Tobias Reckermann, 23.11.2023
New Weird, Next Weird, Weird Fiction, was es mit diesen Genres auf sich hat, wie nahe sie dem Horror stehen, welche Rolle H. P. Lovecraft spielt und warum sie so schwer zu fassen sind, erklärt uns Tobias Reckermann.
Manche Bewegungen vollziehen sich so schnell, dass sie dem Auge entgehen und sich nur im Rückblick beobachten lassen. Zu Anfang des Jahrtausends wurde der Begriff New Weird geprägt, um einem literarischen Phänomen gerecht zu werden, das sich von den vorangegangenen Werken der Weird Fiction abhob. Kaum benannt war es mit dem Phänomen auch schon wieder vorbei und man wusste nicht recht, was es denn gewesen war. Eine Phase, ein Moment, eine Haltung, gar ein Genre?
In dem Vorwort des von seiner Frau Ann und ihm selbst herausgegebenen Kompendiums The New Weird schreibt Jeff VanderMeer:
„The New Weird is dead, long live the next Weird.“ (1)
Fünfzehn Jahre nach diesem Ausspruch befinden wir uns in dieser nächsten Phase der Weird Fiction und wir sollten genau hinsehen, bevor dieser Moment an uns vorbeigeht.
Es fehlt an dieser Stelle an Raum, um der Frage, was Weird Fiction denn sei, erschöpfend nachzugehen, ein paar Dinge sollen aber doch dazu gesagt werden.
Was ist Weird Fiction?
Der Begriff Weird Fiction geht auf den Schriftsteller Sheridan Le Fanu zurück und wurde von H.P. Lovecraft prominent in Stellung gebracht. Weird Fiction kann als historischer Begriff aufgefasst werden, um einen Ausschnitt angelsächsischer Erzählungen einer bestimmten Epoche zu umreißen. Für die Stilbildung ist wesentlich das vor einhundert Jahren gegründete Pulp Magazin Weird Tales mitverantwortlich, in dem Lovecraft, Clark Ashton Smith, Fritz Leiber und andere Größen des Genres veröffentlicht wurden.
Weird Fiction ist eine Literatur der Moderne, die sich zwischen Horror, Fantasy und Science Fiction ansiedeln lässt, aber auch zwischen Realismus und Surrealismus. Nur ein Zusammentreffen dieser Stoßrichtungen macht Weird Fiction indes nicht aus. Ein weiteres Element muss noch hinzukommen. Eine bestimmte Sensitivität ist meiner Meinung nach zentral, etwas, das mit Worten nicht leicht einzufangen ist. Weird Fiction hat schon immer Grenzen erkundet, erweitert, gesprengt und leistet seit mehr als hundert Jahren Pionierarbeit an der Frage, was Realität, was Identität, was der Kosmos für uns sei und warum wir uns unter dem schwarzen Auge des Nachthimmels bedroht fühlen. Weird ist eine Konstante der Moderne und der Postmoderne geworden, gibt einem Zug Ausdruck, den wir im Gesicht unserer Zeit wie einen unter der Haut liegenden Zweifel entdecken.
