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Folgt dem weißen Kaninchen: Bücher, die aus der „Patrix“ führen

Collage aus den im Artikel erwähnten Romanen

Judith Vogt, 08.02.2024

Was hat es mit der „Patrix“ auf sich? Wie könnte der Weg aus dem Patriarchat aussehen, und eine Welt ohne? Judith Vogt stellt uns einige Science-Fiction- und Fantasy-Romane vor, die diesen Fragen nachgehen.

„Patrix“ – so nennen die Autoren des von mir zuletzt hier empfohlenen Sachbuchs „Die Wahrheit über Eva“ analog zur Wachowski’schen „Matrix“ das patriarchal-hierarchische Gefüge. Sie postulieren deshalb einen neuen Begriff, weil das Patriarchat die Eigenschaft hat, sich uns als einzig mögliche Wirklichkeit darzustellen, uns also so zu umgeben wie die virtuelle Realität der „Matrix“.

Es ist also Arbeit, die Patrix als das zu erkennen, was sie ist. Wir müssen die Arbeit darin investieren, sie uns erst einmal bewusstzumachen, uns darüber klarzuwerden, dass andere Formen des Zusammenlebens möglich wären und waren, aber dass männliche Vorherrschaft, Besitzdenken und Kapital schon sehr lange unsere Gesellschaften formen und uns auf mittlerweile absehbare Zeit an die Grenzen unserer irdischen Ressourcen bringen. Es ist auch Arbeit, das Wissen über diese Mechanismen, das über Generationen entstanden ist, aber sich erst in letzter Zeit wieder verstärkt von den (linken, feministischen, kapitalismuskritischen) Rändern löst und zugänglicher wird, gegen rechte und konservative Stimmen zu verteidigen. Und erst recht ist es Arbeit, auf etwas anderes zu hoffen, an etwas anderem zu bauen, etwas anderes zu erdenken.

Ich habe vor kurzem Sachbücher empfohlen, die dabei helfen, die soziologischen Wurzeln des Patriarchats zu erkennen. Das ist keine reine Fleiß- und Recherchearbeit, viele der im letzten Text empfohlenen Sachbücher haben meiner Meinung nach utopisches Potenzial. Aber Menschen sind „Erzählende Affen“, wie Samira El Ouassil und Friedemann Karig in ihrem gleichnamigen Buch sagen, und nichts bringt die Fantasie so auf Touren und macht uns Zusammenhänge besser begreifbar, als wenn wir einander Geschichten erzählen.

Und deshalb habe ich ein paar Tipps gesammelt, um sich lesend mit der Patrix auseinanderzusetzen. Macht es euch mit einem Tee und einem guten Buch gemütlich und – folgt dem weißen Kaninchen!

Klassiker – Perkins Gilman, Russ, Le Guin

Matriarchale Gesellschaften, Gesellschaften ohne Geschlecht oder Gesellschaften, die nur aus einem Geschlechte bestehen, haben eine lange Tradition in der Science-Fiction. Im Spiegel der Zeit ist zu erkennen, dass sich jedoch die Art und Weise wandelt, mit der beispielsweise über eine weiblich dominierte Gesellschaft geschrieben wird. Die Tendenz Anfang des 20. Jahrhunderts ging durch das vorherrschende Bild von Geschlecht dahin, dass Weiblichkeit quasi-biologisch mit höherer Friedfertigkeit gleichgesetzt wurde, aber auch mit Stillstand und Antriebslosigkeit, so zum Beispiel in „The Last Man“ von Wallace West (1929). Eine klassische Yin-Yang-Binarität also, in der Männlichkeit zwar mit Aggression, aber auch mit Tatendrang gleichgesetzt wird (und die heute bedauerlicherweise wieder tiktok-Aufwind erhält).

