Olaf Kemmler, 12.01.2023
An einem Tag unterhalten wir uns über ein bestimmtes Thema, am nächsten erhalten wir genau dazu Werbung. Kennt ihr das auch? Olaf Kemmler geht der Frage nach, ob wir von unseren Smartphones belauscht werden und zieht die Science Fiction als Beispiel heran, um aufzuzeigen, wohin das noch führen kann.
Es ist so unglaublich abgedroschen: Sobald jemand auf die Gefahren und die Folgen einer ständigen Überwachung aufmerksam machen will, greift er oder sie wenig originell auf George Orwells erschreckende Dystopie 1984 zurück, zitiert vielleicht sogar eines der Worte, die längst zu unserem kollektiven Kulturgut geworden sind, wie etwa Big Brother is watching you, und weiß, dass man ihn oder sie für gebildet halten wird und dass er oder sie sich auf eine Autorität berufen hat, der man kaum widersprechen kann. Ich persönlich kann diesen reflexartigen Verweis auf die vielleicht berühmteste Dystopie ehrlich nicht mehr ertragen, zumal man oft an einem Text schon zu erkennen glaubt, dass der Verfasser oder die Verfasserin das Buch nie gelesen hat. Das ist eines der großen Dilemmas der Science Fiction: Sie wird nicht so oft gelesen wie zum Beispiel Krimis.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der 1984 kennt und das Drama der unmenschlichen Unterdrückung gemeinsam mit Winston Smith durchlebt hat, das Thema Überwachung so auf die leichte Schulter nimmt, wie es anscheinend die meisten meiner Zeitgenossen tun. Aber vielleicht hängt diese Gleichgültigkeit auch mit einem anderen Dilemma der heutigen Science Fiction zusammen, nämlich dem, dass der Fortschritt bei manchen Dingen oft viel schneller vonstattengeht, als Autoren schreiben können. Die gesellschaftliche Entwicklung überrollt uns alle und wir haben gar keine Zeit mehr, uns zu überlegen, wie wir angemessen reagieren sollen. Ich jedenfalls bin angesichts einer bestimmten neuen Entwicklung immer noch einigermaßen erschüttert. Über alle Maßen verwirrt aber bin ich darüber, dass ich in meinen gesamten sozialen Umfeld tatsächlich einer der ganz wenigen bin, die sich überhaupt betroffen fühlen.
Doch mal langsam und immer der Reihe nach. Worum geht es überhaupt?
Was wissen unsere Smartphones?
Neulich habe ich mich mit meiner Frau über dies und das unterhalten und irgendwie kamen wir zufällig auf eine Sterbeversicherung zu sprechen. So eine Beerdigung kostet ja ein kleines Vermögen. Einen Tag später erhielt sie eine E-Mail mit einem Angebot über eine Sterbeversicherung. Man kann es nicht anders sagen, uns blieb die Sprache weg, denn keiner von uns hat über Sterbeversicherungen jemals online recherchiert, wir haben uns nur kurz im Wohnzimmer darüber unterhalten. Was bedeutet das?
Als ich in der Firma über den denkwürdigen Vorfall berichtet habe, wurde anschließend etwas herumgealbert. Unserer jungen Auszubildenden haben wir laut ins Handy gesprochen: „Vielleicht bist du ja schwanger. Dann brauchst du eine Baby-Grundausstattung.“ Das undenkbare geschah: Einen Tag später hat sie per Instagram ein Angebot bekommen für die kostenlose Probepackung einer berühmten Einwegwindel. Ein Zufall? Weder ist sie tatsächlich schwanger, noch hatte sie Grund, zuvor über irgendeinen sozialen Kanal über das Thema zu reden. Es war ein spontaner Einfall. Eine andere Kollegin hingegen, bei der tatsächlich gerade Nachwuchs fest geplant war, hat in ihrem Leben noch nie ein derartiges Angebot bekommen, aber sie hat ihr Handy auch meist in der Handtasche verstaut. Wollte man annehmen, dass ein Algorithmus hinter solchen Werbemails steht, der die Leute nach Alter, Geschlecht, Wohnort, Einkommen, Bildung und dergleichen abklopft, so müsste man ihm attestieren, versagt zu haben.
Der Sache auf der Spur
Derartige Vorfälle häuften sich, weshalb ich schließlich zu recherchieren begann und feststellen musste, dass der Verdacht, so ein Handy könne heimlich lauschen, keineswegs neu war. Bereits seit 2018 gehen bei der Bundesnetzagentur Beschwerden ein über offenbar mitgehörte Gespräche, die in der vermeintlichen Privatsphäre der eigenen vier Wände stattgefunden hatten. Der Stern hat dem Thema bereits einen Artikel gewidmet und der NDR eine Fernsehsendung, die recht bemerkenswert war, weil man es genau wissen wollte und ein Experiment durchgeführt hat, bei dem ein paar Handys auf dem Tisch lagen, teilweise mit abgeklebten Mikrofonen. Die Themen, über die man sich unterhalten hat: Brautmode, Kosmetik und das wirklich äußerst ungewöhnliche Urlaubsziel Peru. Kennen Sie jemanden, der in diesem südamerikanischen Land Urlaub machen will?
