Science Fiction

Neurotechnologie trifft KI: Vom Gedanken-Lesen zur Gedanken-Kontrolle?

Coverausschnitt vom Buch "Der Gedanken-Code", in der Mitte ein Art kreisrundes Schema, das vermutlich irgendwas mit dem Gehirn und KI darstellen soll. Sehr abstrakt und schwer zu erklären.

Janosch Delcker, 19.12.2024

Was nach Science-Fiction klingt, wird zunehmend Realität: Rund um die Welt kombinieren Firmen und Forschende künstliche Intelligenz mit neuesten Erkenntnissen aus der Hirnforschung. Ihr Ziel: Den Code unseres Denkens zu entschlüsseln. Das birgt enorme Chancen, berichtet Janosch Delcker, Autor von Der Gedanken-Code – aber auch nie dagewesene Risiken.

Der niederländische Philosoph zeigte mit ausladender Geste aufs Fenster. Alle Anwesenden sollten einmal nach draußen schauen. Ein Stockwerk tiefer war der Hotelvorplatz im Berliner Stadtteil Moabit fast menschenleer. Dahinter versank die Sonne über der Spree.

"Wir halten hier dieses Treffen ab und draußen demonstriert niemand", sagte Pim Haselager, zog die Ärmel seines grünen Jacketts hoch und machte eine Kunstpause. "Glauben Sie, in zehn Jahren wird das noch so sein? Ich bin mir nicht so sicher."

Haselager, ein mächtiger Mittsechziger mit rotem Lockenkopf und ergrautem Rauschebart, forschte an der niederländischen Radboud-Universität zu Fragen im Grenzbereich zwischen Philosophie, Psychologie und künstlicher Intelligenz. Sein Vortrag leitete das Ende einer Fachtagung in Berlin ein, bei der es um Neurotechnologie für den medizinischen Gebrauch ging: "Gehirn-Computer-Schnittstellen" – besser bekannt auf Englisch als Brain-Computer interfaces, oder kurz BCI – und die Frage, wie solche Verbindungen zwischen dem Gehirn und einem Computer genutzt werden können, um Erkrankungen zu diagnostizieren und zu behandeln.

Immer wieder war der Niederländer während der zwei Tage als warnende Kassandra in Erscheinung getreten. Nun, da er seine Redezeit nutzte, um ein Resümee der Konferenz zu ziehen, sprach er etwas aus, was wie ein Damoklesschwert über der Tagung hing: "Wir als BCI-Community haben nicht mehr die Kontrolle über die Debatte rund um Neurotechnologie." Die unausgesprochene Botschaft: Es ist an der Zeit, sich das einzugestehen.

Das Zeitalter von Mind-Reading AI

Von meinem Stuhl in der sechsten Reihe sah ich es im Publikum zucken. Um mich saßen einige der führenden Kopfe im Feld; manche wirkten von der Direktheit des Niederländers überrascht, andere betreten, wieder andere ein bisschen empört.

Mich selbst hatte der Zufall auf die Tagung geführt. "Reporterglück" nennen wir Journalisten die Momente, in denen uns Recherchen unverhofft mitten ins Geschehen katapultieren. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon mehrere Jahre für Der Gedanken-Code recherchiert: meinem Buch, in dem ich zeige, wie verschiedene neue Technologien mithilfe von künstlicher Intelligenz immer besser verstehen, was wir denken und fühlen – und schon bald in viele Bereiche unseres Lebens vordringen werden.

Meine Spurensuche hatte mich einmal um die Welt geführt, durch Europa bis in den Süden Indiens und schließlich ans Ende der digitalen Welt in Argentinien. Immer tiefer war ich in die Welt dieser Technologien eingetaucht, die ich seitdem unter dem Oberbegriff Mind-Reading AI zusammenfasse: von Software zur Emotionserkennung oder Persönlichkeitsanalyse, über Wearables und immersive Technologien hin zu experimentellen Versuchsaufbauten, bei denen direkt Gehirnaktivität analysiert wird, um dabei Rückschlüsse auf unser Denken zu ziehen.

Nun, fast am Ende meiner Recherche, war ich bei Brain-Computer Interfaces angelangt: Geräte, bekannt heute vor allem durch Elon Musks Firma Neuralink, die über eine direkte Verbindung zum Gehirn seine Aktivität auslesen. Dabei war ich auf einen Psychiatrie-Professor gestoßen, dem schon Mitte der 2010er Jahre gelungen war, was ein bisschen wie ein Wunder klang: Dank Gehirn-Computer-Schnittstellen hatten es Surjo Soekadar und sein Team geschafft, dass Menschen nur mittels einer Elektrodenkappe, einem Exoskelett – einer Prothese, die außerhalb des Körpers getragen wird – und der Kraft ihrer Gedanken ihre gelähmte Hand öffneten und schlossen.

