Science Fiction

Sex, Drugs & Religion in deutschsprachigen SF-Kurzgeschichten

8 Cover von im Text erwähnten Magazinen und Anthologien in zwei Reihen aneinandergereiht

Dr. Jamie-Lee Campbell, 08.12.2023

Worüber schreibt die deutschsprachige Science-Fiction-Kurzgeschichtenszene eigentlich? Welche Themen werden auf welche Weise behandelt? Dr. Jamie-Lee Campbell hat sich den Jahrgang 2023 teilweise angesehen und analysiert. Und gibt zum Schluss Anregungen, wie viele der Geschichten und Themen noch interessanter und aufregender gestaltet werden könnten.

Inspiriert durch eine Diskussion auf der MetropolCon, stellte ich mir die Frage, welche Geschichten (sich) die deutsche Science-Fiction-Kurzgeschichten-Szene erzählt? Hierbei stellte ich die Akteure in den Mittelpunkt, da wir sie auf ihren Geschichten begleiten, ihr Weltbild sowie ihre Perspektive einnehmen und durch sie zu Diskussionen über Themen angeregt werden. Damit können die fiktiven Personen uns vielleicht am ehesten mitteilen, worüber wir (indirekt) in der SF nachdenken. Daher habe ich mich entschlossen, einen Teil der deutschsprachigen SF-Kurzgeschichten des Jahrganges 2023 figurenzentriert zu analysieren und mit euch diese Ergebnisse in verschiedenen Essays zu teilen.

Für die Analyse habe ich alle individuell zuordbaren Charaktere (= 1.795 Figuren) aus 163 Kurzgeschichten aus den Angaben des Textes codiert nach unter anderem Alter, (non)Geschlecht, Identität, kultureller Hintergrund, Kleidung, Beruf und sexuelle Orientierung aufgeschlüsselt.[1] Als Basis dienten 52 Kurzgeschichten aus zwölf SF-Magazinen (u.a. Exodus, Future Fiction Magazin, Nova, Queer*Welten, Weltenportal), 99 Texte aus acht Anthologien (u.a. Jenseits der Traumgrenze, Generationen, Zeitgestrüpp) und zwölf Erzählungen aus drei Collections (u.a. Memory Cloud). Alle hier im Text genannten Bücher finden sich unten in der Bibliographie.

 

[1] Eine detaillierte methodische Beschreibung findet sich im Andromeda Magazin Nr. 159 in englischer Sprache. Es wird dazu auch einen online Anhang geben, in dem alle analysierten Geschichten aufgelistet sind. Weitere Essays sind auf Deutsch u.a. bei Tor-Online und in Das SF-Jahr geplant.

Sex…

Sex ist definitiv ein (Neben)Thema, da Sexbezüge in 56,4% der analysierten Stories vorkommen (Anthologien: 63,6%, Collections: 50%, Magazine: 44,2%). Im Vergleich zu Autorinnen und Autorx erschaffen doppelt so viele Autoren Sexbezüge. Etwa 2/3 aller Schreibenden, die ihre Figuren mit Sexbezügen schildern, sind vor 1980 geboren. Ich muss aber einschränken, dass mir das Alter nur bei der Hälfte der Autor:innen durch deren Vita bekannt war.[2]

Da sexuelle Bezüge sehr vielfältig sind, habe ich das Thema recht weit gefasst. So fällt hierunter: Sex, sexuelle Orientierung, Nacktheit oder aufreizende Kleidung, körperliche Beschreibungen mit dem Fokus auf Attraktivität („attraktiv, hübsch, schöne Frau, Schönling“), Berufe mit Sexbezügen, und Sexualisierung (als Ausführende oder als Opfer). Mit dieser Herangehensweise haben 239 Figuren mindestens einen der genannten sexuellen Bezüge (13,3% aller Charaktere). Damit weisen 22,6% aller Frauen einen sexuellen Bezug im Vergleich zu 10,3% aller Männer auf (wobei 20,2% dieser männlichen Akteure weiblich gelesene Figuren aktiv sexualisieren).

