Aiki Mira, 26.09.2024
Pandemie, Kriege, Inflation, KI-Revolution, Klimakollaps verstärken sich gegenseitig zur Polykrise. Aktuell herrscht Endzeitstimmung. Gerade deshalb brauchen wir eine Science Fiction, die über das Ende hinausschreibt, findet Aiki Mira und entwirft im aktuellen Roman PROXI Visionen einer Post-Zukunft.
PROXI erzählt von einer Welt, in der Menschen glauben, am Ende ihrer Geschichte angekommen zu sein. Ganze Meere sind vertrocknet, Europa ist zur Stadt geschrumpft und wird umschlossen von einer sich ausbreitenden Wüste aus Müllstrudeln. Die Wüste heißt Proto. Sie ist zugleich das Ergebnis der menschgemachten Klimakatastrophe und ein eigenständiger posthumaner Aktant. Oder präziser: Proto besteht aus vielen Kooperationen unterschiedlicher non-humaner Aktant*innen (aus Tieren, Pflanzen, Pilzen, Mikroben, Gezeiten, Prozessen…).
Proto ist eine Landschaft, die aktiv mehr und mehr Raum einnimmt – eine neue Form von Ver-Wüstung. Als Post-Klima-Landschaft steht Proto symbolisch für die letzte Landschaft, aber auch für das Ende der Welt:
»Einen Moment schauen alle nach draußen. Proto, die Post-Zukunft des Planeten, hier draußen bereits realisiert, schaut zurück.« (S.47)
Post-Zukunft bedeutet hier: ohne Hoffnung zu sein, nicht mehr nach vorne zu schauen. Davon überzeugt zu sein, nach Proto – nach der Ver-Wüstung, kommt nichts mehr.
Post-Climate-Fiction
Das Gefühl einer Post-Zukunft überkommt mich, wenn ich realisiere, dass wir nicht mehr länger auf eine Klimazukunft zurasen, sondern bereits mittendrin sind im Klimakollaps. Daher erscheint es mir notwendig eine neue Form der Climate-Fiction zu entwickeln, eine Post-Climate-Fiction, die sich mit dem Leben im Kollaps auseinandersetzt (siehe auch: Post-Cli-Fi. Weil Kollaps die Konstante ist).
Während Climate-Fiction mögliche Klimazukünfte beschwor, verstehe ich Post-Cli-Fi als ein literarisches Anliegen, um das Leben im Kollaps zu verarbeiten und aus diesen gelebten Wirklichkeiten – über das Enden hinaus! – neue Zukünfte zu generieren.
Post-Cli-Fi bietet eine politische Perspektive, die unser gängiges Differenzdenken infrage stellen kann. Kategorien wie Gesellschaft, Klima, Mensch, Natur und Technik möchte Post-Cli-Fi neu erzählen, nämlich: posthuman, postanthropozentrisch, postmigrantisch und postapokalyptisch – in PROXI auch postdigital. So steht im Zentrum des Romans neben der Post-Klima-Landschaft »Proto« eine digitale Welt namens »Proxi«.
Migration und postmigrantisch
PROXI versucht einer Post-Klima-Rastlosigkeit auf verschiedene Weise näherzukommen: als Migrationsbewegungen zwischen digitalen und nicht-digitalen Welten und als Fluchtbewegungen in eine fremde Landschaft, die selbst rastlos ist. Flucht und Migration sind im Klimawandel die Regel. Infolge des Kollapses werden ganze Lebensräume zerstört und deren Bewohner*innen zur Flucht gezwungen. Migrationsereignisse überschlagen sich. An einem Ort zu bleiben, wird vom Privileg zur Utopie.
PROXI schrieb ich unterwegs, draußen und auf Zugfahrten, vorbei an Landschaften, die wortwörtlich in Flammen standen. Das ist unsere Post-Klima-Gegenwart: Landschaften, so ausgetrocknet, dass sie im Sommer verbrennen. Auch der Roman ist als fortwährende Bewegung konzipiert: als Endzeittrip, als Roadmovie durch eine von Klimawandel veränderte Welt. Oder präziser: als Post-Roadmovie, denn Straßen gibt es in der Landschaft nicht mehr. Nur Fahrspuren, flüchtig.
Die andauernde Suche nach Zuflucht zeichnet Post-Climate-Fiction aus. Diese Literatur erzählt, wie wir unser Zuhause und unsere Landschaften verlieren – nicht nur einmal oder zweimal, sondern immer wieder. Daher verstehe ich Post-Cli-Fi auch als postmigrantisch. Den Begriff möchte ich entmarginalisierend gebrauchen und damit hervorheben, dass Migration in Postklimazukünften auch eine gesellschaftsbewegende und gesellschaftsbildende Kraft sein kann. Eine neue soziale Situation von Mobilität und Diversität.
In PROXI verlassen einzelne Personen und Gruppen ihr Zuhause aus ganz unterschiedlichen Gründen. Meist haben sie keine Wahl:
»Proto ist eine Ruine, aus der bereits Gras wächst. Unsere Heimat war wie ein frisch ausgebombtes Haus, aus dem noch immer Schreie und Rauch aufsteigen.« (S.113)
Das verlorene Zuhause existiert meist nur noch als digitale Repräsentation:
»Es gibt Welten, die Teile meiner zerstörten Heimat digitalisiert haben, und das hätte ich gern mal mit eigenen Augen gesehen.« (S. 301)
Die Hauptfiguren Kawi, Dion und Tell treffen auf ihrer Reise immer wieder auf Menschen, Tiere, Maschinen, die in die Post-Klima-Landschaft ausgewandert sind, um dort neue und andere Formen von Gesellschaft und Gemeinschaft zu bilden. Solartrolls, Elder, das Ensemble der Transzendierenden oder Biosynths vergemeinschaften und vergesellschaften sich auf jeweils eigene Weise und mit jeweils unterschiedlichen Zielen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Versuche sind – utopische Experimente:
»Wir sind nicht isoliert, sondern untereinander verbunden, probieren Dinge, die in Europolis nicht gemacht werden.« (S.74)
Eine Migration in die Post-Klima-Landschaft wagen jedoch nur wenige:
»Wir sind Postmigrantinnen. Alle sind nach Proxi. Nur wir sind hier.« (S.96)
Digitale Welten wie »Proxi« werden in der Post-Zukunft zu begehrten aber abgeschotteten Orten. Ihr Zugang ist stärker reguliert als der Zugang zur Landschaft.