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Linguistisches Worldbuilding in der Phantastik

Coverausschnitt von "Die letzte Heldin". Eine junge Frau mit blonden Haare und Pferdeschwanz in Uniform steht vor einer zweigeteilten prächtigen Schiebetür, auf der eine Figur mit ausgebreiteten Flügeln abgebildet ist, zwischen den offenen Teilen der Tür ist ein schmaler heller Streifen zu sehen, vor dem die Frau steht
© Heyne

CD Cvvington, 05.09.2024

Weltenbau spielt in der Phantastik eine wichtige Rolle. Er ist die Basis dafür, ob die Immersion mit einer fiktiven Welt während der Lektüre funktioniert. Doch welche Rolle spielt die Sprache beim Worldbuilding? Linguistin CD Covington erklärt es uns an praktischen Beispielen.

Wenn man an den Begriff “Worldbuilding” denkt, denkt man an Sachen wie Politik, Geschichte, Geographie, oder Kultur. Wie die Welt überhaupt funktioniert. Woran selten gedacht wird, ist die Sprache: welche Sprache bzw. Sprachen werden gesprochen? Gibt es Dialekte? Welche Sprache spricht die Gruppe mit der Macht und welche Auswirkungen hat das auf die Gruppen ohne Macht? Das sind Fragen, die unser tägliches Leben prägen, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen.

Dialekte und Sprachen der realen Welt

Ich, als US-Amerikanerin, greife üblicherweise nach Beispielen aus meiner Muttersprache, die wahrscheinlich weniger relevant für Deutsche sind, und mein Wissen von den deutschen Dialekten und Mundarten kommt zum größten Teil aus Büchern - aber ich versuche es. Nehmen wir als erstes Beispiel Plattdeutsch, was unter der EU-Charta als geschützte Minderheitensprache gilt. Ich wohne in Berlin und reise öfters nach Hamburg, wo ich manchmal Menschen höre, die Platt schnacken. Die Berliner Mundart höre ich meistens von älteren Menschen, was ich eigentlich schade finde, weil mir diese Mundart gefällt. Unser nächstes Beispiel ist Bayrisch, worauf die Bayern stolz sind, mia san mia und so. Ehrlich gesagt, als Englisch-Muttersprachlerin, finde ich es richtig schwierig, die Mundarten bzw. Dialekte aus Mittel- und Süddeutschland zu verstehen, und reden wir nicht über Schwyzerdütsch!

Also sehen wir, dass es in unserem Leben unterschiedliche Spracharten gibt, bevor es sogar zu Fremdsprachen kommt. Es gibt auch Vorurteile gegen Menschen, die diese nicht dem Hochdeutschen entsprechenden Mundarten benutzen. Sie mangele es an Bildung, sie seien alle Bauern oder so.

Ich hoffe, dies sind überzeugende Beispiele dafür, dass Sprache eine größere Rolle in unserem alltäglichen Leben spielt, als uns vielleicht bewusst ist. Als Linguistin denke ich oft an Sprache und wie sie funktioniert, aber wir sind nicht alle Linguist:innen.

Was ist linguistisches Worldbuilding?

Nun kommen wir wieder zum Thema linguistisches Worldbuilding. Also, was ist das überhaupt? Ich rede hier von den Antworten auf die Fragen, die ich oben gestellt habe, aber auch von Sachen wie Wortschatz und welche Phoneme existieren. Es muss nicht um die Erfindung einer konstruierten Sprache (eine Conlang) gehen — man muss nicht einen “voll auf Tolkien” machen. Worum ich als Linguistin und Autorin bitte, ist folgendes: Beachtet einfach diese Sachen, wenn eine neue Welt erfunden wird.

Es gibt schon einige Beispiele von Büchern bzw. Serien, wo die Autorinnen sich diese Fragen gestellt haben. Das Beispiel, auf das ich immer zuerst zurückgreife, ist die Foreigner-Serie (der Atevi-Zyklus) von C.J. Cherryh, von dem nur die erste Trilogie auf Deutsch erschienen ist. (Heute gibt es auf Englisch sieben komplette Trilogien und das erste Buch von einer achten.) Es handelt von einem Mann, Bren Cameron, der als Übersetzer und Dolmetscher unter den Atevi lebt. Die Atevi haben eine Psychologie, die sich stark von der der Menschen unterscheidet: Das Wort “mögen” bezieht sich nur auf Sachen, niemals auf eine Person, und das Konzept von Freundschaft gibt es nicht, nur Assoziierten. Bren muss ständig mit dem Wunsch kämpfen, die Atevi “Freunde” zu nennen, weil vor ca. 200 Jahren wegen dieser falschen Idee ein Krieg ausgebrochen ist.

Das linguistische Worldbuilding im Atevi-Zyklus umfasst nicht nur diese unterschiedliche Psychologie, sondern auch eine Sprache, über die die Lesenden Fakten und einen kleinen Wortschatz bekommen. In der Sprache der Atevi muss man die Anzahl und den sozialen Status der Teilnehmenden aber auch glückliche und verheißungsvolle  Zahlen miteinrechnen; also muss ein Mensch, der als Übersetzende unter den Atevi leben möchte, Mathe sehr gut und sehr schnell beherrschen. Es gibt auch Höflichkeitsformen von Namen und Titeln.

