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Neil Gaiman und Co. – Wir müssen aufhören, Menschen auf ein Podest zu stellen

Bild des Orion Nebels, eine weiße Lichtquelle leicht links in der Mittel umgeben von einem lilafarbenen Nebel vor schwarzem Weltall gepunktete mit weißen Sternen
© WikiImages/Pixabay

Kommentar

Markus Mäurer, 09.07.2024

Gegen Neil Gaiman wurden schwere Anschuldigungen erhoben. Was es damit auf sich hat und warum wir als Gesellschaft aufhören sollten, Menschen auf ein Podest zu stellen, erklärt uns Markus Mäurer in seinem Kommentar.

Content Warning: sexueller Missbrauch

In der letzten Woche wurde im Rahmen eines vierteiligen Podcasts mit dem Titel Master: the Allegations Against Neil Gaiman bei Tortoise Meida bekannt, dass zwei Frauen - von denen eine, im Podcast Scarlett genannt, für Neil Gaiman als Nanny, gearbeitet hat, während die andere, K. genannt, ihn bei einer Signierstunde kennengelernt habe - ihn beschuldigen, sich ihnen gegenüber unangemessen verhalten und sexuell genötigt zu haben. Das sind jetzt erst mal Vorwürfe, die im Raum stehen, aber nicht juristisch belegt sind. Gaiman wurde noch nicht verurteilt, es wurde keine Anklage erhoben, eine Anzeige gegen Gaiman soll Scarlett bereits 2022 bei der Polizei in Neuseeland gestellt haben, deren Ermittlungen nach eigener Aussage noch laufen. In vier Folgen rekonstruiert der Podcast mit Hilfe der betroffenen Frauen, ihrem Umfeld, Experten und zahlreichen WhatsApp- und Sprach-Nachrichten das Verhalten Gaimans und seine Beziehung zu den Frauen (vor allem Scarlett). Der Podcast kann auch bei Spotify gehört werden.

Was zwischen ihm und den Betroffenen genau vorgefallen ist, wissen nur die beteiligten Personen, Gaiman streitet die sexuellen Übergriffe ab. Aber er hat, wie aus dem Podcast und den dort abgespielten Sprachnachrichten von ihm hervorgeht, zugegeben, mit einer 40 Jahre jüngeren Nanny, also seiner Angestellten, direkt am ersten Arbeitstag abends nackt gebadet, gekuschelt ("cuddled") und geknutscht ("made out") zu haben. Selbst wenn wir die Vorwürfe der sexuellen Nötigung außen vor lassen, ist ein solches Verhalten von einem Arbeitgeber und Menschen, der sich aufgrund seiner Berühmtheit in einer klaren Machtposition befindet, gegenüber einer so viel jüngeren Angestellten mehr als unangemessen.

Für viele (vor allem Fans von Neil Gaiman) kommen diese Enthüllungen als Schock, denn Gaiman hat innerhalb der Buch- und Comiccommunity und auch der TV-Serienwelt, einen Status wie nur wenige andere. Er gilt als Ally von marginalisierten Gruppen, prominenter Fürsprecher für trans Rechte, Feminismus und einer progressiven Haltung. Und dafür wurde er von uns auf ein Podest gestellt und idealisiert (so wie David Bowie im Musikbereich, der übrigens seine ganz eigene problematische Vergangenheit hat). Und befinden sich Menschen erst einmal auf einem solch hohen Podest, ist es schwierig, sie dort wieder runter zu holen. Denn je renommierter der Status einer solchen Person ist, desto schwieriger ist es zu glauben, dass sie sich ein solch eklatantes Fehlverhalten hat zuschulden kommen lassen. Und für die Betroffenen, bzw. die Opfer der Taten, wird es umso schwieriger, dass ihnen geglaubt wird. Vom Backlash aus der Fancommunity ganz zu schweigen.

