Judith Vogt, 17.02.2023
Die Science-Fiction braucht oft besonders viel Raum, um eine große, glaubwürdige Bühne für die Geschichte zu bereiten. Trotzdem erfreut sich eine kurze Erzählform vor allem im englischsprachigen Raum, aber zunehmend auch hier, immer größerer Beliebtheit: die Novelle – die ihr Setting nur anreißt, erzählerische Abkürzungen nimmt und trotzdem die große Gefühlsklaviatur bespielt.
Schon allein in der Definition hat es die Novelle auf Deutsch schwer. Es handelt sich dabei um eine kurze Erzählung – länger als eine Kurzgeschichte und kürzer als ein Roman –, die meist um ein zentrales Ereignis herum angelegt ist. Im englischsprachigen Raum wird einfach die Wortmesslatte angelegt, und demnach hat eine Kurzgeschichte bis zu 7.500 Wörtern, eine Novellette zwischen 7.500 und 17.000 und eine Novelle zwischen 17.000 und 40.000 Wörtern. Da die Frage, was denn nun was ist, sich damit sehr einfach erledigt hat, gibt es bei vielen englischsprachigen Phantastikpreisen wie den Hugo und Nebula Awards die Kategorien Novella und Novellette, während das in Deutschland so gar kein Ding ist. Novellette als zweite Zwischending-Kategorie – früher oft mit romantischer oder sentimentaler Kurzliteratur assoziiert – existiert hierzulande praktisch nicht, während Novelle sowohl im Buchhandel als auch bei den Literaturpreisen zwischen allen Stühlen sitzt. Die Novelle als Erzählform wird also vor allem im englischsprachigen Raum üppig und facettenreich bespielt, während im deutschsprachigen Raum kaum Novellen das Licht der Buchwelt erblicken.
Im Wandel der Zeiten
Bei einem Blick in die englischsprachige Science-Fiction scheint gerade die goldene Ära der Novellen angebrochen zu sein – TOR beispielsweise öffnet jährlich ein Ausschreibungsportal für Neueinreichungen von Novellen.
Es ist aber natürlich keine neue Idee, Science-Fiction in Kurzform zu schreiben – parallel zu dicken Wälzern, Trilogien und Mehrteilern waren viele einflussreiche und genreprägende Stoffe kurz und knackig. Philip K. Dicks „Träumen Androiden von elektrischen Schafen“ fällt in die Novellenkategorie, ebenso wie Ursula K. Le Guins „Das Wort für Welt ist Wald“ und Joanna Russ’ „We Who Are About To“.
Diese drei einflussreichen Klassiker schlagen auch direkt in drei verschiedene Novellenkerben und können als Paradebeispiele herhalten: „Träumen Androiden …“ ist eine eigene, abgeschlossene Erzählung, die zu keinem größeren Erzählkosmos gehört, aber in sich eine so intensive Geschichte erzählt, dass große Teile der Welt, in der Rick Deckard entflohenen Replikanten auf der Spur ist, bewusst diffus bleiben kann – noch wesentlich weniger konkret als in Ridley Scotts Adaption.
„Das Wort für Welt ist Wald“ (auf Deutsch enthalten in „Grenzwelten“) ist Teil von Le Guins SF-Erzählkosmos, dem Hainisch-Zyklus. Es lässt sich unabhängig von den „großen“ Romanen wie „Die linke Hand der Dunkelheit“ oder „Freie Geister“ lesen, alle Erzählungen dieses Zyklus sind jedoch in eine vom Fortschritt der Kommunikationstechnologie geprägte Timeline eingebettet und erweitern einander.
„We Who Are About To“ hingegen ist, wie viele der vor allem kurzen Werke von Joanna Russ, ein pointierter literarischer Meta-Kommentar, ein Beitrag zu einer Debatte also, der als Erzählung funktioniert, aber in einen größeren popkulturellen Rahmen eingebettet ist. Mit ihrer misanthropischen Raumschiffabsturz-Erzählung wollte Russ bewusst Widerspruch einlegen gegen den damals von Zimmer-Bradleys „Darkover“-Reihe bespielten Topos der Rückkehr zu einer Art „Urkultur“ mit essentialistischen und von Reproduktionsfunktion dominierten Geschlechterbildern.
Auch aktuelle Novellen lassen sich oft ähnlich einordnen: Es gibt die für sich stehenden Novellen, die eine Geschichte erzählen, die (bisher) nicht durch weitere Veröffentlichungen der Autor*innen erweitert wurden – so zum Beispiel das vielfach preisgekrönte „This is How You Lose the Time War“ von Amal El-Mohtar und Max Gladstone (Deutsch: „Verlorene der Zeiten“), in denen die beiden Zeitreiseagentinnen Blue und Red einander erst verhöhnende und dann immer intimere Nachrichten durch Raum und Zeit schreiben. „Peking Falten“ ist ein Beispiel aus der chinesischen Science-Fiction: Eine kurze, knackige dystopische Erzählung, in der verschiedene Klassen einer Gesellschaft dadurch unsichtbar werden, dass sie zu bestimmten Tageszeiten einfach in den Untergrund „weggefaltet“ werden.
Mehrere Novellen oder auch unterschiedlich lange Erzählformen zu einem großen Universum zusammenzusetzen ist ebenfalls etwas, das sich aktuell großer Beliebtheit erfreut: Das vielleicht berühmteste aktuelle Beispiel ist Martha Wells‘ aus der Sicht eines sensiblen Sicherheitsroboters erzählte „Murderbot“-Reihe, die Novellen und Romane kombiniert. Das Xuya-Universum von Aliette de Bodard setzt sich nur aus Kurzformen zusammen, mit bislang drei erschienenen Novellen und einer absurden Anzahl atemberaubend gut konstruierter Kurzgeschichten. Dabei ist das Verlockende, das Setting nach und nach auszubauen, und in jeder Kurzform nur so viel vom großen Gericht auf den Teller zu packen, wie die Lesenden brauchen, um „satt“ zu werden.
Zum dritten Ansatz, also der Erzählung, die gleichzeitig eine Art literarische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist ist, zähle ich Becky Chambers’ „To Be Taught, If Fortunate“, in dem eine, vielleicht die einzige, menschliche Raumschiffcrew in die Tiefen des Alls reist, um mit immer größerem Abstand zur Erde Planeten zu erforschen und dabei zu ergründen, wo (und ob) der eigene und der kollektive Wissensdrang endet. Chambers setzt sich mit der für ihre Werke typischen Empathie mit den Weltallkolonialismusgedanken vorangegangener Science-Fiction auseinander. Lena Richters Space Opera „Dies ist mein letztes Lied“, das von der Autorin mit dem Hashtag #DiesIstKeineHeldenreise versehen wird, ist zum einen ein Gegenentwurf zu klassischer Erzählstruktur und Erwartungshaltung und schildert Taten und Hilflosigkeit angesichts von Katastrophen, denen wir eben nicht mit dem „Elixier“, das ein*e Held*in auf der Reise erobert, entgegentreten können.