Name ist Programm

Das nächste Beispiel gibt es auf Deutsch: die Amberlough-Trilogie von Lara Elena Donnelly, von der das erste Buch auf Deutsch Amberlough – Stadt der Sünde heißt. Donnelly verwendet eine Technik, die ich interessant finde, weil sie ganz einfach ist. Die Menschen aus den verschiedenen Ländern in der Republik von Gedda haben Namen, die an Namen in der realen Welt erinnern, wie, z.B., eine Hauptfigur aus Amberlough, Cyril DePaul, was Englisch klingt. Die Menschen aus Nuesklund haben Namen, die Niederländisch klingen. Donnelly verwendet unser Wissen der realen Welt, um stichwortartig eine Impression der künstlichen Welt zu kreieren. Man kann auch hierdurch die Geschichte der Migration sehen. Wenn eine Person mit einem nicht Amberlough-Namen in Amberlough Stadt wohnt, heißt das, sie ist zugezogen, wie zum Beispiel eine der Hauptfiguren, Aristide Makricosta.

Ein cooler Trick

Das dritte Beispiel gibt es auch auf Deutsch: Some Desperate Glory (Die Letzte Heldin) von Emily Tesh, das 2024 den Hugo-Award für den besten Roman gewonnen hat. Tesh verwendet einen Trick, der mir beim Lesen so gut gefallen hat, dass ich ganz aus dem Häuschen war. Die Hauptfigur, Valkyr (kurz Kyr), wuchs auf einer Raumstation auf, wo ein militär-faschistisches Regime herrscht. Dieses Regime behauptet, dass die Menschen auf dieser Raumstation die letzten Menschen, die letzten Überlebenden der zerstörten Erde, sind, und sie müssen die Kultur der Menschheit hinüberretten. Aber das ist nicht wahr, andere Menschen leben friedlich mit und unter den Außerirdischen, die die Welt zerstört haben (es ist kompliziert). Für das Regime steht “die Kultur der Menschheit” hauptsächlich für die Kultur des anglophonen Westens, es wird nur eine Sprache gesprochen: eine vereinfachte Sprache, die für die Übersetzer-Bots der Außerirdischen quasi erfunden wurde und die auf Business English (also, Geschäftsenglisch) basiert.

Aber Kyr weiß gar nichts davon, weil sie unter diesem Regime aufwuchs und nur kennt, was das Regime gelehrt hat. Hier der Trick: Tesh klärt diese Geschichte für die Lesenden durch erfundene wissenschaftliche Texte auf. Am Anfang eines Teils des Buches gibt es einen längeren Beitrag von einer fiktiven Wissenschaftlerin, die erklärt, wie die Sprache von dieser Station in die große politische Situation hineinpasst. Hier wird auch die Verlogenheit des Regimes bloßgelegt, da nur ein gewisser Teil der Kulturen der Erde hinübergerettet wurden.

Es muss auch nicht sehr viel sein

Aber das linguistische Worldbuilding kann auch aus Kleinigkeiten bestehen, z.B. aus Schöpfungen wie Ansible (Rocannon’s World von Le Guin, aber inzwischen von mehreren Autoren verwendet) oder Jedi oder aus erfundenem Slang wie Nadsat (A Clockwork Orange von Burgess). Man muss also nicht detaillierte, aufwendige Pläne machen.

Ich wünschte mir, dass ich Beispiele aus der deutschen Phantastik nennen könnte, aber leider habe ich sehr wenig deutsche Phantastik gelesen, und während meines MA-Studiums lasen wir nur “ernsthafte” Literatur (und fast jedes Buch davon habe ich gehasst).

Ich würde gern mehr Bücher lesen, in denen die Autor:innen über die soziologischen Folgen der Sprache nachgedacht haben, so dass wir z.B. weniger Planeten mit einer Kultur und einer Sprache haben. Wie viele Kulturen und Sprachen gibt es auf unserer Erde? Ja, genau.  Zu diesem Zweck schreibe ich ein Buch, worin ich die Grundlagen der Linguistik und Soziolinguistik kurz erkläre und einen Leitfaden gebe, wie man diese Prinzipien im Worldbuilding anwenden kann. Dafür habe ich 2023 ein Crowdfunding bei Kickstarter gemacht und einen ersten Entwurf, den ich gerade überarbeite. Das Buch erscheint auf Englisch.

CD Covington

CD Covington ist freiberufliche Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie hat MA-Abschlüsse in Germanistik und Linguistik und findet germanische Verben wirklich interessant. Sie schrieb 2019–22 eine Kolumne über die Verwendung von Linguistik in der Phantastik für Reactor (Tor). Mehr Infos findet Ihr auf ihrer Webseite, https://www.cdcovington.com. Sie ist auf Bluesky unter @exaggerated.bsky.social

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