21 Nebenfiguren bieten Sexarbeit an (u.a. Prostitution, Callgirls, Lustsklavinnen). Von diesen 21 sind 20 weiblich (= 11 menschliche Frauen, sechs weiblich gelesene Sex-Roboter und drei weiblich gelesene Aliens) und ein männlich gelesenes homosexuelles Alien. Es gibt keine human männliche/non-binär/genderfluid/trans/drag Akteure im Bereich der Sexarbeit. Der einzige Mann im beruflichen Erotikbereich, arbeitet in einer Pornovideothek. Wobei wir ihn nicht bei der Ausübung seines Berufs sehen, wie es bei allen anderen der Fall ist. Ein weiterer Mann arbeitet etwas weiter entfernt mit dem Thema Sex als „König der Kartelle“, der die Kontrolle über verschiedene Puffs hat. Die niedrige Summe der sexbezogenen Berufe klingt recht jugendfrei, täuscht aber darüber hinweg, dass Bordelle und Rotlichtviertel gern genutzte Locations sind, in welchen sich eine unbestimmt hohe Anzahl an sexarbeitenden weiblich gelesenen Figuren tummeln, die hier nicht berücksichtigt werden konnten. Ein weiteres nicht gezähltes Beispiel sind die 20 nackten Männern und Frauen, die Sex im Tausch für Bienen in Christian Endres lesenswerter Geschichte »Die Straße der Bienen« (in Klimazukünfte 2050) anbieten. Diese Gruppe konnte ich nicht codieren, da deren Geschlechtsverhältnis nicht eindeutig zuordbar war.

In Einzelfällen kommt hinzu, dass das berufliche Renommee weiblicher Charaktere durch Sexbezüge untergraben wird. So bietet sich eine Wissenschaftlerin ganz selbstverständlich als Sexköder nackt im Wald an, um mit gemeinsamem Sex mit dem Versuchstier dieses sowohl anzulocken als auch dieses für die eigene Forschung zu gewinnen. Oder: eine gestandene Kommissarin muss sich zur Lösung des Falls sichtbar für ihre Untergebenen als leicht bekleidete Prostituierte beim Antagonisten einschleusen. Bei männlichen Figuren findet eine solche Degradierung in den 163 analysierten Kurzgeschichten nicht statt. Das Verhältnis von für die Handlung nicht relevanten nackten Frauen zu nackten Männern liegt bei neun zu drei. Da es Insgesamt wesentlich weniger weibliche als männliche Akteure gibt (552 vs. 1.060[3]), liegt die Wahrscheinlichkeit, nackt dargestellt zu sein, bei weiblichen/ weiblich gelesenen Figuren bei 1,6%, während diese bei männlichen/männlich gelesenen bei 0,3% liegt (beides inkl. Geschlechts-gelesener Androiden/Roboter/KIs/Aliens). Non-binäre, genderfluide oder Transfiguren wurden nicht nackt dargestellt.

Ca. 13% aller weiblich gelesenen Figuren werden als Opfer sexualisiert. Das sind 71 Akteurinnen. Die Sexualisierung findet vornehmlich auf zwei Arten statt: Erstens, eine männliche Figur sexualisiert eine weibliche in Dialogen, in Gedanken oder in Bemerkungen. Ein Beispiel: Ein Mann sieht eine nackte Frau auf einem fremden Planeten und denkt: „Die Frau war nackt. Die Frau war sehr schön“. Er entschließt sich, die Frau zu retten, weil er mit ihr schlafen will. Es bleibt offen, ob sie gerettet werden will und ob sie sein Interesse erwidert. Ihre Sicht ist in der Geschichte nicht relevant, da sie ausschließlich Lustobjekt ist. Weitere Beispiele liefern einige der Detektive: Einer hat eine „scharfe Sekretärin“ angestellt. Bei zweien vergibt eine Femme fatale einen Auftrag und wird von den Detektiven jeweils ausschließlich körperlich sexualisiert betrachtet. Es gibt 22 männliche Charaktere, die weibliche Akteure sexualisieren. Elf der 22 sind Protagonisten, und bis auf zwei wurden alle von männlichen Autoren verfasst. Unter den 71 weiblichen Opfern von Sexualisierung befinden sich sieben Hauptpersonen. Die zweite Art der Sexualisierung findet auf einer abstrakteren Ebene statt, nämlich durch die Stimme der schreibenden Person. Dies zeigt sich unter anderem in der allgemeinen Beschreibung von weiblichen Figuren (wie handlungsirrelevante Nacktheit oder handlungsirrelevante anzügliche Kleidung, Bezüge zu Brüsten, ausladende Hüften etc.), oder auch in allgemeinen Beschreibungen wie „[die Landschaft war ausgetrockneter als] die Muschi einer Paloraner Hohenpriesterin“.

