Mehr Phantastik

Smash the Patriarchy – in der Phantastik

Coverausschnitt "Ich, Hannibal", Seitenprofil der Hauptfigur des Romans, weiblich gelesene Frau mit langen Haaren und Lorberkranz auf dem Kopf.

Judith Vogt, 08.02.2024

Recherche in der Phantastik? Ja bitte! Aber nicht nur Kampfszenen, Handwerksbeschreibungen, Mode und Essen wollen recherchiert werden – um als Phantastikautor*innen über die Hierarchien, Zwänge und Regeln unserer Gesellschaft  zu schreiben oder uns schreibend von ihnen lösen zu können, müssen wir sie erst durchschauen. Habt ihr Bock? Dann kommt mit auf Recherchereise durchs Patriarchat!

Patriarchat – die Herrschaft des Vaters

Ich fasse mich halbwegs kurz, denn die meisten von euch werden nicht erst seit dem Barbie-Movie wissen, was das Patriarchat ist: Als Patriarchat bezeichnen wir ein Gesellschaftssystem, das von mächtigen Männern beherrscht wird – wörtlich bedeutet es „Herrschaft des Vaters“. Wir leben heute noch in einer patriarchalen Gesellschaft, auch wenn die mächtigen Männer nicht mehr notgedrungen Väter bzw. Familienoberhäupter sind. Ein paar knackige Zahlen: An den Spitzen deutscher Unternehmen stehen mehr Christians als Frauen, Frauen verrichten täglich 52 % mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer, Frauen erzielen im Laufe ihrer Erwerbstätigkeit im Schnitt halb so viel Geld wie Männer und auch bei vergleichbarem Lebenslauf, gleicher Qualifikation und gleicher Wochenarbeitszeit existiert ein Gender Pay Gap von 7%. Zu diesem Ungleichgewicht im Arbeitsleben kommt die Statistik zu patriarchalen Gewalttaten – der schlimmsten Form von Gewalt, dem Femizid, bei der ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin tötet, fielen im vergangenen Jahr (2023) 187 Frauen und Mädchen (und als weiblich erfasste Personen) zum Opfer.

Patriarchale Vorstellungen von Familie, Partnerschaft, Kompetenz in Care-Kontexten und Arbeitskontexten und vieles mehr begleiten uns schon von klein auf – wir sind damit aufgewachsen und haben sie kulturell in uns aufgesogen. Aber sie sind nicht selbstverständlich oder gar biologisch. Damit eine patriarchale Gesellschaft entstehen kann, müssen ein paar Faktoren vorhanden sein:

  1. Eine Zweiteilung in anhand von Körperlichkeit bestimmte Geschlechter, nämlich Männer und Frauen, und die damit verbundene Zuordnung von scheinbar gottgegebenen Kompetenzen und Fähigkeiten.
  2. Der implizite oder explizite Zwang zur Norm einer heterosexuellen, monogamen Partnerschaft und dem Gründen einer Kernfamilie mit dem Mann als „Ernährer“.
  3. Besitzdenken, bei dem z.B. Besitz, Geld, Grundstücke, Immobilien, aber auch der Familienname vererbt werden, und zwar vorzugsweise vom Vater an den Sohn. In dieses Besitzdenken fielen und fallen auch Ehefrau und Kinder.

Die Kultkontinuität toxischer Männlichkeit

Damit das Patriarchat gelingen kann, muss außerdem gewährleistet sein, dass männlich konnotierte Tätigkeiten und Eigenschaften gesellschaftlich aufgewertet werden, während alles Weibliche abgewertet wird. Das wird durch ein Wertesystem sichergestellt, das „männliche Männer tun männliche Dinge™“ im Kern hat und auf eine Tradition zurückblicken kann, die diverse Zeitenwenden überdauert hat. Innerhalb dieses Wertesystems werden Ausnahmen wie „die kämpfende Frau“ kulturell glorifiziert (sofern sie Ausnahmen bleiben), während Männer in „Frauenberufen“, körperlich als unterlegen wahrgenommene Männer, unfreie Männer, trans Frauen und andere bei der Geburt mit dem privilegierten Marker „Mann“ versehene Menschen, die dieser Rolle nicht gerecht werden, verspottet, geächtet oder sogar verletzt und getötet werden.

