Yvonne Tunnat, 30.05.2024
Yvonne Tunnat hat sich angesehen, was aktuell in der englischsprachigen Science Fiction so los ist und stellt uns acht aufregende Bücher vor – die größtenteils leider noch nicht übersetzt wurden.
Hilfe, ich bin ein Klon von jemandem! Oder warte, nein, bin ich ein künstlicher Mensch? Oder wurden meine Erinnerungen entfernt und verkauft? Vermutlich bin ich nur einfach aus dem Kälteschlaf erwacht und irgendwas ist … anders.
Keine Lust mehr auf Science-Fiction-déjà-lu-Erlebnisse wie diese? Gibt es im deutschsprachigen Raum zu viel “mehr vom Gleichen" und zu wenig “mal was Neues"?
Meinem Eindruck nach schon. Im anglo-amerikanischen Raum scheinen sie da schon wieder drei Schritte voraus zu sein. In den letzten zwei Jahren sind einige Science-Fiction-Romane in den USA erschienen, die durch innovative Ideen oder packende Plots Hirn und Herz überzeugen. Oft sogar durch beides.
Die beeindruckendsten acht möchte ich gern im Folgenden vorstellen. Nur leider wurden bisher längst nicht alle davon ins Deutsche übersetzt!
The Deluge | Stephen Markley (2023): Climate Fiction von 2014 bis 2040
Was ist, wenn bis zum Jahre 2100 der Meeresspiegel noch 38 Zentimeter steigen wird? Was bedeutet das für die Küstenstädte und Inseln? Und was muss die US-amerikanische Politik der Wirtschaft bieten, damit sie einen Vollstopp hinlegt, was das Verbrennen fossiler Brennstoffe betrifft, und auf nachhaltige Industriezweige wechselt?
In The Deluge setzen sich Wissenschaft, Politik und Wirtschaft an einen Tisch und reden Tacheles, aber bis dahin brennt das halbe Land, und die andere Hälfte steht unter Wasser. Mittlerweile kenne ich als Leserin die Figuren sehr gut, kann ihre emotionalen Reaktionen nachvollziehen, kenne ihre Werte, ihren Weg, ihre schwierigsten Lebenskapitel.
Der Roman umfasst die Zeit zwischen 2014 und 2040. Die Weiterentwicklung unserer Welt – Fluten, Brandkatastrophen und beängstigende Preissteigerungen im Ernährungssektor –wird plausibel und sehr nahbar aus sechs unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Wie stellt sich das für jemanden dar, der reich ist oder sehr arm, sehr mächtig oder komplett machtlos ist, oder im Untergrund als Teil einer terroristischen Klima-Bewegung agiert?
Der Roman nutzt den zur Verfügung stehenden Platz gut aus, um sich dem Thema zu nähern, und die Perspektiven sind verzahnt, die Figuren begegnen sich, haben eine gemeinsame Vergangenheit oder/und eine gemeinsame Zukunft. Der Schluss ist realistisch, bietet aber trotz allem eine ganze Menge an Hoffnung und guten Ideen.
Was diesen Roman von anderen seines Subgenres besonders auszeichnet, ist das Ausleuchten der emotionalen, organisatorischen und wirtschaftlichen Aspekte und der beeindruckenden Nähe zu den Figuren. Das macht das Thema erst so richtig nahbar.
Terrace Story | Hilary Leichter (2023): Platz erschaffen aus anderen Dimensionen
Terrace Story besteht aus vier Teilen, die alle miteinander zu tun haben, jeder Teil fügt einem oder allen anderen wichtige Informationen hinzu, reichert die Geschichte an, beantwortet Fragen oder wirft neue auf.
Teil 1 könnte als allgemeine Phantastik durchgehen, aber spätestens mit Teil vier sind wir bei lupenreiner Science Fiction angelangt.
Im ersten Teil ziehen Annie und Edward mit ihrem Baby in eine beengte Wohnung. Als sie das erste Mal Kollegin Stephanie einladen, öffnet diese die Tür zu ihrem Schrank, und dahinter verbirgt sich eine wunderschöne, großzügige Terrasse. Lasst uns draußen essen, schlägt Stephanie vor, und Annie und Edward folgen ihr in einem Taumel von Begeisterung und Verwunderung. Doch die Terrasse erscheint nur, wenn Stephanie zu Besuch ist. Und wo befindet sich überhaupt diese Terrasse? Die böseste Pointe der Welt bildet den Schluss des ersten Teils, und erst im dritten und vierten wird mehr zu speziell dieser Welt hinzugefügt. Wie empfindet Stephanie ihre Fähigkeit, Räume zu erschaffen? Wozu führt das? Welche Art von Leben lebt sie? Und wie setzt sich das Leben für Annie fort, nach dem Schicksalsschlag in Story 1?
Teil 2 bietet Informationen zu Annies Eltern und Annies Kindheit. Die Offenheit von Annies Eltern steht im krassen Gegensatz zu Stephanies Werdegang in Teil 3, die eher Zurückhaltung erlebt und größtenteils einsam bleibt, auch aufgrund ihrer Fähigkeit.
Erst in Teil 4 erfahren wir, was aus Annie geworden ist, und aus dem Baby, nachdem sich ihre Wege in Teil 1 getrennt hatten.
In aller Kürze baut Leichter eine komplexe, gut durchdachte Welt auf. Oder waren es zwei? Eine Prämisse könnte sein: Wenn ich irgendwo etwas hinzufüge, nehme ich dann woanders etwas weg? Und gilt das nicht nur für den Raum, sondern auch für glückliche Empfindungen? Oder Menschen?
Die Kombination der interessanten Prämisse, des Weltenbaus und den eindringlichen Schicksalen, vor allem von Annie und Stephanie, die wir teilweise sehr lange verfolgen, hat mich so stark begeistert, dass ich den Roman bereits dreimal gelesen habe.