Sex…
Sex ist definitiv ein (Neben)Thema, da Sexbezüge in 56,4% der analysierten Stories vorkommen (Anthologien: 63,6%, Collections: 50%, Magazine: 44,2%). Im Vergleich zu Autorinnen und Autorx erschaffen doppelt so viele Autoren Sexbezüge. Etwa 2/3 aller Schreibenden, die ihre Figuren mit Sexbezügen schildern, sind vor 1980 geboren. Ich muss aber einschränken, dass mir das Alter nur bei der Hälfte der Autor:innen durch deren Vita bekannt war.[2]
Da sexuelle Bezüge sehr vielfältig sind, habe ich das Thema recht weit gefasst. So fällt hierunter: Sex, sexuelle Orientierung, Nacktheit oder aufreizende Kleidung, körperliche Beschreibungen mit dem Fokus auf Attraktivität („attraktiv, hübsch, schöne Frau, Schönling“), Berufe mit Sexbezügen, und Sexualisierung (als Ausführende oder als Opfer). Mit dieser Herangehensweise haben 239 Figuren mindestens einen der genannten sexuellen Bezüge (13,3% aller Charaktere). Damit weisen 22,6% aller Frauen einen sexuellen Bezug im Vergleich zu 10,3% aller Männer auf (wobei 20,2% dieser männlichen Akteure weiblich gelesene Figuren aktiv sexualisieren).
21 Nebenfiguren bieten Sexarbeit an (u.a. Prostitution, Callgirls, Lustsklavinnen). Von diesen 21 sind 20 weiblich (= 11 menschliche Frauen, sechs weiblich gelesene Sex-Roboter und drei weiblich gelesene Aliens) und ein männlich gelesenes homosexuelles Alien. Es gibt keine human männliche/non-binär/genderfluid/trans/drag Akteure im Bereich der Sexarbeit. Der einzige Mann im beruflichen Erotikbereich, arbeitet in einer Pornovideothek. Wobei wir ihn nicht bei der Ausübung seines Berufs sehen, wie es bei allen anderen der Fall ist. Ein weiterer Mann arbeitet etwas weiter entfernt mit dem Thema Sex als „König der Kartelle“, der die Kontrolle über verschiedene Puffs hat. Die niedrige Summe der sexbezogenen Berufe klingt recht jugendfrei, täuscht aber darüber hinweg, dass Bordelle und Rotlichtviertel gern genutzte Locations sind, in welchen sich eine unbestimmt hohe Anzahl an sexarbeitenden weiblich gelesenen Figuren tummeln, die hier nicht berücksichtigt werden konnten. Ein weiteres nicht gezähltes Beispiel sind die 20 nackten Männern und Frauen, die Sex im Tausch für Bienen in Christian Endres lesenswerter Geschichte »Die Straße der Bienen« (in Klimazukünfte 2050) anbieten. Diese Gruppe konnte ich nicht codieren, da deren Geschlechtsverhältnis nicht eindeutig zuordbar war.
In Einzelfällen kommt hinzu, dass das berufliche Renommee weiblicher Charaktere durch Sexbezüge untergraben wird. So bietet sich eine Wissenschaftlerin ganz selbstverständlich als Sexköder nackt im Wald an, um mit gemeinsamem Sex mit dem Versuchstier dieses sowohl anzulocken als auch dieses für die eigene Forschung zu gewinnen. Oder: eine gestandene Kommissarin muss sich zur Lösung des Falls sichtbar für ihre Untergebenen als leicht bekleidete Prostituierte beim Antagonisten einschleusen. Bei männlichen Figuren findet eine solche Degradierung in den 163 analysierten Kurzgeschichten nicht statt. Das Verhältnis von für die Handlung nicht relevanten nackten Frauen zu nackten Männern liegt bei neun zu drei. Da es Insgesamt wesentlich weniger weibliche als männliche Akteure gibt (552 vs. 1.060[3]), liegt die Wahrscheinlichkeit, nackt dargestellt zu sein, bei weiblichen/ weiblich gelesenen Figuren bei 1,6%, während diese bei männlichen/männlich gelesenen bei 0,3% liegt (beides inkl. Geschlechts-gelesener Androiden/Roboter/KIs/Aliens). Non-binäre, genderfluide oder Transfiguren wurden nicht nackt dargestellt.