Mittlerweile forschte Soekadar in meiner Heimatstadt Berlin in seinem eigenen Labor am Universitätsklinikum Charité. Also hatte ich Kontakt aufgenommen und gefragt, ob wir uns treffen könnten. An den vorgeschlagenen Terminen könne er nicht, antwortete mir Soekadar; dann finde eine Konferenz statt, die er gemeinsam mit einem internationalen Projekt organisiere. Aber vielleicht wolle ich ja selbst dort vorbeischauen?

Gehirne auslesen – und in sie hineinschreiben

So war ich in dem Hotelsaal an der Spree gelandet. Im Vorraum präsentierten Medizinprodukte-Firmen ihre Elektrodenkappen auf neonfarbenen Kopf-Attrappen. Auf dem Tagungsprogramm prangte die Illustration eines Gehirns, dessen linke Hälfte aussah wie unser Organ, die rechte wie ein Computerchip. Daneben stand der Titel der Konferenz: Hybrid Minds.

Was ich in den zwei Tagen hörte, fühlte sich an wie eine Zeitfreise. Es war, als ob sich ein Fenster öffnete in das Jahrzehnt, das vor uns liegt: eine Zukunft, in der künstliche Intelligenz und Neurotechnologie zunehmend eine Symbiose eingehen. Diese Konvergenz könnte es der Medizin bald erlauben, Menschen von psychischen Leiden zu erlösen, die lange als kaum therapierbar galten. Gleichzeitig aber wird sie unsere Gedanken so transparent und anfällig für Manipulation machen wie nie zuvor – und schon heute forschen profitorientierte Tech-Riesen ganz wie Militärs an vorderster Front mit.

"Neurotechnologie ist ein Kristallisationspunkt", sagte mir der Psychiater Soekadar, als wir ein paar Wochen nach der Konferenz erneut sprachen. Mit seiner besonnenen Art wirkte der Mittvierziger wie ein Gegenentwurf zum polternden Philosophen Haselager. Er schien bemüht, allzu alarmistische Warnungen zu vermeiden. Aber auch ihn beschäftigte merklich, wozu andere Akteure die Durchbrüche seines Feldes umfunktionieren könnten.

Dabei bestand, so war mir im Laufe der Tagung klar geworden, das größte Missbrauchspotenzial nicht bei den spektakulären Gedanken-gesteuerten Exoskeletten, die mich zu ihm geführt hatten.

Das größte Risiko lag darin, dass Gehirn-Computer-Schnittstellen prinzipiell “bidirektional”, also in beide Richtungen funktionieren: Die Geräte lesen nicht nur aus, was im Gehirn passiert. Sie können auch in unser Gehirn "hineinschreiben", Prozesse in Gang setzen oder verändern und so unsere Gedankenwelt manipulieren. Im Laufe dessen können sie unsere Gehirne nachhaltig verändern. Gleichzeitig erlauben Durchbrüche in der KI, die Geräte zielgerichteter und effektiver denn je einzusetzen.

"Klar ist, dass die Neurotechnologie für Patienten eine segensreiche Möglichkeit ist, ihre Lebensbedingungen zu verbessern", sagte mir Soekadar. Aber, so fügte er ernster hinzu, wenn dieselbe Technologie auch bei gesunden Menschen angewendet würde, stellten sich ganz andere ethische Fragen. "Und natürlich müssen wir uns fragen, wo wollen wir damit hin?"

***

Hoffentlich sehe er nicht allzu verschlafen aus, sagte Sumner Norman, lächelte und wirkte fast ein wenig schüchtern. Im Silicon Valley, von wo er sich per Videoschalte zur Konferenz zuschaltete, sei es noch früher Morgen. Man merkte ihm nicht an, dass er gerade ein Start-up mitgegründet hatte, dessen ehrgeiziges Ziel es war, "das erste implantierbare Gerät zu bauen, welches das gesamte Gehirn auslesen kann und in das gesamte Gehirn schreiben kann, ohne es jemals zu berühren.”

Norman hatte an der Schnittstelle von Maschinenbau, Physik und Neurowissenschaft promoviert, bevor er als Postdoc ans California Institute for Technology kam. Dort hatte er eine neue Methode weiterentwickelt, um Gehirnaktivität mittels Ultraschall zu messen. Dabei werde Gehirnaktivität nicht nur um ein Vielfaches genauer ausgelesen als mit heutigen Methoden, sagte er dem Konferenzpublikum. Gleichzeitig bezeichnete Norman sie, in Abgrenzung von BCIs wie denen von Musks Neuralink, als "minimalinvasiv": Zwar müsse ein "Fenster" in den Schädel gebohrt werden. Allerdings sei anders als bei den Neuralink-Schnittstellen keine direkte Verbindung mit dem Gehirn über dünne Fäden mehr nötig.