Das Experiment bestätigte den Verdacht. Die Handys mit abgeklebtem Mikrofon bekamen keine Werbung, auf den anderen erschien Werbung für Brautmoden, Kosmetik und Urlaubsreisen nach … ja, tatsächlich Peru. Mag man bei Mode und Kosmetik noch glauben, dass zuvor aufgerufene Internetseiten die Werbung ausgelöst haben, ist dies bei einem spontan aus der Luft gegriffenen Urlaubsziel, das nun wirklich sehr extravagant ist, nicht mehr möglich. Ist da ein im Hintergrund laufendes Programm dumm in die Falle getappt? Ein solches Experiment in einem privaten Umfeld lässt sich natürlich und zu Recht immer anzweifeln, da nicht sicher ist, was mit den Handys anschließend geschehen ist, ob nicht doch jemand nach einem Urlaub in Peru gegoogelt hat.
Wenn es um Computer und Handys geht, ist der Chaos Computer Club ein guter Ansprechpartner. An den habe ich mich im Zuge der Recherchen auch gewandt, um zu erfahren, wie man dort darüber denkt. Mitglieder des Clubs haben mich auf ein anderes wichtiges Experiment aufmerksam gemacht, das Professor David Choffnes von der Northeastern University in Boston, USA, mit seinem Team durchgeführt hat. Um es kurz zu machen: Ein technischer Nachweis, dass Audiodaten verschickt werden, konnte nicht erbracht werden. Was man allerdings gefunden hat, ist nicht weniger beunruhigend, nämlich viele Apps, die Screenshots und sogar Videos vom Display machen und an Dritte weiterleiten. Auf diese Weise können Fotos, Texte und auch Passwörter an dubiose Stellen gelangen. Solche kleinen Spione kommen bevorzugt auf ein Handy, wenn man unbedingt irgendeine lustige App haben will, die auch die beste Freundin oder der coole Kumpel gerade hat.
Allerdings räumt Professor Choffnes auch ein, dass der Versuchsaufbau ein paar Schwachstellen haben könnte, denn es haben sich in der Nähe der Handys keine echten Menschen miteinander unterhalten, vielmehr hat man eine Werbung für Hundefutter in Dauerschleife laufen lassen. Und die Handys haben sich für lange Zeit nicht bewegt. Hält ein echter Nutzer ein Gerät in der Hand, bewegt es sich sogar auf eine spezifische Weise, die man leicht detektieren kann. Auch der Fall, dass eine Spionage-App das gesprochene Wort direkt in eine Textdatei umgewandelt hat, wäre den Testern entgangen.
Es scheint sich so etwas wie eine herrschende Lehrmeinung herausgebildet zu haben, nach der Handys ihre Nutzer deshalb nicht abhören, weil es einerseits illegal wäre und andererseits die Leute ihr gesamtes und sehr intimes Privatleben ohnehin freiwillig den Konzernen zur Verfügung stellen. Dabei erfahren die Konzerne so viel über uns, dass es uns so vorkommt, als würden wir abgehört. So oder so, sie dringen dank unserer Gleichgültigkeit in unsere Privatsphäre ein, und wissen viel mehr über uns, als wir zulassen sollten. Wer für ein Produkt nichts bezahlen will, wird selbst zum Produkt.
Ich mag mich dieser herrschenden Meinung nicht recht anschließen. Ein Algorithmus, der voraussehen kann, dass ich mich mit meiner Frau an einem ganz bestimmten Tag zufällig über Sterbeversicherung unterhalten werde, ist nicht denkbar. Das wäre dann wirklich gruselig. Außerdem waren in der Folgezeit die Treffer einfach zu präzise, egal, ob es um eine Holzbank für den Garten ging oder um ein ganz bestimmtes Auto der Marke Ford. Der Chaos Computer Club folgt offiziell der herrschenden Lehrmeinung. Bei einem sehr privaten Gespräch mit Mitgliedern des Clubs wurde über die herrschende Meinung allerdings sehr geschmunzelt. Man war auch dort einhellig der Meinung, dass die Zuckerberg-Produkte natürlich mithören.