Seit Jahrtausenden wird Männlichkeit in Europa mit Krieg assoziiert, und in vielen Gesellschaften waren Kriege um Besitz, Grenzen, Sklav*innen und Ressourcen der legitimierteste Weg, sich als (freier) Mann zu beweisen, gesellschaftlich aufzusteigen, ja, „Karriere“ zu machen.

Eine zweigeschlechtliche Ordnung, in der Männer durch Kriege ihre Macht erlangen oder behaupten, dient in unseren Breiten also schon seit der Antike dazu, das Patriarchat im Sattel zu halten. Natürlich ist dieses Bild im Wandel – auch wenn Krieg ein Instrument mächtiger Männer bleibt und die Leidtragenden nach wie vor Frauen, weiblich markierte Menschen, Kinder, aber auch machtlose Männer sind, befeuern gewalttätige Konflikte längst nicht mehr auf die Art Karrieren, wie das z.B. in der römischen Antike (vgl. „Schwarze Tage“ von Michael Sommer) und im Viking Age (vgl. „Children of Ash and Elm“ von Neil Price) der Fall war.

Zu reflektieren, wie Männlichkeitsbilder historisch mit Krieg und Gewalt interagiert haben, lohnt sich für Fantasyschreibende aber nach wie vor, denn gerade die klassische Fantasy läuft ständig Gefahr, kriegerische Tätigkeiten aufzuwerten und weiblich konnotierte Tätigkeiten abzuwerten. Die Prinzessin, die die Stickarbeit hinwirft und sich ein Schwert schnappt, ist ein Trope, das auch mich geprägt hat, aber das wir kulturell durchleuchten sollten, wenn wir gedenken, es weiter zu verwenden. Was ist zum Beispiel einzuwenden gegen eine Prinzessin, die gern fechtet und gern stickt? Oder – ich weiß, revolutionär! – mehrere weibliche Figuren, die ganz unterschiedliche Hobbys haben und einander nicht fürs Sticken shamen!

Die Lösungen sind manchmal einfach, aber als in einer „Väterherrschaft“ aufgewachsene Menschen fällt es uns nicht immer leicht, patriarchale Fantasy-Konstrukte als solche zu erkennen. Was dabei helfen kann? Recherche!

Die Ausnahme zur Regel

Die Geschlechterverhältnisse waren natürlich auch in finstersten patriarchalen Zeiten nie so allmächtig und auch nicht so simpel, wie ich sie weiter oben geschildert habe. Da zu allen Zeiten trans, nichtbinäre und inter Menschen existiert haben, war die Zweiteilung anhand körperlicher Merkmale immer schon fehlerbehaftet. In vielen Kulturen wurden und werden Abweichler*innen durch Zwänge, Gesetze und Normen dennoch in eine von zwei Schubladen gezwängt, aber kein System ist lückenlos. Allein an Gesetzen lässt sich ablesen, welche Form von Übertretungen der Norm häufig genug waren / sind, um sie zu sanktionieren. Aber auch diese Gesetze treffen meist Männer, weil deren Devianz einem patriarchalen System gefährlicher werden kann. Dadurch wurde beispielsweise männliche Homosexualität und Crossdressing von Männern und männlich markierten Personen in vielen europäischen Kulturen mit Strafe belegt, während weibliche Homosexualität unsichtbar gemacht wurde. Denn Frauen und weiblich markierte Personen als Unterlegene im patriarchalen System blieben weiter dem Vater und dem Ehemann und somit der Reproduktion ausgeliefert, egal, welche Sexualität sie hatten.

Eine Form von Empowerment, in der die Phantastik noch mehr schwelgen kann als andere Genres, sind daher die Geschichten, in denen die Dinge nicht so normativ laufen, wie der Rest der Gesellschaft es gern hätte. Und wenn ihr neben Amazonen und Schildmaiden noch weitere Grenzgänger*innen der Geschichte sucht, schaut doch mal in „Femina“ von Janina Ramirez: „Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen“, die sich um geistliche, schreibende, künstlerische, herrschende, spirituelle und ketzerische Frauen dreht.

Wenn ihr historische Beispiele für alternative Konzepte von Familie und Sorgearbeit sucht, empfehle ich „Utopien für den Alltag – Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat“ von Kristen Ghodsee, das auf 2000 Jahre gemeinschaftlicher, utopischer Experimente im menschlichen Zusammenleben zurückblickt.