Dem gegenüber stehen zwei Frauen, die männliche Personen sexualisieren, indem sie diese als Vibrator benutzen oder alle männliche Personen hinsichtlich ihrer körperlichen Attraktivität abchecken. Eine davon ist Protagonistin, beide wurden jeweils von männlichen Autoren erdacht.

Bei 117 Figuren konnte ich eine sexuelle Orientierung durch Handlungen oder explizite Benennung im Text zuordnen (dieser Wert könnte höher liegen, da ich nicht sicher bin, ob ich jegliche casual queerness oder sexuelle Orientierung in den Texten erfasst habe, oft hat sie auch keine Rolle gespielt). Sieben Charaktere flirten auf romantische Weise miteinander, 18 haben Sex, darunter ein einziger Dreier (bei Janika Rehak, »Nordmeer Delfine«, enthalten in Klimazukünfte 2050). Der Sex ist fast ausschließlich heterosexuell, die Ausnahmen sind ein lesbischer Sex und verschiedene Affären von homosexuellem Sex in einer sehr lesenswerten Geschichte von Simon Klemp (»Der Seelenpartnertest« in Queer*Welten 10). Wobei heterosexuell auch heißt, dass Aliens, Androiden oder Roboter ein eindeutiges humanes Geschlecht zugeschrieben wird.

Die abgrundbehaftete Seite des Sex ist ebenfalls vertreten. So findet ein Mehrgenerationeninzest durch Zeitreisen statt, vier Frauen werden Vergewaltigt und eine KI will eine Frau und einen Mann zur Paarung zwingen. In 92 Kurzgeschichten kommen sexuelle Bezüge in verschiedenster Weise vor. Diese bezieht sich hauptsächlich auf eine heterosexuelle Sicht und umfasst eher einen sexuellen Blick auf weiblich gelesene Figuren. Zur generellen Omnipräsenz des Sex gesellen sich noch etliche sexuelle Anspielungen, oder das Thema Sex wird in unpassenden Situationen eingeführt, etwa wenn gerade eine Leiche gefunden wird.

 

[2] Ich habe das Geschlecht und Alter aus den Autorenvitae entnommen. Falls es dort nicht ersichtlich war, welches Geschlecht (explizites Pronomen) oder Geburtsjahr die schreibende Person hat, habe ich dies als fehlenden Wert gezählt.

[3] Auch hier habe ich nur das Geschlecht codiert, wenn es mir durch explizite Pronomen des Textes klar ersichtlich war. Ich habe nicht von den Namen auf ein/non/fluides/trans/etc.-Geschlecht der Charaktere geschlossen. Ohne klare Pronomenszuordnung (sie/er/them/ens etc.) oder eindeutige Beschreibungen (XY ist genderfluid), habe ich diese Angabe als fehlend gewertet. 183 Figuren sind entweder non-binär, trans, genderfluid, oder schlicht durch die Texte für mich nicht zuordenbar gewesen.