Basierend auf dieser Methode wolle er nun mit seiner gemeinnützigen Firma Forest Neurotech ein bidirektionales BCI-Gerät entwickeln. Ziel sei, so Norman, mit ihrer Schnittstelle verschiedene psychiatrische und kognitive Erkrankungen behandeln zu können, bei denen andere Therapiemethoden bisher versagen.

Eine Gedanken-Plattform

Im Raum in Berlin war es still. Wie gebannt folgten die Anwesenden der Präsentation, die der charismatische Mittdreißiger vor einem Foto der Golden Gate Bridge präsentierte. Dann sagte er etwas, was mir danach noch lange durch den Kopf ging: Seiner Firma gehe es darum, "eine Plattform für Therapeutika als Software" zu entwickeln.

Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand. So wie wir heute verschiedene Apps auf unseren Smartphones oder verschiedene Programme auf unseren Laptops haben, so sollte das BCI-Gerät irgendwann verschiedene Programme abspielen und verschiedene Symptome behandeln können. Seine Firma wollte, in meinen Worten, so etwas wie das iPhone für das Gehirn bauen: eine Hardware, für die andere Firmen und Forschende anschließend neue Software entwickeln können.

Normans Vision war eine Art Gedanken-Plattform, über die man verschiedene kognitive Funktionen beobachten und beeinflussen konnte, um so Erkrankungen von Depressionen bis hin zu Zwangsstörungen zu diagnostizieren und zu behandeln. Sollte das Konzept aufgehen, könnte es BCI-Technologie zur Behandlung psychiatrischer und neurologischer Störungen massentauglich machen und weiter in den Mainstream bringen als jemals zuvor.

Geistige Fähigkeiten erweitern

Und dann?, schoss es mir durch den Kopf. Wie könnte es weitergehen? Was wäre mit Stimmungsschwankungen im nicht-klinischen Bereich: den Momenten der Angst oder des Grübelns, die auch Menschen ohne psychische Erkrankungen kennen? Könnten auch sie sich mit ähnlichen Geräten irgendwann Erleichterung davon verschaffen?

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, öffnete Sumner Norman in seiner Präsentation eine Aufzählung. Sie listete ein gutes halbes Dutzend von Anwendungsfällen auf, wie bidirektionale Neurotechnologie generell auch bei gesunden Menschen eingesetzt werden könnte: von "verbesserter Gedächtnisleistung" bis hin zu “Motivation auf Knopfdruck”, "Jetlag heilen" oder "beschleunigtem Lernen".

Die Beispiele gingen weit über das hinaus, an was ich gedacht hatte: Es ging nicht nur darum, schlechte Gefühle zu beheben. Es ging auch darum, unsere geistigen Fähigkeiten zu erweitern. Im BCI-Kontext hat sich für solche nicht-therapeutischen Anwendungen der englische Begriff Enhancement durchgesetzt.

Das Interesse der Industrie ist groß. So besteht auch die Vision von Musks Neuralink laut Homepage unter anderem darin, mit der Technologie "menschliches Potenzial freizusetzen". Multimilliardär Musk selbst fasste dies 2021 in einem Tweet auf der Plattform X, damals noch Twitter, als "Mensch-KI-Symbiose" zusammen. Auch Sumner Normans Präsentation in Berlin war ein Indiz dafür, wohin die Industrie strebte.

Ich war hin- und hergerissen. Natürlich begeisterte mich die Aussicht, dass BCI-Technologie wie seine bald Menschen von psychischen Leiden befreien könnte, bei denen andere Therapiemethoden oft nur wenig oder gar keine Wirkung zeigten. Und mich reizte auch die Vorstellung, mir vielleicht irgendwann Motivation oder gute Laune auf Knopfdruck verschaffen zu können.

Aber gleichzeitig überkam mich das mulmige Gefühl, dass wir damit eine Grenze überschreiten. Als ich mich später beim Kaffee mit ein paar der anwesenden Forschenden unterhielt, merkte ich, dass es vielen von ihnen ähnlich ging. Und ich merkte, dass auch sie sich eine Frage stellten: Was wird das mit uns machen?                                                         

 

–Der Artikel ist ein leicht veränderter Ausschnitt aus Der Gedanken-Code. Wie künstliche Intelligenz unser Denken entschlüsselt und wir trotzdem die Kontrolle behalten (C.H. Beck, 2024. €16,00)--

Janosch Delcker

Janosch Delcker ist Journalist, Medienwissenschaftler und gilt als einer der führenden KI-Experten Deutschlands. Seit 2021 ist er als Chief Technology Correspondent verantwortlich für die KI-Berichterstattung der Deutschen Welle. Zuvor war er langjähriger Reporter beim US-Magazin Politico, das ihn 2018 als weltweit erstes Medium zu seinem Vollzeit-”KI-Korrespondenten” machte. Er ist Absolvent der Columbia Journalism School in New York; seine Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von der U.S. Foreign Press Association. www.janoschdelcker.com

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