Die Kultur des Schweigens

Die Vorwürfe gegen Gaiman reichen teils über 20 Jahre zurück. Im Filmbusiness, der Musikindustrie aber auch der Buchszene herrschte lange eine Kultur des Schweigens. Teils aus Angst (um die eigene Karriere), teils aus Ignoranz, Gleichgültigkeit oder sogar Kameradschaft.

Bei jemandem wie Harvey Weinstein, der seit jeher als Choleriker und Rüpel bekannt ist, dürfte eine Verurteilung am Ende leichter gefallen sein als bei Leuten wie Neil Gaiman oder Joss Whedon, die als Verbündete von marginalisierten Menschen gelten.

Und hier sehe ich uns als Gesellschaft und Fandom in der Verantwortung, Menschen eben nicht auf ein solch hohes Podest zu stellen, dass sie fast unantastbar macht. Wir sollten uns im Klaren sein, dass auch Menschen, die sich in 90 Prozent der Fälle cool verhalten, ein cooles Werk erschaffen haben und überwiegend coole Äußerungen von sich gaben, trotzdem zu schlimmen Dingen fähig sind. Es ist wichtig, Menschen als Vorbilder für eine progressive Gesellschaft zu haben, aber der bewundernde Blick auf diese Menschen sollte nicht ihre Schwächen und ihr Fehlverhalten ignorieren.

Als sich so langsam herauskristallisierte, dass J. K. Rowling eine hasserfüllte und niederträchtige Meinung zu trans Personen hat, und es sich nicht um eine einmalige Äußerung handelte, sondern um eine passioniert verfolgte Agenda, brach für viele Harry-Potter-Fans eine Welt zusammen. Andere zogen es vor, die Tragweite von Rowlings Handeln herunterzuspielen oder einfach wegzugucken.

Der Fall Marion Zimmer Bradley

Es besteht kein Zweifel daran, dass Marion Zimmer Bradley viel für den Feminismus und die Fantasy getan hat. Sie war Vorreiterin und Wegbereiterin für unzählige Autorinnen, die ihr folgten. Aber sie hat ihrem Ehemann Walter Henry Breen, der wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde, Beihilfe geleistet (was aus den Gerichtsprotokollen hervorgeht). Außerdem warf Bradleys Tochter ihr (nachdem Zimmer Bradley bereits verstorben war) vor, sie selbst und ihre Schwester missbraucht zu haben. Das hat 2014 durchaus Wellen in der Phantastikszene geschlagen, trotzdem wissen viele Leser*innen nichts davon oder es ist wieder in Vergessenheit geraten. Mir zumindest begegnen in der Phantastikszene immer wieder Empfehlungen und warme Worte zu Marion Zimmer Bradley. Einige ihrer Bücher sind weiterhin auf Deutsch verfügbar und sie hat es sogar auf die Liste der 100 besten Fantasyromane aller Zeiten hier auf Tor Online geschafft (wenn auch mit kritischer Anmerkung). Dabei liest sich Die Nebel von Avalon mit seinen ganzen sexuellen Inhalten und der Verheiratung einer Vierzehnjährigen gleich ganz anders, wenn man um diesen Kontext weiß.

Juristisch vs. Moralisch

Ein beliebtes Argument ist, dass die Personen ja nicht verurteilt worden sind. Aber als Gesellschaft haben wir nicht nur eine juristische Verantwortung, sondern auch eine moralische. Nicht jedes Fehlverhalten ist strafrechtlich relevant. Von gerechten Justizsystemen, in denen die Mächtigen, Reichen und Berühmten keinen Vorteil besitzen, sind die meisten Länder weit entfernt. Am Ende muss jeder für sich entscheiden, ob wir weiterhin eine Person durch Käufe ihrer Werke oder als Fürsprecher unterstützen wollen, die mit den Werten einer gerechten Gesellschaft, die ihre Minderheiten und marginalisierten Menschen schützt, nicht vertretbar sind. Ich habe dafür keine pauschale Lösung parat und entscheide immer im Einzelfall. Trotzdem bedarf es einer allgemeineren Lösung, da es sich hierbei immer noch um strukturelle Probleme handelt, die Fehlverhalten und Straftaten begünstigen.