…Drugs…

Unter dem Stichwort „Drogen“ habe ich den fragwürdigen bis schwierigen Konsum (inklusive der klassischen Abhängigkeit) von sowohl Drogen als auch Medikamenten erfasst. Drogen spielen in sieben Erzählungen (4,3% aller analysierten Texte) eine Rolle. Diese sind in drei Anthologien enthalten, unter den sieben Autoren ist eine weiblich. Damit sind die SF-Kurzgeschichten insgesamt recht drogenfrei. Insgesamt acht Personen konsumieren Drogen (jeweils vier Frauen und vier Männer). Von diesen acht ist eine bereits zu Beginn der Story an einer Überdosis gestorben, und zwei weitere sterben im Verlauf der Geschichte. Damit gibt es eine relativ hohe Todesquote für dargestellten Drogenkonsum.

Eine handelnde Person probiert Drogen, um die Abhängigkeit seiner Schwester nachempfinden zu können (sehr lesenswert ist die Beschreibung seines Drogenrausches in Hanna Noldens‘ »Der Kaktusgarten« in New Dodge). Neben diesem hehren Motiv werden Drogen von männlichen Figuren nur nebenbei zur Leistungssteigerung konsumiert (Maschinenöl bei Uwe Herrmanns‘ »2tage« in Cybäria), während bei weiblichen Figuren der Fokus auf den negativen Folgen einer Drogenabhängigkeit liegt (Überdosis, Abhängigkeit und Tod). Medikamentenabhängigkeit gibt es nur bei einer Frau. Sie erhält gemeinsam mit allen Dorfbewohnern unwissend durch einen Androiden regelmäßig Medikamente zur Zeugungsunfähigkeit (Rico Gehrkes‘ »Am Strand von Coventry« in Ferne Horizonte-Entfernte Verwandte). Dazu gibt es vereinzelt Berufsbezüge zu Drogen: Bei vier männlichen Akteuren geht es vornehmlich um die Verteilung von Drogen (drei Gangster/Drogenbosse und ein Dealer), zwei weibliche Charaktere (eine davon ein weiblich gelesener Android) arbeiten für einen Arbeitgeber der den Drogenrausch für zahlungskräftige Kunden mittels Technik neutralisiert und kapitalisiert.

Einzig bei Hanna Nolden werden Probleme der Angehörigen drogenerkrankter Personen thematisiert. Außer ihrem erfundenen „Spikes“ als neue Droge sowie der interessanten neuen Kapitalisierung, sind die Drogen eher konventionell, gegenwärtiger Natur oder nur abstrakt vorhanden.

… & Religion

Beim Thema Religion überraschte mich am meisten, wie weit verbreitet sie mit fast 18,4% aller Kurzgeschichten (30 Texte) ist. Meist wurden über Religion von männlichen Autoren geschrieben, die in den 1960er oder 1970er Jahren geboren wurden. 23 der Erzählungen wurden in Anthologien veröffentlicht. Insgesamt 97 Charaktere (5,4% aller Figuren) wiesen einen Religionsbezug auf, davon waren ein Viertel Gottheiten oder Personen aus bekannten Religionen (z.B. Gott, Jesus, Maria, die in bestimmten Momenten angerufen wurden oder auf die sich in Redensarten bezogen wurde). Des Weiteren gab es einige Akteure, die im Religionskontext arbeiteten, wie Mönche, Imame, Rabbi, Priester oder religionsbezogene Wachen. Trotz dieser intensiven Verbreitung von Religionsbezügen übten nur jeweils ein Protagonist und ein Antagonist einen religiösen Beruf aus.

Weniger überraschen dürfte, dass die christlichen Religionen mit 37 Figuren am stärksten vertreten waren, gefolgt von neu erfunden Religionen mit 29 (u.a. der Krabbengöttin bei Markus Heitkamps »Krebirah« in VerDAMNt!). Alle anderen Religionen waren nur vereinzelt vertreten, in absteigender Reihenfolge: Acht Charaktere gehört dem Islam an, fünf Griechische Götter, jeweils vier Römische Götter und Zeugen Jehovas, jeweils drei Figuren waren Ägyptisch, Jüdisch oder gehörten einer Nordische Religion an, sowie eine Indisch und eine Buddhistisch Figur. Der Religionsfokus ist eher klassisch christlich ausgelegt.

