Emma Braslavsky, 18.01.2024
Über das Weltall zu schreiben heißt auch immer, über unsere eigene Gesellschaft zu schreiben: Es entsteht das, was man als Overview-Effekt bezeichnet – ein frischer Blick auf die Geschichte der Menschheit und den Zusammenhang der Dinge.
Habt ihr euch schon gefragt, wozu die Menschheit sich noch so viel außerirdisches Leben einfallen lässt, um in teils ellenlangen Geschichten davon zu erzählen, als ob es hier auf der Erde nicht genug zu entdecken gäbe? Es soll geschätzt eine Trillion Tiere auf diesem Planeten leben (Quelle: WDR), allein ein Kubikmeter Humus bewohnen so eintausend Milliarden Individuen an Bodenorganismen. Dazu kommt eine Viertelmillion bekannter Pflanzenarten. Jedes Jahr kommen neue Arten hinzu. Trotzdem reizen erwachsene Menschen Abenteuer mit extraterrestrischen Zivilisationen oft mehr als Fabeln über Ameisen, Biber, Hepatitisviren oder Pseudomonaden.
Overview-Effekte wurden bislang nur mit der jungen Raumfahrt in Verbindung gebracht. Der erste davon wird auf die Apollo 8-Mission zurückgeführt, insbesondere auf das Foto „Earthrise“, aufgenommen von William Anders mit einer Hasselblad-500-Kamera am 24. Dezember 1968 während der vierten von zehn geplanten Umkreisungen des Mondes. Overview-Effekte sind aber mindestens so alt wie die ersten Geschichten über Reisen in den Weltraum. Die Literatur oder das Erzählen dient uns seit Jahrtausenden als mächtiges Holodeck für die Erforschung des uns Unbekannten – natürlich mit dem Ziel, dabei immer einen frischen Blick auf den Zustand der Menschheit auf der Erde zu werfen. Diese Erfahrungen beschränken sich in der heutigen deutschsprachigen Belletristik vorrangig auf Werke aus der aktuellen Science Fiction-Literatur, die aber zusammen mit der Fantasyliteratur nur (aber immerhin!) 5,7 Prozent des Gesamtumsatzes der Warengruppe Belletristik (Stand 2022) ausmacht (Quelle: Statista).