Rolle spielt, erzählt er die Geschichte von Ada MacAllan, Programmiererin im Unternehmen AI-X, das mithilfe von künstlicher Intelligenz die Wirkung von Proteinen in unserem Körper entschlüsseln und letztendlich steuern will. Ziel ist die berechenbare Selbstoptimierung. Um reale Echtzeitdaten für ihre Studien zu erhalten, lässt sich MacAllan die KI Adam, die sie bisher von außen per Nachrichten beraten hat, in ihren Körper einpflanzen, um ihre Werte direkt zu überwachen.
Adam und Ada liest sich trotz hohem Wissenschaftsanspruch widerstandslos und man befindet sich unversehens in Ada MacAllans Leben als ehrgeizige Programmiererin und alleinerziehende Mutter und fragt sich selbst »wie würde ich mich entscheiden«. Christian Kellermann hat einen kurzweiligen, fundierten SF-Roman geschrieben, der zugänglich Fragen unseres täglichen Lebens aufgreift, in die nahe Zukunft projiziert und Szenarien liefert, mit denen wir selbst unsere Antworten finden können. So geht Wissenschaftsvermittlung mit gesellschaftlichem Zusammenhang in der Science Fiction. [Wolf]
Fantasy
Natasha Pulley | Der Uhrmacher in der Filigree Street#2 Die verlorene Zukunft von Pepperharrow
Klett-Cotta: €26
Mit Die verlorene Zukunft von Pepperharrow schließt Natasha Pulley an ihren tollen Roman Der Uhrmacher in der Filigree Street an. Zwar war letzterer in sich abgeschlossen, eine Runde Sache und kann für sich stehen, und doch werden die Figuren in diesem zweiten und abschließenden Band noch einmal aufgegriffen und in eine weitere, nicht weniger faszinierende Geschichte geworfen.
Es lohnt sich, die beiden Bücher im Doppelpack zu lesen, da das zweite wenn nicht unbedingt vom Plot her, so doch emotional auf dem ersten aufbaut. Es bleibt fraglich, ob es sich bei dem Zweiteiler tatsächlich um Fantasy handelt, denn die der im ausgehenden 19. Jahrhundert spielenden Handlung zugrundeliegende Annahme, die damals noch diskutierte Äthertheorie wäre valide und man könnte mithilfe des Äthers mögliche Zukünfte wahrnehmen, rückt die Romane eher in den SF-Bereich alternativer Geschichtsverläufe. Einzig ein paar putzige Clockpunkgimmicks streuen manchmal eine Prise Hogwartsflair auf den ansonsten historischen Hintergrund. Lesende, die es nicht so sehr mit der Fantasy haben, sondern eher historische Romane und/oder SF mögen, würde ich diesen Doppelroman bedenkenlos empfehlen.
Pulleys glaubhafte Figuren sind allesamt leise, zurückhaltende Held*innen, weder schwarz noch weiß, sondern vor allem menschlich. Kluge Dialoge, der weitgehende Verzicht auf Knalleffekte und ein unaufgeregter Erzählton machen die beiden Bücher zu einer wohltuenden Abwechslung. Dass man hier im Kern eine Liebesgeschichte liest, merkt man dank der Abwesenheit der damit so oft verbundenen sprachlichen Entgleisungen und der gediegenen, alles andere als hormongesteuerten Schilderungen fast nicht. Pulleys Zweiteiler erinnert mitunter eher an die großen Erzähler*innen des Naturalismus. Nun habe ich viel gepriesen, ohne auf den Plot einzugehen. Dazu: Mir hat er gefallen, ansonsten verweise ich auf den Klappentext. :) Und vielleicht noch: Der Großteil der Handlung des zweiten Bandes spielt 1889 in Japan, und schon allein die Fülle an unterhaltsam beschriebenen lokalen, historischen Details lohnt den Ausflug in Pulleys Uhrmacheruniversum. [Simon]
Brandon Sanderson | Weit über der smaragdgrünen See
Piper: €25
Eine junge Frau zieht aus, ihren Prinzen zu retten. Der ist nämlich von der Zauberin der Mitternachtssee gefangen genommen worden - wie furchtbar! Die Sporenmeere in der Welt der jungen Frau – die von einer grauen, trostlosen Insel im Smaradgmeer stammt – sind alle gefährlich, aber keines ist tödlicher als die Mitternachtssee. Wie dorthin gelangen? Wie überhaupt nur von ihrer Heimatinsel fortgelangen, da es den Einwohnern dieses jämmerlichen Eilands vom König allerstrengstens verboten ist, den Fuß auch nur auf eine Schiffsplanke zu setzen? Die junge Frau wird sich so manches einfallen lassen müssen, aber zum Glück ist sie nicht auf den Lockenkopf gefallen, und ihr Ziel hilft ihr, ihre Ängste immer wieder zu überwinden. Aber sie erleidet Schiffbruch, gerät in die Fänge von Piraten, muss feststellen, dass ihre Gegner ebenfalls nicht auf ihre deutlich weniger belockten Köpfe gefallen sind. Ach ja, und die Geschichte wäre natürlich keine echte Verneigung vor William Goldmans Brautprinzessin, wenn da nicht auch noch eine Ratte auftauchen würde …
Sanderson ist hier echt in genialer Erzähllaune, und man merkt, wie sehr er seine Hauptfigur mag. Auf jeder Seite spürt man den Spaß, den er zweifellos beim Schreiben hatte. Ein herrlich buntes, flott dahintrabendes Abenteuermärchen, man möchte im besten Sinne fast sagen: für die ganze Familie. Sanderson führt uns diese Tassen sammelnde, aber sonst nicht weiter bemerkenswerte junge Frau, als Heldin der Menschlichkeit vor, das macht gute Laune, und hin und wieder kann er seinen Hang zu Albernheiten nicht unterdrücken, dabei kommt dann manchmal, aber nicht zwingend, ein Schmunzeln heraus.
Und richtig abgefahren ist das Worldbuilding. Zwölf Monde hat der Planet – der übrigens zu Sandersons Kosmeer gehört –, und sie alle haben eine jeweils andere Farbe. Von ihnen regnen entsprechend farbige Sporen herab, die sich auf dem Planeten in Sporenmeeren sammeln. Kommen diese Sporen mit Wasser – Körperflüssigkeiten – in Kontakt, verwandeln sie sich explosionsartig in irgendetwas meist äußerst Unangenehmes: in Pflanzenranken (im Falle der smaragdgrünen Sporen), Felsspitzen, Luftstöße etc. Klingt verrückt, was? Ist auch verrückt, genau der richtige Spielplatz für einen gut gelaunten Sanderson, um sich mal richtig auszutoben!
Dieser Spaß in Buchdeckeln ist hübsch illustriert und mit allerlei netten Verzierungen versehen. Man kann sich also in mehrfacher Hinsicht daran erfreuen. [Simon]