Anders geht Charlotte Perkins Gilman in ihrem One-Gender-Utopia „Herland“ vor – sie kreiert eine von der Außenwelt abgeschnittene Gesellschaft, in der Frauen vor tausenden von Jahren nach dem Tod aller Männer die Fähigkeit zur Parthenogenese entwickelt haben, also zur Zeugung, die lediglich eine Eizelle benötigt und die im Tierreich z.B. bei einigen Echsen, Schlangen und Haien vorkommt. Subversiv entsendet Perkins Gilman ein Team aus drei Männern in diese Zivilisation, die alles an Vorurteilen mitbringen, was man 1915 (und teils auch heute noch) im Gepäck hat. Sie gehen davon aus, auf Stillstand, Stutenbissigkeit und eine Fixierung auf die leiblichen Kinder zu stoßen und werden eines Besseren belehrt: Statt patriarchaler Hegemonie durchdringt ein gemeinschaftliches, auf Fortschritt und die Zukunft ausgerichtetes Konzept von Mütterlichkeit die Gesellschaft.

In den 1970ern, der zweiten Welle feministischer Science-Fiction, wurde stärker ausgelotet, welche Rolle Sexualität und Körperlichkeiten spielen. Während bei Perkins Gilman alle Frauen asexuell sind und eine „Abweichung“ wie lesbische Sexualität durch eugenische Verweigerung von Fortpflanzung ausgelöscht wurde, waren die Texte der offen lesbisch lebenden Joanna Russ ein Befreiungsschlag für queere Menschen. Russ war – bereits vor Judith Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ – der Ansicht, dass wir keine Möglichkeiten haben, herauszufinden, was „Geschlecht“ wirklich bedeutet, da unsere Realität unsere Wahrnehmung dessen immer wieder verzerrt und verfremdet. In „The Female Man“ konfrontiert Russ Leser*innen mit vier verknüpften Parallelwelten, von denen in einer ein futuristischer Geschlechterkrieg tobt, in dem Frauen wie Männer sexualisierte Gewalt ausüben. In einer weiteren Parallelwelt, auf dem Planeten Whileaway, sind die Männer vor vielen Generationen ausgestorben und werden für die Reproduktion nicht mehr benötigt. In der Kurzgeschichte „When it changed“ landen wieder Männer auf Whileaway, und die Geschichte verbreitet die unheilvolle Ahnung, dass die Veränderung, die das Wieder-Hinzufügen eines weiteren Geschlechts zu einer funktionierenden egalitären Gesellschaft zur Folge hat, keine gute sein wird.

In „Die linke Hand der Dunkelheit“ hatte es sich Ursula K. Le Guin zum Ziel gesetzt, eine Zivilisation ohne Geschlecht zu schreiben. Sie ist selbst noch mehrmals in ihrem Leben in Essays und Vorträgen zum Winterplanet Gethen zurückgekehrt, denn sie reflektierte selbst, an welchen Stellen es ihr nicht in letzter Konsequenz gelungen ist: Durch die Benutzung des generischen Maskulinums in den Phasen der Ungeschlechtlichkeit, in der sich die Bewohnenden von Gethen den überwiegenden Teil ihres Lebens befinden, haben wir die Tendenz, auch diese Gesellschaft in einem männlichen „Normalzustand“ zu begreifen, von dem z.B. die (weiblich gelesene) Schwangerschaft des Königs die Ausnahme darstellt. „Die linke Hand der Dunkelheit“ ist nach wie vor lesenswert und neben allen Dingen, die das Buch richtig macht, auch ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, Geschlecht wirklich auch für die Lesenden aufzulösen.