Mit 16 Personen ist Achim Stößer (»Du magst sagen, ich sei ein Träumer, doch ich bin nicht der Einzige« in Jenseits der Traumgrenze) alleine für 16,5% aller religiösen Figuren verantwortlich. Seine Story, Robin Bergaufs »Der große Bartstreit« (in Klimazukünfte 2050) und die Anthologie Zeitgestrüpp bringen die Heterogenität in den real existierenden Religionen des Jahrgangs fast vollumfänglich ein. Daneben hat die Anthologie Ferne Horizonte – Entfernte Verwandte einen besonderen Einfluss auf die Präsenz von Religion, da sie acht Geschichten enthält, die mit ihrem Umfang von 32 Personen gut ein Drittel aller religiöser Figuren abdecken. Die Anthologie wirft ein Licht auf die weit entfernte Zukunft. Hierbei ist interessant, dass sich dort zwar in vielen Zukunftsversionen sowohl die Gattung Mensch als auch die gesamte Umgebung der Erde sehr stark verändert, jedoch gerade die christlichen Gottesbezüge diese enormen Umwälzungen ohne Anpassung und Weiterentwicklung zu überdauern scheinen.

Das Geschlechterverhältnis im Religionsbezug ist klar männlich konnotiert. Von den 29 Göttern sind 25 männlich, drei weiblich und ein Alien ist für mich nicht zuordenbar gewesen. Ähnlich sieht es bei religiösen Berufen aus. Hier sind 43 von männlichen Figuren besetzt, drei von weiblichen. Eine der männlich gelesenen Personen ist ein Android. Non-Binäre oder genderfluide Gottheiten/Akteure mit Religionsbezug tauchen nicht auf. Somit zeigt sich hier ebenfalls ein recht konventionelles und konservatives Bild der ausgeübten Religion, dass eher die Gegenwart zu repräsentieren scheint als mit neuen Zukunftsideen zu spielen.

Fazit, Fragen & Anregungen

Plakativ runtergebrochen könnte man sagen, deutsche SF-Kurzgeschichten bestehen aus viel sex, fast keinen heavy drugs, & unerwartet viel Christian religion. Natürlich sollte der spezifische Einfluss der einzelnen Anthologien hier mitbeachtet werden, da Religion als überdauernde Größe gerade bei den weit entfernter Zukunfts-SF vorkommen und sowohl Stößer als auch Bergauf (mindestens in Teilen) eine Religionspersiflage geschrieben haben. Dennoch zeigt sich ein überwiegend konventionelles und konservatives Bild zu diesen drei Themen, wobei der Fokus mehr auf dem Erzählen von Bekanntem liegt, als auf dem Erfinden und Entdecken von Unbekanntem oder Neuem.

Bei dieser Analyse habe ich mich gefragt, wie man aus der gegenwartsbezogenen Sicht ein wenig raustreten kann und einige der Plots vielleicht mit neuen Perspektiven und Diversität würzen könnte. Diese und ein paar Ideen möchte ich abschließend teilen und gleichzeitig vorab sagen, dass es mir dabei nicht darum geht, vorzugeben, was ein richtiges oder gutes Schreiben ist. Sondern denjenigen, die Lust haben, in neue Richtungen zu denken, Ansatzpunkte oder Inspiration mitzugeben. Prinzipiell vertrete ich die Haltung, dass alle Personen die Texte kreieren dürfen, die ihnen unter den Nägeln brennen und die sie selbst lesen wollen.

