Fantasy

LitRPG: Alles, was du über das Genre wissen musst

Coverausschnitt aus "Eternity Online", verzierter Schwertknauf mit Ornamenten vor einer Art blauem Lichtkranz im Weltraum

Alessandra Reß, 07.03.2024

Eine Charakterklasse wählen, bei Level 1 starten, Kräuter sammeln und dann langsam hochleveln: Klingt nach einem Online-Rollenspiel, gibt es aber auch in Buchform. Ein Blick in die Welt der LitRPGs von Alessandra Reß.

Let’s Plays, aber als Roman-Reihen. Das kann man als Antwort geben, falls man jemals auf einer Party gefragt wird, was sich hinter dem Begriff „LitRPG“ verbirgt.

Um aber etwas mehr ins Detail zu gehen: „LitRPG“ ist die Abkürzung für Literarisches Rollenspiel und verbindet genau diese beiden Aspekte. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um Romane zu Rollenspielen oder umgekehrt. Ebenso sind keine Single-Rollenspiele gemeint und auch keine Spielbücher im Sinne von „Wenn du nach rechts gehst, blättere auf S. 150 weiter“.

Stattdessen ist bei LitRPGs die Rede von Romanen, die in ihrer Logik und Struktur jener von (MMO)RPGs folgen und dabei eng aus der Sicht einer bestimmten Figur geschildert werden. Oder sagen wir in diesem Falle lieber: aus Sicht eines Charakters.

Start bei Level 1

Denn der klassische LitRPG-Roman beginnt damit, dass sich die Hauptfigur geplant oder ungeplant in der Realität eines Online-Rollenspiels wiederfindet – das „Jumanji“-Prinzip lässt grüßen. Wie sich das für ein ordentliches Rollenspiel gehört, wird dann aber erst mal ein Charakter oder Avatar ausgewählt oder angepasst, und dieser startet auf Level 1 mit entsprechend begrenzten Fähigkeiten. Das ist auch einer der Unterschiede zur GameLit, aber dazu später mehr. Als Lesende verfolgen wir den Weg dieses Charakters, der die Spielwelt mit allen daran hängenden Regeln, Questen und Möglichkeiten selbst erst nach und nach entdeckt. Deshalb „Let’s Play als Roman“, oder um es mit den Worten von LitRPG-Autor Lew Marschall zu sagen: „LitRPG ist das Twitch des Bücherregals“. Das Leseerlebnis ist also ähnlich wie bei Streams, in denen man Leuten zuschaut, wie diese mit ihren Avataren eine Spielwelt erkunden.

Das Setting ist oft der Epic oder High Fantasy entlehnt, manchmal finden sich auch Science-Fiction- oder Postapokalypse-Szenarien. Anders als in „klassischen“ Genre-Romanen ist die Funktionsweise der Welt bzw. des jeweiligen Settings aber Games nachempfunden. Ein Beispiel: In Mikkel Robrahns „Eternity Online“ soll Protagonist Rob im Gegenzug für einen benötigten Gegenstand Leder von einem im Wald lebenden Gerber besorgen. Auf seinem Weg erhält er weitere Aufträge, beispielsweise soll er zusätzlich Wolfspelze auftreiben. Dafür muss Rob den Kampf mit einem Rudel aufnehmen und darauf achten, den finalen Streich nicht seiner Gefährtin zu überlassen, damit die begehrten Pelze bei ihm landen. Nach getaner Arbeit stellt er dann fest, dass sein Rucksack mysteriöserweise problemlos Platz für einen ganzen Packen Wolfspelze bietet.

Mit anderen Worten: Rob nimmt einige Nebenquests an, um die Spielwelt kennenzulernen, sich auszustatten und sich langsam hochzuleveln. Nebenher sammelt er sogar noch Kräuter, wie sich das für den Helden eines (Computer-)Rollenspiels gehört. Und das Ganze folgt eben den Naturgesetzen von Games, in denen es kein Problem ist, einen ganzen Hausstand im Rucksack mitzuschleppen. Und in denen es schon mal vorkommen kann, dass Nebenfiguren als NPCs (=Non-Player Characters) agieren, entsprechend immer nur dieselben Sätze wiederholen oder alles ignorieren, was nicht mit ihrer unmittelbaren Funktion zusammenhängt. Auf die Dauer eine vermutlich frustrierende Erfahrung, aber dafür entschädigt, dass in der LitRPG-Logik schon ein einfaches Omelett die Lebenspunkte der Helden und Heldinnen ansteigen lassen kann.

Alles ist quantifizierbar

Lebenspunkte? Lebenspunkte! Die meisten LitRPGs enden nicht damit, sich in Logik und Wortwahl an MMORPGs und Co. zu orientieren, sondern nutzen sogar deren Statistiken. Weisheit, Intelligenz, Stärke oder Gesundheit: Das alles wird anhand von Punkten festgehalten. In Richard Schwartz‘ „Die Eisraben-Chroniken“ tauchen daher immer wieder Tabellen auf, in denen neben den Attributen Völkerboni oder -mali, die jeweilige Charakterklasse, Fertigkeiten und so weiter aufgeführt werden. Und während sich Protagonistin Alexandra durch die Handlung kämpft, steigen ihre Erfahrungspunkte und damit zugleich ihre Stufen bzw. Level. Angriffe oder Zauber werden zudem nicht einfach ausgeführt, sondern ausgewählt und konkret benannt.

In Russland entstanden

Der Begriff LitRPG taucht seit 2013 auf und war zunächst vor allem der Name einer entsprechenden Reihe des russischen Verlagshauses EKSMO. Inzwischen sind zahlreiche entsprechende Bücher erschienen, die meisten davon in Russland oder im angloamerikanischen Raum, viele im Selfpublishing. Zu den bekannteren Reihen gehören Vasily Mahanenkos „Survival Quest“, Travis Bagwells „Awaken Online“ oder Jakob Tanners „Arcane Kingdom Online“ – ein gewisser Benennungstrend ist erkennbar.