Reaktionen
Wie auch immer, der Verdacht steht im Raum und ist leider sehr begründet. Sollte jeder Spaß, den wir machen, jedes unbedachte Wort, jede Zärtlichkeit und jedes Missgeschick tatsächlich mitgehört werden? Wer innerlich erschüttert ist, ist auch mitteilungsbedürftig. Ich konnte nicht anders, als jedem davon zu erzählen, der mir begegnete. Die Reaktionen lassen sich in zwei Kategorien einteilen, die beide spontan und unüberlegt kamen. Die eine lautet: „Na und? Ich habe nichts zu verbergen. Ich will keinen Terroranschlag begehen und keine Bank überfallen. Wenn die wissen, dass ich mir hin und wieder Pornos anschaue, ist mir das auch egal.“ Die andere Reaktion besteht darin, die Situation ins Lächerliche zu ziehen. Man nimmt sein Handy und spricht so etwas hinein wie: „Hallo! Ich bin der Meinung, wir brauchen eine neue RAF, die alle unsere Politiker über den Haufen schießt. Kommt vorbei und verhaftet mich!“
Niemand scheint betroffen zu sein. Das heißt, eine gewisse Betroffenheit spüre ich schon, aber die Gegenreaktion, die dazu führt, dass man sich bloß nicht mit dem Thema auseinandersetzen muss, schockiert mich mehr, als die eigentliche (bislang vermeintliche) Straftat der Medienkonzerne. Und eine Straftat wäre es. Nach deutschem Recht ist das Abhören von Gesprächen und Räumen verboten. (§ 201 II Nr. 1 StGB). Nur unter Vorliegen besonderer Gründe ist es staatlichen Organen gestattet, Privatpersonen abzuhören. (geregelt in § 100c StPO) Aus gutem Grund ist die Privatsphäre indirekt durch die „Unversehrtheit der Wohnung“ sogar durch das Grundgesetz geschützt. Ein Lauschangriff – egal aus welchem Grund – wäre eine Ungeheuerlichkeit, die jede Empörung rechtfertigt.
Das Privacy Paradox
Warum um alles in der Welt sind fast alle außer mir so gleichgültig? Richtig überrascht war ich zudem, als ich bei meinen Recherchen feststellen musste, dass die Wissenschaft für die Ignoranz dieser neuen Online-Gefahr sogar schon einen Namen hat: Privacy Paradox. Die Ursachen sind noch unbekannt. Weiter unten möchte ich ein paar Mutmaßungen anstellen. Ein wenig wurmt es mich, dass ich der Einzige bin, der vom Privacy Paradox nicht betroffen ist. Woran kann das liegen? Weil ich Science Fiction lese und schreibe und deshalb ständig über mögliche zukünftige Entwicklungen nachdenke?
Ich werde oft gefragt, warum ich als Science-Fiction-Autor nicht total euphorisch über die neuen technischen Möglichkeiten bin. Ich erlebe schließlich, wie all das, was in meiner Kindheit von kühnen Science-Fiction-Visionären erträumt wurde, auf einmal Wirklichkeit wird. Das muss mich doch begeistern! Ich pflege darauf zu antworten, dass ich mir nicht sicher bin, ob die neuen Möglichkeiten jene Technik repräsentieren, die zum Beispiel ein Hugo Gernsback oder ein Isaac Asimov erträumt haben, die in einfachen Abenteuergeschichten wie Captain Future schon in den Dreißigern jungen Lesern Lust auf die Zukunft gemacht haben und auch bei Star Trek immer noch zu finden sind. Oder ob es nicht vielmehr jene Entwicklungen sind, vor denen uns die ganzen Dystopien immer gewarnt haben. Schließlich ist es eine der Funktionen von Science Fiction, vor möglichen Schattenseiten des Fortschritts zu warnen.
Was sagt die Science Fiction dazu?
Zugegeben, die Geschichten, die die Science Fiction anzubieten hat, scheinen auf den ersten Blick etwas übertrieben, was aber nur ein nötiger Kunstgriff ist. In Space Merchants (1953, dt.: Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute) von Frederic Pohl und Cyrill M. Kornbluth haben große Konzerne und Werbeagenturen die Menschen und ihr Verhalten einigermaßen fest im Griff. Nun soll der größte Schwindel aller Zeiten verkauft werden: völlig unbrauchbares Land auf der Venus. Mitch arbeitet bei einer der Agenturen, die sich um den Werbeauftrag bemühen. Durch eine Intrige landet er auf einmal ganz unten in der Gesellschaft, bei den einfachen Verbrauchern. Nun erfährt er am eigenen Leib, was es heißt, in dem Teufelskreis von Beeinflussung, Konsum und Armut gefangen zu sein. Alkohol und Zigaretten kosten mehr, als die Angestellten verdienen, der Arbeitgeber gibt aber unbegrenzten Kredit. Eine böse Falle, aus der es keinen Ausweg mehr gibt.