Auffällig ist, dass die Sexbezüge selten zur Handlung beitragen. Dabei könnte dies eine neue Perspektive eröffnen. Was wird über den Sex kommuniziert und wie wird über gemeinsamen Sex gesprochen? Was wird durch den Sex über den Stand der Beziehung ausgesagt (hier fand ich Simon Klemps Ansatz in Queer*Welten 10 sehr spannend). Findet in der Science Fiction Selbstbefriedigung überhaupt statt? Haben Protagonisten mit Behinderung miteinander oder mit Akteuren ohne Behinderung Sex? Wie und was kann sich durch Technikgimmicks, Algorithmen, Androiden oder KI daran ändern? Ein Ausprobieren von Beziehungskonstellationen, z.B. Polyamorie, offene Beziehungen, Kinder mit 15 Elternpersonen die aus Menschen, Cyborgs, einer KI etc. bestehen. Interessant kann auch der Ansatz sein, Körper von Menschen, Aliens, Robotern, KIs oder Simulationen progressiver und damit fluider zu denken und mehr damit zu spielen (beispielsweise nur temporäre oder fluide Geschlechtlichkeiten, zeitlich begrenzte sexuelle Orientierungen, Technik, die den Zugang zu anderen Geschlechtlichkeiten oder Identitäten auch kulturell erlaubt, oder auch ganz neue Geschlechtlichkeiten.

Wie können sich solche Gedankengänge auf die verschiedenen Facetten der Sexbezüge als Nebenhandlung auswirken? Oder alternativ gar keine Geschlechtlichkeit, sondern eine gesellschaftliche Identifikation von Figuren, die über andere Dinge als körperliche Merkmale funktioniert, etwa, wie sich Charaktere selbst in temporären Kontexten immer wieder neu verorten durch Haupthobbies, Lieblingsmusik, Fähigkeiten etc.). Sex zwischen Androiden, Robotern und KIs könnte ebenfalls ein weniger langweiliges Thema sein, wenn wir Maschinen weniger in menschlichen Geschlechtskategorien denken würden, sondern hier uns einfach mal trauen wilder rumzuexperimentieren. Insgesamt könnte es einfach bunter werden, wenn wir den Sichtweisen auf Sex mehr Raum und Stimme geben, die neben der hetero-männlichen Perspektive existieren. Zudem wäre (für mich persönlich) ein Weniger an sexualisierten Figuren in Text (und Grafik) durchaus wünschenswert.

Bei den Drogen frage ich mich wo in den Storys der neue heiße Scheiß im Bereich der Drogen stattfindet, den man in Romanen wie Aiki Miras Neongrau findet? Wo sind die neuen Substanzen inklusive Nanopartikel, die sich KI mäßig an die jeweilige drogenabhängige Person anpassen? Kann eine KI ein Dealer sein, und muss eine Algorithmus-generierte Therapie immer erfolgreich sein? Gibt es Drogenimplantate (beispielsweise für unter die Zunge oder als Ersatz für die Zunge)? Was passiert, wenn die Drogen gehackt werden? Welche Gefühle sollen in Zukunft durch Drogenkonsum vermieden werden, welche erzeugt? Die Ruhe vor Überforderung, dem Gefühl des Analogen? Kann man die Perspektive marginalisierter Gruppen durch Drogen erfahren und erfühlen? Kann man mit Drogen sich wie eine bestimmte Person fühlen und welcher Markt und welche Folgen eröffnen sich durch solche Möglichkeiten? Gibt es neue Applikationen für Drogen so dass man ungewollt high wird, wenn man an einem Chip vorbeiläuft?

Bei den Ergebnissen zum Thema Religion frage ich mich, warum wir davon ausgehen, dass in weit entfernter Zukunft die Kerngedanken der christlichen Religion überleben werden und sich genauso zeigen, wie sie es zurzeit tun? Warum spielen Religionen außerhalb des christlichen Bereiches nicht wirklich eine (auch ernstzunehmendere) Rolle in den Geschichten? Und was könnte uns ein Fokussieren auf andere Religionen für neue Erzählungen geben? Warum ist Religion überhaupt so ein präsentes Thema? Dass Künstliche Intelligenz einem Gottkult oder einer Religion verfallen oder diese für die Menschen kreieren, scheint ebenfalls keines der Denkspiele zu sein.