Der Blick zurück ist wichtig, weil wir allzu oft …

Die Gegenwart mit der Vergangenheit verwechseln

Über unserem Blick auf die Geschichte liegt immer der Schleier der Gegenwart. Wir tendieren dazu, die Kontexte, mit denen wir aufgewachsen sind, als allgemeingültig anzunehmen, und daraus entstehen Annahmen wie „man the hunter / woman the gatherer“, die mittlerweile widerlegt sind. Selbst in vorzeitliche Kontexte tradieren wir eine Arbeitsteilung, die Frauen das Private, das Innere, das Familienleben, die Erziehung der Kinder zuschreiben und Männern alles, was gemeinhin als Heldentat empfunden wird. Und das gilt nicht nur für die Morgendämmerung des Homo sapiens: Wir stülpen die Marker „Hausfrau und Mutter“ auch beispielsweise über Frauen im Mittelalter, obwohl erst die Neuzeit „Die Erfindung der Hausfrau“ mit sich brachte, wie Evke Rulffes in ihrem gleichnamigen Buch deutlich macht.

Den Versuch, das westlich-europäische Patriarchat mit Evolutionsbiologie, Geschichts-, Religions- und Gesellschaftswissenschaften zu erklären, unternehmen außerdem Carel van Schaik und Kai Michel in „Die Wahrheit über Eva: Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern“, in dem sie über die für den Menschen im Gegensatz zum Menschenaffen lebensnotwenige Kooperation der Geschlechter berichten und eine Art Chronologie der Trennung in zwei Schubladen skizzieren, die an vielen Stellen eine Fundgrube für patriarchatsdisruptive Geschichten sein kann. Auch Angela Saini begibt sich in „Die Patriarchen“ auf die „Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft“ und liefert ein umfassendes kulturelles Bild ab, das vor Jahrtausenden beginnt und auch heute noch überall auf der Welt widerständiger ist, als uns lieb ist.

Utopischer Schreiben!

Was auf Lesungen die wohl häufigst gestellte Frage ist: „Woher kriegen Sie eigentlich Ihre Ideen?“ Was nie jemand fragt: Woher kommen utopische Ideen in einer patriarchalen Gesellschaft? Ein Buch, das meiner Meinung nach gewaltiges utopisches Potenzial hat, ist „Alle Zeit“ von Teresa Bücker. Wer hat Zeit, wer hat sie nicht, wie verknüpft ist Zeit mit Geld mit System und warum kann mit der 40-Stunden-Woche niemals eine Gleichstellung der Geschlechter erreicht werden? Aber am meisten für Phantastikautor*innen geeignet: Wie könnte eine zeitgerechte Gesellschaft aussehen, in der Sorgearbeit sichtbar ist und Anerkennung findet, Ehrenamt und Engagement Teil des guten Lebens sind und Freizeit wirklich freie Zeit, die allen zusteht, auch der Mutter von drei Monate alten Drillingen oder der pflegenden Tochter eines demenzkranken Vaters?

Und wenn ihr es ein bisschen konkreter fantastisch braucht, schaut doch für feministische Sichtweisen auf Science-Fiction und Fantasy in Kameron Hurleys Essayband „The Geek Feminist Revolution“, für Ideen zu antirassistischem Weltenbau in „The Dark Fantastic“ von Ebony Elizabeth Thomas und zum Erkennen ableistischer Motive in der Phantastik in „Entstellt – Über Märchen, Behinderung und Teilhabe“ von Amanda Leduc!

Und wenn ihr dann noch etwas braucht, das euch neuen Mut zum Schreiben gibt, dann gönnt euch Kai Cheng Thoms poetische Texte in „I Hope We Choose Love – A Trans Girl’s Notes from the End of the World“ – und ganz besonders den Text „A School For Storytellers“:

The story is a dream of the revolution, but it is not a revolution on its own. The people must make their own revolutions. The story is a dream of love and the seed of love and a map for love, but it takes people, not stories, to love each other.“

 

In der nächsten Woche stellt Judith Vogt euch hier fiktionale Phantastikbücher vor, die einen Ausweg aus dem Patriarchat bieten.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de

Unsere aktuellen Titel