Lena Richter, 26.01.2024
Welche Rolle spielt eigentlich Alkohol in der Phantastik? Anscheinend eine ziemlich große, wie Lena Richter zu berichten weiß. Denn er ist dort allgegenwärtig. Kaum ein Buch, kaum ein Film oder eine Serie ohne berauschende Getränke. Selbst in utopisch anmutenden Zukunftsszenarien.
Corellianischer Brandy, Pangalaktischer Donnergurgler, Alter Wingert – wenn wir aufgefordert werden, einige fiktive Getränke aus der Phantastik zu nennen, fällt den meisten von uns vermutlich etwas ein. Zum Setting passende Drinks sind ebenso ein nützliches und oft verwendetes Weltenbau-Werkzeug wie auch Teil von Themenpartys, die phantastische Welten feiern und für einen Abend in unsere Realität holen wollen. Bis auf ziemlich wenige Ausnahmen haben die Getränke eins gemeinsam: Es ist Alkohol drin.
Alkoholkonsum ist eines dieser Dinge, die in unserer Gesellschaft so fest verankert sind, dass sich das Abweichen davon für viele Menschen seltsam anfühlt, ein weiterer Baustein der ungeschriebenen Vorstellung von Normalität, die sich über Jahrhunderte etabliert hat. Das wissen alle, die aus welchem Grund auch immer bei einem gesellschaftlichen Beisammensein lieber Cola, Saft oder Wasser trinken und dann genötigt werden, dies zu erklären oder zu begründen. Und wie so viele andere Dinge findet sich diese Normalitätsvorstellung auch in einem erschlagenden Großteil unserer (phantastischen) Geschichten wieder. Schon im Gilgamesch-Epos wird Bier serviert, und in den letzten Jahrtausenden haben viele weitere alkoholische Getränke ihre Rolle unseren Geschichten gespielt.
Nun fragt ihr euch vielleicht, was will Lena jetzt schon wieder, soll jetzt auch das noch infrage gestellt werden, war die Kritik an Kapitalismus, Ableismus, Patriarchat, Rassismus und Heteronormativität denn noch nicht genug? Aber so ist das mit dem Nachdenken über Traditionen und Erzählungen, wenn man einmal angefangen hat, hört man gar nicht wieder auf. Und gerade weil Alkohol für so viele Menschen untrennbar mit Zivilisation und gesellschaftlichen Traditionen verknüpft ist, finde ich es interessant, auch über diesen Aspekt mal nachzudenken. Zumal er nicht wie andere zivilisatorische Errungenschaften wie sauberes Wasser, Kleidung oder dergleichen im Grunde gut und hilfreich ist, sondern inzwischen ziemlich klar ist, dass es eigentlich am besten wäre, keinen Alkohol zu trinken. Trotzdem halten wir daran fest, in der Realität und eben auch in unseren Erzählungen. Im Weltenbau dient Alkohol uns als vertraut-fremdes Element, wir können alkoholische Getränke genauso gut benutzen wie Essen, Kleidung oder Musik, um schnell und prägnant eine Vorstellung von einem Setting zu vermitteln.
Huch, die Normalität – Eine Selbsterkenntnis
Anfang 2023 las ich Mary Robinette Kowals The Spare Man, eine Detektivgeschichte auf einem Luxus-Raumschiff. Dort sind die Kapitel alle nach Cocktails benannt, was sehr cool und passend ist, und entsprechend wird auch im Buch Alkohol konsumiert. Fast jede Interaktion beinhaltet, dass alkoholische Getränke gereicht werden, an einer Stelle wird der leicht snobbige Alkoholkonsum der Hauptfiguren sogar plotrelevant. Im Austausch mit anderen Personen, die das Buch gelesen hatten, ging es auch um den Alkoholkonsum, denn ich habe mir beim Lesen mehrfach gedacht: Das ist alles ganz schön viel, was die da trinken. Selbst im angeschlagenen Zustand oder nach viel zu wenig Schlaf. Nun will ich gar nicht das Buch kritisieren, denn erstens beinhalten die Cocktail-Kapiteleinleitungen auch alkoholfreie Versionen, zweitens gibt es im Nachwort extra eine halbe Seite dazu, dass der Spaß am Cocktails mixen auch ohne Alkohol möglich ist und bitte niemand je zum Alkoholkonsum gedrängt werden sollte, und drittens passt all das Cocktailtrinken bei einem Detektivfall auf einem Luxus(raum)schiff einfach total gut ins Setting.
Wie es aber der Zufall so will, las ich die ersten Kapitel von The Spare Man, während ich gerade noch mal die Druckfahne meiner Novelle durchging. Und mir fiel auf: Huch, auch da wird ziemlich oft Alkohol konsumiert. Mit weit weniger Zelebrieren und eher als beiläufige Erwähnung, aber der Inhaltshinweis Alkohol findet sich vor fast jedem Kapitel. Der Alkohol spielt keine entscheidende Rolle, aber es gibt sie, die Szenen, in der die Hauptfigur in einer verzweifelten Situation in einer Bar Schnaps hinunterkippt, oder in der eine Flasche besonders teurer Alkohol als Bestechung dient. Nun mag man denken, das sei vielleicht der eigenen Lebensrealität entsprungen, aber das ist nicht der Fall. Es ist nämlich so, dass ich aus gesundheitlichen Gründen eigentlich keinen Alkohol trinke. (Uneigentlich nippe ich einmal im Jahr an einem alkoholischen Getränk, kriege sofort Migräne davon und lasse es wieder bleiben.) Und es ist weiterhin so, dass mir die Allgegenwärtigkeit von Alkoholkonsum und die Verharmlosung von Alkoholismus immer wieder auffällt, denn wer nicht trinkt, kennt ja die Fragen, das Ablehnen-müssen, das Die-einzige-Person-mit-anderer-Flasche-sein. Wobei ich zum Glück ganz selten in die Situation komme, weil meine Freund*innen entweder selber nicht oder wenig trinken oder einfach total unkompliziert damit umgehen, dass ich keinen Alkohol trinke.
Ich habe den Alkohol also nicht in meine Novelle geschrieben, weil es Teil meines Alltags wäre oder weil ich Alkoholkonsum unkritisch sehe. Und auch wenn ich es mir selbst im Nachhinein damit schönreden kann, dass die ziemlich cyberpunk-kapitalistische Galaxis, in der das Ganze spielt, ganz bestimmt dafür sorgen würde, dass es weiter legale Rauschmittel gibt, muss ich doch eigentlich gestehen: Ich habe das da reingeschrieben, weil es für mich „normal“ ist. In einer Kneipenszene muss es Alkohol geben, den Weltenbau veranschaulicht man gut mit der Beschreibung von Schnaps und Likör, und in emotionalem Aufruhr setzt man sich eben an den Tresen und haut sich drei Gläser Hochprozentigen rein.
Und das ist auch alles gar nicht weiter schlimm, aber im Sinne der Progressiven Phantastik finde ich es immer sehr interessant, Erzähltraditionen zu hinterfragen und die vermeintliche Normalität mal etwas genauer zu beleuchten. Und stellte daher mit amüsiertem Interesse fest: Hey, da ist mir doch glatt eine Komponente im Weltenbau durch die Lappen gegangen. Eine weitere Default-Einstellung, über die man nachdenken kann.