Auch wenn er in der SF-Szene polarisiert, so hat China Miéville in seinem Buch Perdido Street Station einen Gott des Schrottplatzes erfunden, welcher mittels eines Virusprogramms alle elektronischen Geräte der Stadt sich untertan macht. Ich frage mich wie so ein Gott beispielsweise in einem Cyberpunkuniversum agieren könnte. Auch Androiden, die menschähnlich dargestellt werden, scheinen keine eigene Religion zu besitzen oder zu entwickeln. Gleiches gilt für Aliens, für die man sich sehr kreativ neue Religionen samt deren Ausübung, Tradition, Struktur, Institutionen und Einflüsse überlegen und durchspielen könnte.

Vielleicht erkennt ihr beim Lesen dieses Essays Euer eigenes Schreiben wieder. Vielleicht fühlt Ihr Euch auch wohl mit der aktuellen Behandlung und Verbreitung der genannten Themen. Vielleicht ist es aber auch das Gegenteil, und Ihr wünscht Euch progressivere Themen und mehr Inspiration. Beides hat seine Berechtigung und soll seinen Raum finden. Es wird das was ihr daraus macht!

Magazine und Kurzgeschichtensammlungen:

S. Freyberg & U. Post (Hrsg.), Future Fiction Magazine (2023). https://www.futurefiction.org/future-fiction-magazine/

F. Heidorn & S. Mlyneck, et al. (Hrsg.), Klimazukünfte 2050. Geschichten unserer Gefährdeten Welt. Hirnkost Verlag (2023).

C. Grimm (Hrsg.), Weltenportal Magazin (2023). https://weltenportalmagazin.de

C. Günther, Memory Cloud. Eine Cyberpunk-Storysammlung. BoD (2023).

M. Heitkamp (Hrsg.), VerDAMNt! Leseratten Verlag (2023).

F. Hebben, A. Skora & A. Rößler (Hrsg.), Cybäria. Begedia Verlag (2023).

H.J. Kugler & R. Moreau (Hrsg.), Ferne Horizonte-Entfernte Verwandte-Die Welt in Jahrmillionen. Hirnkost Verlag (2023).

M. Labisch & G. Scherm (Hrsg.), Jenseits der Traumgrenze. p.machinery (2023).

R. Moreau, H. Wipperfürth & H.J. Kugler, (Hrsg.). Exodus. Science Fiction Stories & phantastische Grafik (2023). https://exodusmagazin.de/who-is-who/ueber-exodus.html

C. Miéville, Perdido Street Station. [Perdido Street Station] Heyne Verlag (2014).

A. Mira, Neongrau. Game over im Neurosubstrat. Polarise (2022).

L. Richter, J. C. Vogt & H. Knopp-Sullivan, (Herausgebende Personen), Queer*Welten Magazin. (2023). https://queerwelten.de

T. Scheib (Hrsg.), New Dodge. Leseratten Verlag (2023).

E. Simon (Hrsg.), Zeitgestrüpp oder die Räder von Himmel und Erde. Verlag Torsten Low (2023).

Team Nova (Hrsg.), Nova-Magazin für spekulative Literatur (2023). https://www.pmachinery.de/imprints/nova-magazin-fuer-spekulative-literatur

M. Witzgall & F. Woitkowski, (Hrsg.), Generationen. Die besten Geschichten der Story Olympiade 2019-2022. Verlag Torsten Low (2023).

Campbell, Jamie_Lee
© Tanya Bukhanets

Jamie-Lee Campbell

Dr. Jamie-Lee Campbell, geboren 1984 in Boston (USA), studierte Psychologie und promovierte zum Thema Korruption in Organisationen. Neben frühen Gedichtpublikationen (2004-2011) sowie einer Kurzgeschichte (2006 im Kulturmagazin Maskenball) schrieb sie verschiedene fach- und populärwissenschaftliche Texte für verschiedene Zeitungen (2013-2022, u.a. Katapult Magazin, Report Psychologie, Scheinwerfer das Mitgliedsmagazin von Transparency International Deutschland). Zuletzt erschien ein wissenschaftliches Buchkapitel zum Thema Geschlechtsunterschiede in verschiedenen Formen der Korruption im Fachbuch: Gender, Norms and Corruption: Understanding the Nexus (2022).

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