Im Laufe der Zeit haben sich Tropes und wiederkehrende Handlungs- oder Stilelemente herauskristallisiert, z. B. dass das Online-Rollenspiel als Nachleben fungiert oder die Figuren lernen müssen, Spielmechaniken für sich auszunutzen. Ebenso gehört ein oft recht platter Humor zum Repertoire. „In the middle of penning a dry academic paper, Shirtaloon had a revelation: he desperately needed to write something very silly”, so heißt es beispielsweise in der Selbstbeschreibung von Shirtaloon, Autor der “He who fights with monsters”-Reihe. Der leicht trashige Charme, der vielen LitRPG-Reihen anhängt, ist also durchaus gewollt. Das Storytelling wird dafür zuweilen vernachlässigt, und insbesondere einige russische Reihen stehen für ihre sexistischen, rassistischen oder homophoben Klischees in der Kritik. Mit wachsendem internationalem Bekanntheitsgrad ist gleichwohl die Auswahl gewachsen und viele Titel gehen reflexiver mit Stereotypen und Tropes um.

Längst hat das Subgenre auch hierzulande seine Fans gefunden. Bekannte originär deutschsprachige Titel sind die bereits genannten „Die Eisraben-Chroniken“ von Richard Schwartz oder Lew Marschalls „Der Fluch des schwarzen Phönix“.

Verwoben mit anderen Varianten

Wie so häufig sind zwischen LitRPG und anderen Subgenres die Grenzen fließend. Eng verwandt ist beispielsweise die Progression Fantasy, die nicht zwangsläufig ein Game-Setting hat, aber ebenfalls die Entwicklung der Hauptfigur ins Zentrum rückt – typische Genreautoren wie Dakota Krout („Dungeon Born“), Andrew Rowe („How to Defeat a Demon King in Ten Easy Steps“) oder Travis Bagwell lassen sich hier wie da einordnen. Als einer der geistigen Vorläufer gilt zudem das Manga/Anime-Subgenre Isekai (bzw. dessen Variante Trapped in MMO) mit Titeln wie „Sword-Art Online“. Und direkte Anspielungen auf (Pen&Paper-)Spielmechaniken finden sich auch in Rollenspiel-Ablegern wie „Drachenlanze“ oder den „Engel“-Romanen („Der Schwur des Sommerkönigs“). Weiterhin besteht eine gewisse Verwandtschaft zu Solo-Rollenspielen (z. B. „Thousand Year Old Vampire“) und Spielbüchern („Fighting Fantasy“-Reihe, „VERAX – Das Experiment“), die im Gegensatz zu LitRPGs jedoch interaktiv sind.

Die wohl größten Schnittpunkte gibt es schließlich zur GameLit-Titeln. GameLit bezeichnet Werke, die oft Cyberpunk oder Dystopien zugerechnet werden und ebenfalls Abenteuer in virtuellen Welten beschreiben. Hierzu gehören z. B. Tad Williams „Otherland“, Ernest Clines „Ready Player One“, Marie Lus „Warcross“ oder, aus dem deutschsprachigen Raum, „Spielende Götter“, „Erebos“ oder „Ghostwalker“. Hierbei können durchaus LitRPG-Elemente auftauchen und in Büchern wie „Ready Player One“ oder nun „Eternity Online“, die sich eng an Spiellogiken orientieren, sind die Grenzen fließend. Will man dennoch eine harte Grenze zwischen LitRPG und GameLit ziehen, kann man sich auf Statistiken und den Start bei Level 1 berufen: Wo Gesundheit, Intelligenz und Co. in Zahlen dargestellt werden und sich der Charakter der Hauptfigur erst hocharbeiten muss, bewegen wir uns im LitRPG. Wo das nicht der Fall ist, in der GameLit.

Ein Genre für Gamer

LitRPG ist – wenig überraschend – vor allem in der Gaming-Szene beliebt, viele Autoren des bislang männlich dominierten Genres betonen ihre Nähe zu dieser. Andrew Rowe beispielsweise arbeitet als Gamedesigner, Vasiliy Mahanenko und Travis Bagwell schreiben die Gaming-Begeisterung in ihre Bios. Für Leute, die völlig neu sind in der Welt der Online-Rollenspiele, wird das Subgenre hingegen schwer zugänglich sein – zum einen wegen der vielen spezifischen Begriffe, zum anderen weil LitRPGs ihren Charme durch Anspielungen an Gaming-Erlebnisse erhalten. Wer einfach gerne High Fantasy liest, könnte daher von LitRPGs zunächst irritiert sein. Wer hingegen gerne Let‘s Plays schaut und gerne High Fantasy (oder Science Fiction, Postapokalypsen usw.) liest, kann getrost einen Blick wagen oder sich eines der zahlreichen Hörbücher zu Gemüte führen.

Alessandra Reß
© Pablo Lachmann

Alessandra Reß

Alessandra Reß wurde 1989 im Westerwald geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Nach Ende ihres Studiums der Kulturwissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin, ehe sie in den E-Learning-Bereich gewechselt ist.

Seit 2012 hat sie mehrere Romane, Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, zudem ist sie seit mehr als 15 Jahren für verschiedene Fanzines tätig und betreibt in ihrer Freizeit den Blog „FragmentAnsichten“. Ihre Werke waren u. a. für den Deutschen Phantastik Preis und den SERAPH nominiert.

Mehr unter: https://fragmentansichten.com/

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