Die Kunst und die Künstler*innen

"Ich trenne Werk vom Künstler", ist ein Punkt, der ebenfalls häufig angebracht wird. Aber was ist, wenn die Künstler*innen und Autor*innen ihre Kunst dafür benutzen, um anderen zu schaden?

Nicht jedes Fehlverhalten findet im privaten Rahmen statt. Rammstein haben (wie so viele Rockstars in den vergangenen Jahrzehnten) ihre Musik, ihre Konzerte und die Bewunderung der Fans offenbar aktiv für die sexuelle Ausbeutung junger Frauen benutzt. J. K. Rowling nutzt ihre Berühmtheit, um ihre anti-trans Agenda voranzutreiben, teils auch direkt in ihren Werken als Robert Galbraith (allein der Name). Joss Whedon beging sein Fehlverhalten am Arbeitsplatz, während der Erschaffung seiner Werke.

Warum soll ich tun, was die Künstler*innen selbst nicht tun? In meinen Augen ist das nur eine Ausrede, weil jene, die Kunst vom Künstler trennen, nicht auf deren Musik, Bücher, Filme usw. verzichten möchten. Es ist reiner Egoismus, der jegliche gesellschaftliche Verantwortung von uns als Konsumenten und Fans ausblendet. Rape-Culture, ein Klima der Angst im Umfeld, die Kunst des Wegsehens und Ignorierens, das sind alles strukturelle Probleme, die auch auf einer politischen Ebene angegangen werden müssen, aber das entbindet uns als Einzelpersonen nicht davon, hinzusehen, etwas zu sagen oder gar zu unterbinden, wenn wir solche Vorfälle bemerken. Und es stellt jede*n Einzelne*n von uns vor eine moralische Entscheidung, wenn es darum geht, solche Künstler*innen weiter zu unterstützen.

Ich bin in meiner Jugend z. B. großer Fan von Rammstein und Marilyn Manson gewesen, besitze zahlreiche Alben, habe sie live gesehen und finde die Musik teilweise immer noch super. Aber ich höre sie nicht mehr, weil ich sie, aufgrund der bekannt gewordenen Vorfälle nicht mehr ertragen kann. Aber wo die Grenze ziehen? David Bowie und Jimmy Page hatten alle als erwachsene Rockstars Sex mit einer Dreizehn bzw.. Vierzehnjährigen. Ich höre die Musik dieser Menschen weiterhin, das ist meine persönliche Entscheidung für diese Einzelfälle, aber ich rede auch darüber. Es ist seit Jahrzehnten (zumindest einem kleinen Teil der Öffentlichkeit) bekannt, was diese Musiker getan haben, aber die Mehrheit weiß es nicht. Doch solange über solche Fälle geschwiegen wird, solange sie als „so war das damals eben“ abgetan werden, wird sich nichts nachhaltig ändern.

Kürzlich wurde eines von mehreren Urteilen gegen Harvey Weinstein aufgehoben, Johnny Depp dreht wieder Filme, Christano Ronaldo wurde bei der aktuellen Fußball-EM wieder von vielen bewundert. Seit #metoo gibt es mehr Konsequenzen für Männer, die Fehlverhalten an den Tag gelegt und anderen Menschen Schlimmes angetan haben, aber es reicht noch lange nicht aus, und sie sind in den wenigsten Fällen wirklich nachhaltig. Und solange sich hier nichts ändert, wird es weiter zahllose sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen, missbräuchliches Verhalten, Mobbing und Gewalt gegen Frauen und Menschen in schwächeren Positionen geben, ebenso wie die Verbreitung von hasserfüllten, menschenfeindlichen Meinungen, die auf Dauer in reale Gewalt umschlagen kann.

