Fantasy

Drei Fantasy-Romane, die mehr Stadt pro Stadt bieten

Porträt einer Stadt, im HIntergrund einst prachtvolle nun verfallene Gebäude, im Vordergrund einfache Häuser in gutem Zustand
© Bastei Lübbe

Swantje Niemann, 17.10.2024

Städte in der Fantasy sind schon ein ganz eigenes Genre, mit pulsierenden Metropolen, die ein Eigenleben besitzen. Doch was, wenn, ach, mehr als eine Seele in einer ummauerten Brust wohnen? Swantje Niemann stellt uns drei Fantasy-Romane vor, in denen mindestens zwei Städte den Raum von einer einnehmen.

Eine originell und überzeugend geschilderte Stadt kann sich beim Lesen einprägen wie eine liebgewonnene Buchfigur - Variationen von “Die Stadt, in der das Buch spielt, ist fast schon die wahre Hauptfigur” sind aus gutem Grund ein Klischee in Buchrezensionen. Ich muss zum Beispiel an das düstere, von näherrückenden Götterkriegen und alchemistischen Experimenten geprägte Guerdon aus der “Black Iron Legacy”-Reihe von Gareth Hanrahan denken. Oder an die unzähligen Urban-Fantasy-Romane, in denen vertraute Ecken und lokale Sehenswürdigkeiten zu Türen in aufregende Anderswelten werden. Ich habe aber einen klaren Favoriten, wenn es um Tropes rund um fiktive oder mit fantastischen Elementen angereicherte Städte geht. Denn was ist besser als eine außergewöhnliche Fantasy-Stadt? Zwei (oder mehr) Städte, die sich widerwillig den gleichen geografischen Raum teilen, und Hauptfiguren, die mit den politischen Folgen davon umgehen müssen.

Max Gladstone: “Fall der Engel”

Vor ein paar Wochen habe ich mir einen Gefallen getan und “Ruin of Angels” von Max Gladstone zum zweiten Mal gelesen. Auf Deutsch ist das Buch, der sechste Band der “Kunstwirker-Chroniken”, als “Fall der Engel” erschienen. Es spielt in der Stadt Agdel Lex. Diese ist über der Wunde gebaut, die ein Kampf zwischen Gottheiten und Zauberkundigen in die Welt gerissen hat - dort, wo früher die Stadt Alikand war.

Die Architektur und Bürokratie der neuen Regierung sorgen dafür, dass die Realität von Agdel Lex stabil bleibt. Allerdings halten sie nicht nur die lebensfeindliche tote Stadt - eine Landschaft aus Eis, Ruinen und sterbenden Engeln - auf Abstand. Sie setzen ihre Ordnung und ihre Vision der Realität auch rücksichtslos gegen die Reste des alten Alikand durch, die im Verborgenen zwischen der toten Stadt und Agdel Lex weiterexistieren. Kai und Izza, die Protagonistinnen, die wir schon aus “Vier Faden tief” kennen, müssen eine heikle politische und übernatürliche Situation navigieren und Kais Schwester davor bewahren, den Behörden in die Hände zu fallen. Das Problem: Diese scheint entschlossen, ihnen das so schwer wie möglich zu machen.

Das Buch präsentiert mehrere Perspektiven auf die Alikand/Agdel Lex und ihre Geschichte: Wir lernen die Hüter*innen des alten Alikand kennen, aber es wird komplexer als neue Regierung vs. Alteingesessene. Denn Lesende erhalten auch Einblick in die Perspektive von Raymet, welche die alten, eifersüchtig über ihre Privilegien und Geheimnisse wachenden Eliten Alikands kritisiert, oder Izza, die als Kind als Geflüchtete nach Alikand/Agdel Lex kam und in keiner der Städte zugehörig oder sicher war. An einer - sehr bewusst so geschriebenen - Stelle erzählen verschiedene Figuren parallel ihre Version der Geschichte Alikands und der toten Stadt. Diese weichen erheblich voneinander ab, stehen jedoch zumindest teilweise gleichberechtigt nebeneinander.

Und dieses Nebeneinander von Narrativen spiegelt sich in den unbehaglich koexistierenden Städten. Am Ende geht es um die Frage, wer bestimmen darf, was die Stadt sein soll - und ob das überhaupt jemand tun sollte. (Das ist übrigens eine Frage, die in etwas anderer Form auch in “Letzter erster Schnee”, dem dritten Buch der Chronik, aufkommt: Dort geht es vor allem um Gentrifizierung). “Fall der Engel” setzt sich neben den üblichen Kunstwirker-Chronik-Themen mit Kolonialismus und konkurrierenden Narrativen auseinander - und Alikand/Agdel Lex ist der perfekte Schauplatz dafür.