Hierarchie und Intelligenz – Octavia Butler

Geschlecht spielt in das Paradox hinein, das Octavia Butler in ihrer „Xenogenesis“-Trilogie („Dawn“, „Adulthood Rites“, „Imago“, 1987-1989) formuliert: Durch die Kombination von hierarchischem Denken und Intelligenz wird sich die Menschheit auf die eine oder andere Weise unweigerlich auslöschen. In „Dawn“ hat sie es im Kalten Krieg bereits fast geschafft, auf der Erde wütet eine atomare Apokalypse, als die Oankali, außerirdische Nomaden, unseren Planeten erreichen und Überlebende retten. Um dem Paradox, das auch nach der Rettung zuverlässig zur Auslöschung führen wird, zu entgehen, gibt es nur einen Weg: Die Menschen müssen die Lebensweise der Oankali und auch das Zusammenleben in Dreierbeziehungen aus Männern, Frauen und einem heilenden, Gene kombinierenden dritten Geschlecht annehmen. Aber besonders die überlebenden Männer empfinden diese Form der Veränderung herabwürdigend, sehen das heteronormative Konstrukt von Besitz in Gefahr und bewaffnen sich als Widerstand gegen das eigene Überleben, wo immer es geht. Die Trilogie saugt Leser*innen auch fünfunddreißig Jahre nach ihrem Erscheinen in ihre spekulative Welt ein, in der wir uns entweder tiefgreifend verändern müssen – oder aussterben.

Neuere Auseinandersetzungen mit dem Patriarchat

Nach wie vor wird in der Phantastik Umkehrung gern genutzt, um abzubilden, wie kulturell geprägt statt naturgegeben unsere binäre Geschlechterordnung ist – so zum Beispiel in Kameron Hurleys „Worldbreaker Saga“. Dort kollidieren Paralleluniversen durch die kosmische Macht von Sternen – und damit prallen auch Geschlechtervorstellungen und Konstrukte von Ehe, Dominanz und Vorherrschaft wortwörtlich aufeinander.

Auch in Naomi Aldermans „Die Gabe“ kommt es zu einer Umkehrung: Durch bloße Berührung können Frauen von einem Tag auf den anderen Schmerz verursachen und damit unter anderem sexualisierte Gewalt ausüben. Das Buch versucht, darzustellen, dass das Patriarchat auch auf körperlicher Überlegenheit beruht, macht die „Patrix“ meiner Meinung nach aber zu sehr daran und zu wenig an anderen Faktoren fest und bietet nur unzulängliche Erklärungen dazu, wie es trans Menschen in diesem Szenario ergeht.

In den neueren Auseinandersetzungen mit dem Patriarchat finden wir seltener Utopien – auch Gesellschaften, in denen Frauen herrschen und in denen nichtbinäre und trans Menschen akzeptiert werden, können von Macht und Hierarchie korrumpiert werden oder greifen auf Mittel wie Sklaverei und andere Formen der Unterdrückung zurück – innere Kämpfe, die zum Beispiel in Nora Bendzkos „Die Götter müssen sterben“ überzeugend dargestellt sind.

In Jenny-Mai Nuyens „Die Töchter von Ilian“ blicken hierarchische Gesellschaften auf eine egalitäre Vergangenheit und ihre Artefakte zurück – die einst ihre Kraft stetig vergrößerten, wenn sie verschenkt wurden. Doch ist die gewaltsame Macht übereinander erst entdeckt, kann sie nicht wieder ent-entdeckt werden, und so schildert Nuyen die schmerzhafte Geschichte vieler kleiner Sündenfälle, die matriarchale Kulturen ebenso mitreißen wie patriarchale.

Die Tendenz vieler Bücher, die sich mit der „Patrix“ und ihren vielen Facetten beschäftigen, schildern das Patriarchat als Status Quo, der durch das Handeln der Hauptfiguren ins Wanken gerät. So zum Beispiel der durch Sprachmagie ausgeübte Kapitalismus in R.F. Kuangs „Babel“ oder der Ausschluss von Frauen aus magischen und öffentlichen Betätigungen in C.L. Polks Regency-Fantasy „Der Mitternachtspakt“.

Ich denke, es werden nicht ohne Grund gerade eher fiktive neuralgische Punkte in soziokulturellen Entwicklungen in den Mittelpunkt gestellt, statt antipatriarchale Utopien geschrieben: Erstens wissen wir immer noch nicht so richtig, wie das eigentlich geht – sich aus der Patrix zu verabschieden. Und zweitens kann uns diese Spielart der Phantastik mit einer Hoffnung zur Handlungsfähigkeit ausstatten. Vielleicht befinden auch wir uns an solch einem Punkt – und können den Turm zum Einsturz bringen.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de

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