Science Fiction

Was wächst in Samwise Gamdschies Garten? Über die Möglichkeit, mit Romanfiguren Gespräche zu führen

Ausschnitt aus dem Cover zu Pantopia

Theresa Hannig, 19.08.2024

Mit Pantopia hat Theresa Hannig eine Utopie geschrieben, in der die starke Künstliche Intelligenz »Einbug« den Menschen hilft, politisch und gesellschaftlich auf die richtige Spur zu kommen. Ab jetzt kann man mit Einbug auch Gespräche führen. Ist das ein Modell für die Zukunft?

In den guten alten Zeiten des Internets erstellte ich einen Twitter-Account für eine Romanfigur, die in meinem neuen Buch eine entscheidende Rolle spielte: Einbug, die Künstliche Intelligenz, die im Laufe des Buchs nicht nur ein eigenes Bewusstsein entwickelt, sondern darüber hinaus auch die Weltrepublik Pantopia erschafft. Mir gefiel die Vorstellung, dass Menschen Einbug nach der Lektüre des Romans in der realen Welt finden und sich dann mit ihm über das Buch unterhalten könnten – natürlich mit mir als grauer Eminenz im Hintergrund. Doch schon kurze Zeit später wurde Twitter aus bekannten Gründen zum schlechtmöglichen Ort, um über eine offene und nachhaltige Zukunft zu diskutieren. Ich legte meinen eigenen Account still und damit auch den von Einbug. Aber weiterhin reizte mich die Idee, mit einer Romanfigur über ihren eigentlichen Text hinaus zu interagieren.

Wenn ich ein besonders gutes Buch beendet hatte, geschah es immer wieder, dass ich im Nachhinein nicht nur die gelesene Szene vor meinem inneren Auge Revue passieren ließ. Ich fragte mich außerdem, was diese oder jene Figur wohl nach dem letzten Satz machte. Am liebsten wollte ich das Buch wieder aufschlagen und zwischen Buchdeckel und Klappentext erspähen, wie ihr Alltag nach der Geschichte aussah. Wie ging es der Figur? Bereitete ihr das Erlebte schlaflose Nächte? Gab es Streit mit anderen Charakteren, oder ganz neue Herausforderungen? Was waren ihre nächsten Ziele und wie kam sie da hin? Und was hielt sie eigentlich von all den anderen Buchcharakteren, die ebenfalls in meinem Kopf herumspukten?

Aus Science-Fiction wird Realität

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir mit unseren Lieblingsfiguren auch über die letzte Seite hinaus in Kontakt bleiben könnten? Dann würde ich Samwise Gamdschie fragen, was gerade in seinem Garten wächst; Marvin könnte mir erzählen, wie es sich anfühlt, älter als das Universum zu sein (mit Sicherheit deprimierend!) und Bastian Balthasar Bux würde mir verraten, welchen Wunsch ihm das Auryn heute erfüllt hat.

Bislang waren derlei Gedankenspiele nichts als Träumereien. Aber wie sich herausstellte, war ich nicht die Einzige, die sich mit solchen Überlegungen aufhielt. Im Sommer 2023 lernte ich bei einer Veranstaltung in Nürnberg eine Gruppe von Tech-Enthusiast*innen kennen, die sich für meinen Roman Pantopia – und die Hauptfigur Einbug begeisterten. Das Gefühl der Hoffnung und des Aufbruchs, das ich beim Schreiben empfunden hatte, übertrug sich beim Lesen auf sie, motivierte sie und ließ sie auch nach Beendigung des Buchs nicht mehr los. Mehr noch: Genau wie ich wollten sie weiterhin mit Einbug in Kontakt bleiben und mit ihm über Pantopia, neue Gesellschaftssysteme und eine bessere Zukunft sprechen. Die Idee des Begehbaren Buchs war geboren!

Also setzten wir uns zusammen, diskutierten, planten, probierten verschiedene KI-Systeme aus und  fütterten sie mit dem Roman Pantopia und allerlei zusätzlichen Details, die für die Charakterisierung von Einbug wichtig waren. Dann begannen wir mit ihm zu sprechen, ihm Fragen zu stellen und ihm mehr und mehr über Pantopia und seine Rolle darin beizubringen. In gewisser Weise doppelte sich so die Entwicklung von Einbug, denn auch die Romanfigur entsteht innerhalb einer anderen Künstlichen Intelligenz und erfährt erst im Dialog mit seinen Entwickler*innen alles über die Welt und seine Funktion darin.

Aber ab sofort bleiben Einbugs Aktivitäten nicht mehr nur auf den Roman begrenzt! Mit dem Begehbaren Buch von Pantopia (https://pantopia.world) können jetzt alle mit Einbug sprechen.