Robert Jackson Bennett: “Die Stadt der tausend Treppen”

Eine andere Stadt, in welcher die Vergangenheit einfach nicht in der Vergangenheit bleiben will, ist Bulikov, die Stadt der Treppen. Im ersten Buch der “Göttliche Städte”-Trilogie kommt die Protagonistin, Shara, nach Bulikov, um den Mord an einem Historiker aufzuklären. Bulikov war einst der Sitz der Götter, deren Anhängerschaft Sharas Heimatland kolonisiert haben. Mittlerweile jedoch haben sich die Machtverhältnisse umgekehrt und die Nachfahren der einstigen Herrscher der Welt trauern einer Vergangenheit nach, über welche sie unter den Gesetzen der neuen Verwaltung nicht einmal reden können. Der Tod der Gottheiten, deren Wunder den Kontinent durchdrangen, hat einiges Chaos im Gefüge der Welt angerichtet.

Bulikov ist eine Stadt zwischen Nostalgie und Zukunftsorientierung - und Shara wird feststellen, dass das alte Bulikov der Gottheiten nicht nur metaphorisch einen Schatten auf die Gegenwart wirft. Spuren des alten, von Wundern geprägten Bulikov existieren weiter und die Realität ist weniger stabil, als es zunächst den Anschein hat.

Das Setting, das an das frühe 20. Jahrhundert denken lässt, Namen, die Assoziationen an Indien und Osteuropa heraufbeschwören, und die leichten Horrorelemente in allem, was mit den Gottheiten zu tun hat, geben dem Buch ein individuelles Flair. Besonders überzeugend jedoch ist das Ineinandergreifen von Plot, Setting und Themen: “Die Stadt der tausend Treppen” ist ein Buch über Kolonialismus, Geschichte und Erinnerung, über Mythen und Stille, welche unangenehme Wahrheiten verdecken. Und Bulikov, mit seinen widerstreitenden Visionen für die Zukunft der Stadt, mit seinen Warenhäusern voller eingelegter Wunder und seinen verborgenen Winkeln, die nur von Eingeweihten betreten werden können, ist nicht nur wichtig für den Plot, sondern auch ein Sinnbild dafür.

China Miéville: “Die Stadt und die Stadt”

Ein weiteres - recht berühmtes - Beispiel dafür, was sich mit zwei überlappenden Städten literarisch machen lässt, ist China Miévilles “Die Stadt und die Stadt”. Anders als die beiden eben genannten Beispiele spielt das Buch in unserer Welt, die lediglich um zwei sehr besondere, dabei aber in sich überzeugende Städte erweitert wird: Ul Quoma und Beźel. Die beiden Städte haben unterschiedliche Regierungen, Sprachen und Kulturen - aber sie sind nicht nur benachbart, sondern ineinander verflochten. Während manche Gegenden eindeutig der einen oder anderen Stadt zugeordnet sind, gibt es andernorts Überschneidungen. An diesen Stellen, die “cross-hatched” sind, darf man nicht von einer Stadt in die andere gehen - das ist nur an einem offiziellen Grenzübergang möglich.

Tatsächlich dürfen Menschen in einer Stadt nicht mit denen in der anderen interagieren oder auch nur zeigen, dass sie sie zur Kenntnis nehmen. Darüber wacht die ebenso geheimnisvolle wie gefürchtete Organisation “Breach”. Deshalb hat sich eine bestimmte Sorte bewussten Nicht-Sehens entwickelt: Leute identifizieren Menschen, Gebäude und ähnliches als zur anderen Stadt gehörig, um diese dann bewusst zu ignorieren.

Das Ganze ist als der selbstverständliche Alltag der Figuren geschildert, aber bringt auch ein beklemmendes Element in die Geschichte, denn Breach ist zwar nicht allgegenwärtig, aber doch gefühlt immer nur einen Schritt entfernt.

Die besondere Situation der Städte wirft einige Probleme für den Ermittler Tyador Borlú auf, der in einem grenzübergreifenden Mordfall ermittelt. Dabei jagt er radikalen Gruppierungen und Gerüchten um eine dritte, geheime Stadt nach und muss immer darauf achten, die Grenzen zwischen den Städten zu wahren. “Die Stadt und die Stadt” ist ein spannendes Buch über Grenzen, Regeln und Identitäten und über bewusstes Sehen und Wegsehen im Alltag.

Fazit

Städte haben viele Gesichter. Sie bieten Platz für verschiedene, oft schwer vereinbare Erfahrungen, Hoffnungen und Wünsche, Traditionen und historische Bezüge, um die häufig ein regelrechtes Tauziehen stattfindet. Und wenn Fantasyautor*innen das in ihren fiktiven Welten spiegeln, sind die Resultate oft nicht nur unterhaltsam und bildgewaltig, sondern haben auch eine emotionale Resonanz und regen zum Nachdenken an.

Swantje Niemann
© privat

Swantje Niemann

Swantje Niemann wurde 1996 in Berlin geboren. Als Leserin, aber auch als Autorin ist sie am liebsten in den verschiedenen Subgenres der Phantastik unterwegs und teilt auch gerne in Blogposts und Rezensionen ihre Eindrücke von Büchern. Sie schreibt unter anderem für das Fanzine „Phantast“. 2021 erschien ihr vierter Roman, „Das Buch der Augen“. Mehr Informationen findet ihr unter https://www.swantjeniemann.de

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