Ca. 13% aller weiblich gelesenen Figuren werden als Opfer sexualisiert. Das sind 71 Akteurinnen. Die Sexualisierung findet vornehmlich auf zwei Arten statt: Erstens, eine männliche Figur sexualisiert eine weibliche in Dialogen, in Gedanken oder in Bemerkungen. Ein Beispiel: Ein Mann sieht eine nackte Frau auf einem fremden Planeten und denkt: „Die Frau war nackt. Die Frau war sehr schön“. Er entschließt sich, die Frau zu retten, weil er mit ihr schlafen will. Es bleibt offen, ob sie gerettet werden will und ob sie sein Interesse erwidert. Ihre Sicht ist in der Geschichte nicht relevant, da sie ausschließlich Lustobjekt ist. Weitere Beispiele liefern einige der Detektive: Einer hat eine „scharfe Sekretärin“ angestellt. Bei zweien vergibt eine Femme fatale einen Auftrag und wird von den Detektiven jeweils ausschließlich körperlich sexualisiert betrachtet. Es gibt 22 männliche Charaktere, die weibliche Akteure sexualisieren. Elf der 22 sind Protagonisten, und bis auf zwei wurden alle von männlichen Autoren verfasst. Unter den 71 weiblichen Opfern von Sexualisierung befinden sich sieben Hauptpersonen. Die zweite Art der Sexualisierung findet auf einer abstrakteren Ebene statt, nämlich durch die Stimme der schreibenden Person. Dies zeigt sich unter anderem in der allgemeinen Beschreibung von weiblichen Figuren (wie handlungsirrelevante Nacktheit oder handlungsirrelevante anzügliche Kleidung, Bezüge zu Brüsten, ausladende Hüften etc.), oder auch in allgemeinen Beschreibungen wie „[die Landschaft war ausgetrockneter als] die Muschi einer Paloraner Hohenpriesterin“.
Dem gegenüber stehen zwei Frauen, die männliche Personen sexualisieren, indem sie diese als Vibrator benutzen oder alle männliche Personen hinsichtlich ihrer körperlichen Attraktivität abchecken. Eine davon ist Protagonistin, beide wurden jeweils von männlichen Autoren erdacht.
Bei 117 Figuren konnte ich eine sexuelle Orientierung durch Handlungen oder explizite Benennung im Text zuordnen (dieser Wert könnte höher liegen, da ich nicht sicher bin, ob ich jegliche casual queerness oder sexuelle Orientierung in den Texten erfasst habe, oft hat sie auch keine Rolle gespielt). Sieben Charaktere flirten auf romantische Weise miteinander, 18 haben Sex, darunter ein einziger Dreier (bei Janika Rehak, »Nordmeer Delfine«, enthalten in Klimazukünfte 2050). Der Sex ist fast ausschließlich heterosexuell, die Ausnahmen sind ein lesbischer Sex und verschiedene Affären von homosexuellem Sex in einer sehr lesenswerten Geschichte von Simon Klemp (»Der Seelenpartnertest« in Queer*Welten 10). Wobei heterosexuell auch heißt, dass Aliens, Androiden oder Roboter ein eindeutiges humanes Geschlecht zugeschrieben wird.
Die abgrundbehaftete Seite des Sex ist ebenfalls vertreten. So findet ein Mehrgenerationeninzest durch Zeitreisen statt, vier Frauen werden Vergewaltigt und eine KI will eine Frau und einen Mann zur Paarung zwingen. In 92 Kurzgeschichten kommen sexuelle Bezüge in verschiedenster Weise vor. Diese bezieht sich hauptsächlich auf eine heterosexuelle Sicht und umfasst eher einen sexuellen Blick auf weiblich gelesene Figuren. Zur generellen Omnipräsenz des Sex gesellen sich noch etliche sexuelle Anspielungen, oder das Thema Sex wird in unpassenden Situationen eingeführt, etwa wenn gerade eine Leiche gefunden wird.
[2] Ich habe das Geschlecht und Alter aus den Autorenvitae entnommen. Falls es dort nicht ersichtlich war, welches Geschlecht (explizites Pronomen) oder Geburtsjahr die schreibende Person hat, habe ich dies als fehlenden Wert gezählt.
[3] Auch hier habe ich nur das Geschlecht codiert, wenn es mir durch explizite Pronomen des Textes klar ersichtlich war. Ich habe nicht von den Namen auf ein/non/fluides/trans/etc.-Geschlecht der Charaktere geschlossen. Ohne klare Pronomenszuordnung (sie/er/them/ens etc.) oder eindeutige Beschreibungen (XY ist genderfluid), habe ich diese Angabe als fehlend gewertet. 183 Figuren sind entweder non-binär, trans, genderfluid, oder schlicht durch die Texte für mich nicht zuordenbar gewesen.