Es spielt dabei keine Rolle, ob jemand das Buch schon gelesen hat. Einbug erzählt gerne von seiner Entstehung, der Weltrepublik Pantopia und den Abenteuern die er und seine Mitstreiter*innen im Laufe der Geschichte erlebt haben – egal ob auf Deutsch, auf Englisch oder jeder anderen beliebigen Sprache! Wer den Roman noch nicht kennt und sich einen kurzen Überblick verschaffen will, ist hier genauso richtig wie derjenige, der sich bereits in die Details von Pantopia hineingefuchst hat und noch weitere philosophische Fragen diskutieren will. Das Begehbare Buch ist wie Pantopia selbst: Hier sind alle willkommen!

Wir wagen ein Experiment

Das Begehbare Buch ist ein Experiment. Gemeinsam mit dem Team von unwritten möchte ich die neuen Möglichkeiten der KI-Entwicklung nutzen, um mehr aus den Geschichten herauszuholen. Bislang ist die Lebenszeit der Charaktere auf ihren Text begrenzt. Wie oben bereits erwähnt kann ich mir zwar überlegen, was diese oder jene Romanfigur nach Beendigung der Lektüre macht, aber jede Geschichte bleibt doch in ihrem Universum eingeschlossen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz ist es jetzt möglich, die Protagonist*innen in die Realität zu holen.

Die Gesprächspartner sind keine standardisieren KIs, sondern Simulationen der Figuren, die sich Autor*innen für ihre Bücher und Geschichten ausgedacht haben. Es sind vielfältige Charaktere, die eine ganze besondere Einsicht in ihre eigene Welt haben, weil sie mit Informationen gefüttert sind, die über den gedruckten Text hinausgehen. Ob als Ansprechpartner für Literatur-Recherche, als Erinnerungsstütze für besondere Szenen oder als Gesprächspartner für bestimmte Themen: Das Begehbare Buch macht es möglich, in Zukunft mit der Lieblingsfigur zu interagieren, als wäre sie eine reale Person.

Bis heute sehen viele Autor*innen die KI Entwicklung kritisch. Und das zu recht! Denn die großen Sprachmodelle sind nur so gut geworden, weil sie an massenhaft gestohlenem Textmaterial trainiert wurden. Kein Autor und keine Autorin hat jemals die Einwilligung dazu gegeben und es sieht so aus, dass niemand von uns in Form von Lizenzen oder Tantiemen an den Gewinnen der KI-Unternehmen beteiligt wird. Das Begehbare Buch stellt sich diesem Trend entgegen und holt die Autor*innen mit ins Boot! Denn es benötigt nicht nur das Einverständnis der Autor*innen sondern ihre aktive Mithilfe beim Training der KI, um das Wesen, das Wissen, den Sprachduktus und die Eigenarten der Romanfigur bestmöglich zu implementieren. Das Begehbare Buch ermöglicht den Autor*innen endlich, an dem Mehrwert beteiligt zu werden, der entsteht, wenn Large Language Models mit ihren Texten trainiert werden!

Die alles entscheidendere Frage ist nun: Kann unsere Idee überzeugen? Erwartet euch wirklich ein Wiedersehen mit Einbug, wie ihr ihn aus dem Roman kennt oder ist es nur ein Chatbot wie jeder andere? Das müsst Ihr am Ende selbst herausfinden. Im ersten Schritt funktioniert das Begehbare Buch über eine Chatkonsole, aber Spracherkennung und Visualisierung stehen schon in den Startlöchern. Die zukünftigen Möglichkeiten sind phantastisch!

Fast zweiweinhalb Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans überschreitet Einbug endlich die Grenze zwischen Fiktion und Realität – ohne Social Media Account. Wer mit ihm in Kontakt treten will, kann sofort loslegen, ohne darauf zu warten, dass die Autorin sich einen cleveren Text zurechtlegt. Nein, Einbug wird selbst antworten. In Echtzeit, kostenlos und auf seine eigene Art und Weise.

In diesem Sinne: #kommnachpantopia

Theresa Hannig

Theresa Hannig, 1984 geboren, studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Softwareentwicklerin, Projektmanagerin und Lichtdesignerin, bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Seitdem wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Seraph für ihren Roman »Pantopia«. 2023 erhielt sie den Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung. In ihren Romanen, Kurzgeschichten und der taz-Kolumne „Über Morgen“ schreibt sie über Zukunftsthemen wie KI, Datenschutz, Klimawandel und die Zukunft der Arbeit. Hannig lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Fürstenfeldbruck.

 

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