Es ist ein Zweifel, der nur schwer zu fassen ist. Das Wort weird lässt sich noch nicht einmal treffend übersetzen, seine Bedeutung liegt irgendwo zwischen seltsam, schräg, absonderlich und bizarr, aber keines dieser Worte trifft es ganz. Letztlich lässt sich Weird, wenn nicht als Lebensgefühl, das man entweder hat und daher versteht, oder eben nicht, nur durch eine Auswahl von Vertretern seines Genres vermitteln, damit gewissermaßen umkreisen und vielleicht so auf den Punkt bringen. Als Nagelprobe bietet sich dieser bekannte Ausspruch H.P. Lovecrafts an, der sicher noch immer eine gewisse Gültigkeit besitzt:
„A certain atmosphere of breathless and unexplainable dread of outer, unknown forces must be present.” (2)
Nur sollte das Äußere – outer – hier nicht mit dem Kosmischen im Sinne von „Weltraum“ gleichgesetzt werden. Es gibt dafür zu viele Beispiele der Weird Tale, die keinen Anklang dieses Kosmischen mitbringen. Weird allein in das Kosmische zu verorten geht fehl, ist ein Ansatz, der eher mit Cosmic Horror umschrieben werden soll und vielleicht am besten zu Lovecrafts Vision der Weird Fiction passt – eben seinem Begriff, nicht einem allgemeinen. Möchte man am Begriff des Kosmischen als einem zentralen Wesenszug der Weird Fiction festhalten, ist es dringend notwendig, ihn etwas zu erweitern: Das Kosmische ist nicht allein der Weltraum, sondern die gesamte Existenz. Die Erde ist Teil des Kosmischen, die Tiefenzeit ihrer evolutionären und geologischen Entwicklung ist kosmisch, wir selbst sind Teil des Kosmos und der Kosmos geht durch uns hindurch.
Auch ist Schrecken – dread – hier nicht unbedingt der Schrecken des Horrors. Ein Horror ist in der Weird Fiction oft zu finden, aber nicht unbedingt nötig. Eher kann dread hier noch mit Unbehagen, mit Beunruhigung übersetzt werden. Da fragt es sich vielleicht, wovon wir überhaupt sprechen. Weird ist vielleicht das flüchtigste, unberechenbarste Genre der Fantastik.
Um sich genauer mit der Genese der Weird Fiction auseinanderzusetzen, dient VanderMeers anderes großes Kompendium, The Weird, mit dem herausragenden Merkmal, dass es sich nicht nur auf die Vertreter der amerikanischen Weird-Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und die Phase der Pulp-Magazine wie dem monolithischen Weird Tales stützt, sondern Beispiele wie Franz Kafka, Julio Cortazar, Jorge Luis Borges und Jean Ray mit aufbringt, deren Werke für das heutige Bild der Weird Fiction ebenso wichtig sind, wie Lovecraft, C.A. Smith und andere. Weird hat seine Vorläufer, seine Protophase, in Schriftstellern wie dem Amerikaner Ambrose Bierce, den Engländern Algernon Blackwood und Arthur Machen, kann vielleicht auch auf Edgar Allen Poes Wende von der klassischen Gothic-Tale hin zum psychologischen Horror zurückgeführt werden und ging über die Pulp-Ära hinaus über Jahrzehnte der wie etwa in S.T. Joshis The Modern Weird besprochenen Werke ein in den Horror-Boom der achtziger Jahre, vollzog dort eine Metamorphose und kulminierte vorerst in der New Weird des Anfangs unseres Jahrtausends, die ihre Wurzeln ganz klar nicht allein in der klassischen Weird Tale angelsächsischer Pulp-Prägung findet.
New Weird
New Weird mag kein Genre sein, lässt sich aber auf einige Merkmale hin kategorisieren. Weird Fiction in dieser Phase schien sich der Wurzeln im Surrealismus und des Kafkaesken bewusst zu werden und zugleich der Fantasy hin zu öffnen. Einige herausragende Werke der New Weird siedeln sich in fantastischen Welten an – siehe China Miévilles Bas Lag-Romane, VanderMeers Ambra-Romane, K.J. Bishops „Etched City“. Doch danach kehren wir in die Basisrealität zurück: Spätere Romane wie Miévilles „The City and the City“ und VanderMeers „Southern Reach“-Trilogie schleifen ihre Anker über die uns scheinbar bekannte Welt und verhaken daran an einem Unwohlsein und einer Beklemmung, die der Komplexität der Gegenwart Rechnung tragen.
„The point isn’t to reject Lovecraft, but to see Lovecraft with clear eyes and to acknowledge that weird fiction should not and simply cannot begin and end with one vision, created by a man who passed away in 1937.“ (3)
– Jeff VanderMeer