Geniekult

Kunst darf unbequem sein. Sie darf herausfordern, den Status Quo infrage stellen, der Gesellschaft Unbehagen bereiten. Aber deshalb sollten wir den Künstler*innen nicht alles durchgehen lassen. Nicht diesem Geniekult anhängen, dass große Kunst nur aus Extremen, aus Schmerz und Zügellosigkeit entstehen können. Das war über Jahrhunderte eine wunderbare Ausrede für vor allem Männer in der Kunst, sich zügellos zu benehmen und persönliche Grenzen zu überschreiten. In Frankreich gibt es Autoren wie Gabriel Matzneff, die über Jahrzehnte Kinder missbraucht haben, aus ihren pädophilen Ansichten nie einen Hehl machten, aber trotzdem die ganze Zeit von der Kulturszene gefeiert wurden, weil sie „große Literatur“ hervorbrachten. Es ist nicht nur die katholische Kirche, die viel zu vertuschen hat. Ich könnte hier noch unzählige Beispiele aus dem Kulturbereich anführen.

Als Gesellschaft sollte es unsere vordringlichste Aufgabe sein, unsere Söhne so zu erziehen, dass sie keine Vergewaltiger werden oder anderweitig Gewalt gegen Frauen und andere ausüben. Und wenn solches Verhalten doch auftritt, sollte es direkt und konsequent geahndet und unterbunden werden. Die Politik sollte Rahmenbedingungen schaffen, in denen Betroffene Anzeige erstatten können, ohne erst traumatisierende Prozeduren und unprofessionelles Verhalten seitens der Beamten und vor Gericht durchstehen zu müssen.

Wir als Fans sollten aufhören, Menschen einen Status zu verleihen, der vielen schon als fast heilig gilt, damit solches Fehlverhalten, wenn es dann auftritt, nicht erstmal ignoriert, kleingeredet oder gar verteidigt wird.

Wir im Fandom sollten genauer hinschauen und dafür sorgen, dass Veranstaltungen wirklich Safe Spaces sind – und nicht, wie offenbar für Isaac Assimov und Sam Sykes,  Jagdgrund für Frauen. Die Phantastikszene (und insbesondere wir Männer) sollten nicht schweigend zusehen, sondern den Mund aufmachen, Fehlverhalten benennen und unterbinden, aufklären, und die Täter Konsequenzen für ihr Verhalten spüren lassen (ohne gleich einen Online-Mob loszutreten). Es kann nicht sein, dass jahrzehntelang immer wieder solche Skandale und Übergriffe enthüllt bzw. bekannt werden, ohne dass sich strukturell und nachhaltig etwas ändert.

Es ist gut, Vorbilder zu haben, sie können uns Inspiration und Kraft geben, Menschen und Themen Aufmerksamkeit verschaffen, die sonst kaum Gehör finden. Sie befinden sich teils in Positionen, in denen sie etwas verändern können. Aber es sollte keine einseitige, unkritische Heldenverehrung sein. Wir müssen bereit sein zu erkennen, wenn unsere Vorbilder sich nicht vorbildhaft verhalten. Und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir alle nur Menschen sind, die sich nicht in Gut und Böse einteilen lassen. Wir sind ambivalente Wesen, die viel Gutes schaffen können, aber auch Schlechtes hervorbringen. Und Letzteres macht auch nicht all das Gute zunichte, das vorher oder nebenher erschaffen wurde.

Markus Mäurer

Der ehemalige Sozialpädagoge und Absolvent der Nord- und Lateinamerikastudien an der FU Berlin, der seit seiner Kindheit zwischen hohen Bücherstapeln vergraben den Kopf in fremde Welten steckt, verfasst seit über zehn Jahren Rezensionen für Fantasyguide.de, ist ebenso lange im Science-Fiction- und Fantasy-Fandom unterwegs (Nickname: Pogopuschel), arbeitet seit einigen Jahren als Übersetzer phantastischer Literatur und ist auf Tor Online für das Content Management und die Redaktion verantwortlich.

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